Artikel | Julia Macher

Macheten-Angriff in Spanien: “Ich bring dich um, ich bring dich um!”

2023-02-02

Im Zimmer des Täters herrscht Chaos. Hinter einem blauen Vorhang liegen zwei umgestürzte Betten, auf einem Beistelltisch Bücher und Papiere. "Die Polizei hat alles durchwühlt", sagt Mehdi*, der gemeinsam mit Yassine Kanjaa und vier anderen jungen Marokkanern in dem verwahrlosten Häuschen in Algeciras gelebt hat.

 Von Antonia Schäfer und Julia Macher.

Im Zimmer des Täters herrscht Chaos. Hinter einem blauen Vorhang liegen zwei umgestürzte Betten, auf einem Beistelltisch Bücher und Papiere. “Die Polizei hat alles durchwühlt”, sagt Mehdi*, der gemeinsam mit Yassine Kanjaa und vier anderen jungen Marokkanern in dem verwahrlosten Häuschen in Algeciras gelebt hat. Mehdi deutet auf verstreute Kleider, die die schimmeligen Stufen im Hof bedecken. Kanjaas westliche Kleider. Die seien für ihn nun verboten, habe Kanjaa behauptet – so erzählt es Mehdi der ZEIT nach der Bluttat.

Yassine Kanjaa stürmte am vergangenen Mittwoch, bewaffnet mit einer Machete, in zwei Kirchen, verletzte vier Menschen und erstach schließlich einen Küster. Nun ermittelt die Audiencia Nacional, das in für Terrordelikte zuständige Gericht, wegen des Verdachts auf ein dschihadistisches Attentat. Es wäre das erste in der südspanischen Hafenstadt Algeciras, die bisher als Musterbeispiel für gutes Zusammenleben der Religionen galt.

Die muslimischen Mitbewohner des Verhafteten wirken hilflos. Ihnen sei früher schon aufgefallen, dass mit Yassine Kanjaa etwas nicht stimme. “Er war etwas paranoid”, sagt Maleek*, ein 28-Jähriger mit gegelten Haaren und bunter Winterjacke. Maleek ist der einzige der vier Bewohner, der einen Arbeitsvertrag und eine Aufenthaltsgenehmigung hat. Bereits auf kleinste Geräusche habe Yassine empfindlich reagiert, sein aufbrausender Charakter sorgte für Zwist. “Aber vor zwei Monaten wurde es richtig schlimm.” Er sei ausfallend geworden, wenn Frauen ins Haus kamen, habe an Flaschen gerochen, um zu prüfen, ob sie Alkohol enthielten. “Alles war plötzlich haram.” Haram bedeutet nach der Scharia verboten.

 

Vor zwei Wochen bedrohte Kanjaa einen Mitbewohner mit einer Machete, weil der schlecht über ihn geredet hatte. Der junge Mann zog noch am selben Tag aus. Es war vermutlich dieselbe Waffe, mit der Kanjaa nun loszog, um einen Menschen zu töten: ein etwa 50 Zentimeter langes Messer mit breiter, gekrümmter Klinge. Während der Glaubenskriege der spanischen Reconquista wurden ähnliche Waffen von christlichen wie muslimischen Kämpfern verwendet.

Völlig außer sich habe Yassine an jenem Nachmittag gewirkt, erzählt Sab*, ein weiterer Mitbewohner. Yassine habe an einer Straßenecke, keine 15 Meter vom Haus entfernt, ein Mädchen bepöbelt. Sab fuhr ihn an, es in Ruhe zu lassen. “Ich bring dich um, ich bring dich um”, schrie Yassine daraufhin angeblich. Dann stand er still, starrte ins Nichts. “Als hätten seine Augen etwas anderes gesehen als ich.”

Die Tatorte sind eine klassische andalusische Kulisse. Die Plaza Alta ist ein von Palmen und Orangenbäumen gesäumter Platz, auf dem Rentner Nachmittagsplausch halten und Kinder Skateboard-Tricks üben. Im Westen erstrahlt weiß die Pfarrkirche Nuestra Señora de La Palma mit ihrem Glockenturm im Kolonialstil, ein Wahrzeichen der Stadt. Auch wenn die Zahl der Katholiken in Spanien mit 18 Prozent auf einem historischen Tiefstand ist: Hier feiert man täglich die Messe.

In der Kirche Nuestra Señora de La Palma arbeitete Diego Valencia, der an diesem Tag von Yassine Kanjaa erstochen wird, 16 Jahre lang als Küster. Nur 500 Meter entfernt steht eine bescheidenere Kirche, die Parroquia San Isidro. Hier zelebriert der Salesianer-Priester Antonio Rodríguez, den der Täter schwer verletzt.

Bereits am frühen Abend des Tattages soll Kanjaa durch die Altstadt gezogen sein. Der 25-jährige Marokkaner mit dem rotbraunen Haar und dem Vollbart trägt über einer weißen Jogginghose eine schwarze Dschellaba. Solche langen Gewänder sind nichts Ungewöhnliches in Algeciras: liegt in Sichtweite, die Fähre nach Nordafrika verkehrt bis zu 14-mal täglich. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung sind Muslime, zum Fastenbrechen und anderen Festen laden sie Christen ein.

Laut Zeugenaussagen betritt Kanjaa die San-Isidro-Kirche erstmals gegen 18.30 Uhr. Pfarrer Antonio Rodríguez und seine Küsterin bereiten die Abendmesse vor. Kanjaa nimmt die Bibel vom Pult, sagt, dieses Buch sei nichts wert. Es kommt zum Wortgefecht. Doch als die Küsterin ihm die Tür weist, leistet er Folge. Ob er die Tatwaffe schon bei sich trägt, bleibt unklar.

Er könnte in seine Wohnung zurückgekehrt sein. Das Haus mit den zerbrochenen Fensterscheiben in der gepflasterten Gasse, ein Fremdkörper zwischen schmucken weiß-blauen Gebäuden, liegt nur hundert Meter entfernt. Dort in der Nähe begegnet ihm sein erstes Opfer, ein Marokkaner, den er als “Ungläubigen” beschimpft, ihm einen Faustschlag versetzt und seine Brille zerstört. Laut Aussage des Opfers trägt Kanjaa da die Machete schon bei sich.

Um
19.25 Uhr betritt er abermals die San-Isidro-Kirche, diesmal mit der
Tatwaffe in der Hand. Der Pfarrer hat eben die Kommunion gereicht, er
steht am Altar. Kanjaa geht direkt zu ihm, versetzt ihm mit der Machete
einen Hieb in den Nacken. Pfarrer Rodríguez, ein schmächtiger
74-Jähriger, bricht zusammen. Die Wunde blutet stark. Ein anwesender
Krankenpfleger und ein Polizist leisten Erste Hilfe.

Yassine Kanjaa eilt weiter,
Richtung Plaza Alta. Mit erhobener Waffe stürmt er durch das Hauptportal
der Nuestra Señora de La Palma. Die Messe ist eben zu Ende. Küster
Diego Valencia, 65, räumt den Altarraum auf. Der Täter fegt das Kruzifix
vom Altar, greift den Küster an. Offenbar verwechselt er ihn mit einem
Priester.

Die Augenzeugin Teresa
Cabello, 69, steht bei der Jesusstatue vorm Seiteneingang, als Kanjaa
die Kirche betritt. “Er schrie ›Allah, Allah!‹ – wie ein Verrückter”,
erzählt sie der ZEIT. Gemeindemitglieder seien zurück in die Kirche
gestürzt. “Ich lief mit, aber zu langsam, mein Knie ist kaputt.” Noch
draußen hört sie, wie der Küster um Hilfe ruft. Unter Tränen sagt sie
jetzt: “Das hat Diego nicht verdient.”

Diego Valencia schafft es ins
Freie, doch der Angreifer folgt ihm. Vom Geschehen auf der Plaza Alta
gibt es ein Video, gefilmt von einem der Fliehenden: Kanjaa mit der
Machete in der Hand, wie er über den fast leeren Platz rennt. Für
Sekunden verschwindet er aus dem Bild, dann kehrt er zurück, reckt
triumphierend den rechten Arm mit der Waffe in die Höhe, die linke Hand
steckt in der Tasche der Jogginghose. Kanjaa deutet eine Verbeugung an,
wie ein Schauspieler, wenn der Vorhang fällt.

Laut Polizei
haben mindestens zwei Passanten versucht, ihn festzuhalten, er stößt
sie von sich, verletzt sie leicht. Anschließend schlendert er zur
Barockkapelle Capillita de Europa auf der anderen Seite des Platzes.
Messen werden hier keine zelebriert. Das weiß Kanjaa wohl nicht. Er
rüttelt an der verschlossenen Tür. Minuten später lässt er sich
widerstandslos festnehmen.

Im Bericht des
Ermittlungsrichters lesen sich die letzten Sekunden im Leben des Küsters
Diego Valencia dramatisch: Als das Opfer auf dem Boden lag, “hob der
Angreifer das Messer mit beiden Händen, blickte zum Himmel und stieß,
während er einige Worte auf Arabisch rief, darunter ›Allah‹, noch einmal
zu”. Der Tathergang ist neben dem in Kanjaas Wohnung sichergestellten
Propagandamaterial Hauptindiz für den Terrorismusverdacht.

Am Montag wird Yassine
Kanjaa vor der Audiencia Nacional in Madrid vernommen. Das Gericht für
Terrordelikte ist in einem achtstöckigen Neubau untergebracht. Lange
Zeit wurden hier fast nur Anschläge der baskischen Terrororganisation
Eta ermittelt. Seit 2004 beschäftigt auch islamistischer Terror die
Richter. Damals zündeten Täter, die Al-Kaida und der “Marokkanischen
Kampfgruppe” nahestanden, Sprengsätze in vier Madrider Vorortzügen, 193
Menschen starben. Im August 2017 raste ein Islamist mit einem
Lieferwagen über die Ramblas in Barcelona und tötete 16 Menschen.
Ursprünglich waren Sprengstoffanschläge geplant, so vor der Sagrada
Família. In beiden Fällen waren internationale Tätergruppen beteiligt.

Der Fall von Algeciras
ist anscheinend anders gelagert. Kanjaa habe allein gehandelt, ohne
Komplizen, ohne Netzwerk, heißt es aus der Audiencia Nacional. Er sei
von niemandem angestiftet worden, gab er selbst zu Protokoll.

Islamistische Einzeltäter
sind nichts Ungewöhnliches. Der IS verfügt nicht mehr über die
Infrastruktur, um detaillierte Anschläge in Europa zu planen. Seit dem
Niedergang des “Kalifats” existiert der IS nur noch im Untergrund. Aber
es gibt Hinweise, dass er stärker im Internet agiert. So wurden in
Deutschland zwei Fälle bekannt, in denen der IS potenzielle Attentäter
über Messenger anleitete. Ermittler können oft auch nach Auswertung der
Smartphones nicht sagen, in welchem Staat solche Strippenzieher saßen.
Manchmal radikalisieren sie junge Männer, manchmal melden sich
Radikalisierte bei ihnen. Eine Terror-Support-Hotline.

Ob Yassine Kanjaa einen
Mentor hatte, ist unklar. Laut den Ermittlungsakten radikalisierte er
sich schnell, vor allem durch den Konsum von “dschihadistischem
Material” im Netz. Die Polizei hat laut Presseberichten auch USB-Sticks
mit Chat-Verläufen sichergestellt.

Kanjaas Mitbewohner sagen, er
habe argwöhnisch über sein Handy gewacht, häufig Predigten gehört. Und
er distanzierte sich von ihnen. Als sie einen Geburtstag feierten, mit
Musik und Bier, stürmte Kanjaa aus seinem Zimmer, schrie: “Musik aus!
Kein Alkohol!” Oft saß er wie abwesend auf einem Stuhl in der Ecke. “Er
war verrückt”, sagt Sab. Und Maleek ergänzt: “Ich hatte Mitleid und
ahnte nicht, dass er so durchdreht.”

Warum sie nicht die
Polizei riefen? Bis auf Maleek hat keiner von ihnen Papiere. Gegen
Yassine lag ein Ausweisungsbescheid vor, verhängt nach einer
Routinekontrolle der Polizei im Juni 2022, nur weil Yassine keinen Pass
vorlegen konnte. Da er nicht vorbestraft war, ließen die Behörden den
Fall ruhen. Allein im Jahr 2022 wurden vom Innenministerium 34.949
Ausweisungsbescheide verhängt, fast alle wegen illegaler Einreise. 2627
wurden vollstreckt.

 

Wann und wie kam Kanjaa
nach Spanien? Aktenkundig ist lediglich, dass Kanjaa zweimal illegal
einreiste. 2019 überquerte er die Meerenge von Gibraltar, wurde gleich
wieder abgeschoben. Über das Datum seiner zweiten Einreise und seine
Familie in Marokko war bei Redaktionsschluss nichts bekannt. In seiner
Wohnung in Algeciras ließen die Ermittler Kanjaas handschriftliche
Vokabellisten zurück, ein Weihrauchgefäß und einen Zettel mit arabischen
Bittgebeten. Es sind magische Worte, wie manche Muslime sie noch heute
bei sich tragen, zum Schutz vor Schaden und Krankheit.

In den Moscheen von Algeciras
ist Kanjaa nicht gut gelitten. Der Imam Mohamed El Mkaddem, 43 Jahre
alt, sitzt in einem Büro in der Al-Huda-Moschee, der größten der Stadt.
Das Holztor ist mit eisernen Knöpfen verziert, eine Klingel gibt es
nicht. Yassine Kanjaa sei nie in seine Moschee gekommen, sagt der Imam.
Einmal habe er ihn an der Tür getroffen, er habe sich beschwert über die
Gläubigen. “Sie würden zu laut sprechen und sich nach dem Waschen nicht
richtig abtrocknen, sodass Wasser auf den Boden tropfe.” El Mkaddem
schüttelt den Kopf: “Ich habe ihm gesagt, dass jeder nach seiner Art
leben kann. Er nickte und ging.”

Aus einer anderen,
kleinen Moschee am Hafen warf man Kanjaa eine Woche vor der Tat raus,
weil er lautstark forderte, die Moschee 24 Stunden zu öffnen, nicht nur
für Gebete.

Als der Küster Diego
Valencia am vergangenen Freitag bestattet wird, nehmen viele Vertreter
der muslimischen Gemeinden teil. Vor der Kirche legen Frauen im Hidschab
Blumen ab. Die Islamische Kommission, die alle islamischen Verbände
Spaniens vertritt, ist erschüttert “über das mörderische Verbrechen”.
Bei der Trauerfeier predigt ein Bischof Frieden. Draußen: Polizei,
Absperrgitter, Mannschaftswagen. Über den Toten heißt es, er sei
wehrhaft gewesen. Einmal jagte er einen Dieb aus der Kirche.

Diego Valencia
hinterlässt eine Frau, zwei Kinder, zwei Enkel. Auch die erste
Sonntagsmesse nach seinem Tod ist “unserem Diego” gewidmet. Zwei
Polizisten stehen vor der Kirche. Bürgermeister José Ignacio Landaluce
begrüßt sie persönlich und verspricht: “63 neue Beamte kommen bald zum
Einsatz.”

Für den Gemeindepfarrer
Juan José Marina ist es die erste Messe, die er allein, ohne seinen
Küster zelebriert. Eigentlich ist Marina ein leutseliger Priester, der
auf Facebook gern Fotos von sich beim Stiertreiben in Pamplona postet.
Doch der Mord an Diego, der seit acht Jahren für ihn arbeitete,
erschüttert ihn sichtlich. Der Anschlag habe ihm gegolten, sagt er. Und
hätte er an dem Mittwoch nicht in einer Nachbargemeinde ausgeholfen …
Pfarrer Marina liest nun aus der Bergpredigt: “Selig sind die
Trauernden, denn sie werden getröstet werden.” Dass diese Bibelstelle im
Kalender stehe, sei “Vorsehung”. Dann predigt er Vergebung.

Da hat die politische
Instrumentalisierung des Anschlags längst begonnen. Im Herbst 2023 wird
in Spanien gewählt, Parteien des rechten und konservativen Spektrums
buhlen um dieselbe Klientel. Die rechtsextreme Vox kam in Algeciras 2022
mit ihren Themen innere Sicherheit und illegale Migration auf fast 20
Prozent, sieben Prozent mehr als im Rest Andalusiens. “Wir dürfen das
Voranschreiten des Islamismus nicht tolerieren”, twittert der
Vox-Präsident gleich nach dem Attentat. Die Konservativen schlagen in
dieselbe Kerbe. Das Drama von Algeciras spielt in einer veränderten
politischen Landschaft: Andalusien ist nicht mehr Hochburg der
Sozialisten. Der Hafen von Algeciras ist Einfallstor für Drogen, auch
weil Marokko weltweit führender Exporteur von Haschisch ist. Gegen die
Drogenhändler gab es schon Demos.

Am Sonntag
in der Kirche stehen sie Schlange, um den Pfarrer Marina zu umarmen. Als
er später in Straßenkleidung aus dem Seiteneingang tritt, weil vorn die
Medien warten, wirkt er erschöpft. Die dicke Brille lässt seine
geröteten Augen übergroß erscheinen. Sieht er einen religiösen
Hintergrund der Tat? Marina seufzt. “Der Mensch missbraucht den Namen
Gottes, seit er sündigt.” Dann beklagt er die Lebensumstände des Täters.
So viele junge Männer kämen ohne Papiere nach Spanien, fänden keine
Arbeit und keine Zukunft. “Was tun sie dann hier?”, fragt Marina. Das
Ganze mache ihn wütend, vor allem aber traurig.

*Die Namen sind von der ZEIT anonymisiert

Mitarbeit: Ulrich Ladurner, Yassin Musharbash, Abdel-Hakim Ourghi

 

via www.zeit.de

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