Knapp 20 junge Unabhängigkeitsaktivisten betraten das Mausoleum wie Touristen, nutzten eine Wachablösung und warfen Farbbeutel auf den Sarkophag des früheren Präsidenten.
Die Demonstranten forderten das Ende jeglicher Verehrung für Chiang Kai-shek, der Taiwan vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu seinem Tod 1975 autoritär regiert hatte. Sein Sarg steht in einer seiner früheren Residenzen in der Stadt Taoyuan öffentlich aufgebahrt.
Verunstaltungen von Statuen Chiangs sind in Taiwan am 28. Februar, dem Gedenktag an einen 1947 niedergeschlagenen Volksaufstand, keine Seltenheit. Doch seine Grabstätte war erstmals das Ziel einer so drastischen Aktion. Videoaufnahmen zeigen, wie die Aktivisten nach dem Marmor-Sarkophag auch ein Porträt Chiangs mit blutroter Farbe beschmieren, als Anspielung auf die Opfer seines Regimes, und ein Transparent mit der Forderung nach einer „Republik Taiwan“ entfalten. Bis heute lautet Taiwans offizielle Bezeichnung „Republik China“ – der Staat, mit dem Chiang einst ganz China regierte und den er 1949 nach dem verloreren Bürgerkrieg gegen die Kommunisten nur noch auf Taiwan fortführen konnte.
Chinas Machtanspruch prägt Taiwans Politik
Die kontroverse Aktion macht deutlich, wie sehr die eigene Geschichte Taiwans Gesellschaft auch nach mehr als 20 Jahren Demokratie noch spaltet und dass innenpolitische Debatten hier jederzeit einen möglichen militärischen Konflikt mit China anheizen können.
Die Volksrepublik hatte auf Taiwan zwar nie etwas zu sagen, hält aber unbeirrt an ihrem Machtanspruch fest. Sollten die Taiwaner das aus China stammende System abschütteln und ihrem Staat einen neuen Namen geben, wäre so eine Unabhängigkeitserklärung für Peking sogar ein Kriegsgrund. Per Anti-Abspaltungsgesetz hatte 2005 die Volksrepublik sich diese Rechtfertigung und den Einsatz von Waffengewalt selbst eingeräumt.
Diplomatische und wirtschaftliche Abstrafung aus Peking muss Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen aushalten, weil sie seit ihrem Machtantritt vor fast zwei Jahren nicht die Formel aufgreift, beide Seiten seien eigentlich Teile des selben Landes. Ihre Absicht, verbliebene Symbole des Personenkults um Chiang – wie seine monumentale Gedächtnishalle im Zentrum von Taipeh – auf den Prüfstand zu stellen, kritisiert Peking als „De-Sinifizierung“ (Abbau der China-Elemente im politischen und gesellschaftlichen Leben auf Taiwan) und schleichende Schritte Richtung Unabhängigkeit.
Pläne für Unabhängigkeitsreferendum
Ein Ärgernis für Tsai, die im Verhältnis zu China den Erhalt des Status Quo als Ziel nennt, dürfte eine Veranstaltung ebenfalls am Mittwoch gewesen sein: Eine breite Allianz von Unabhängigkeitsgruppen, unter ihnen zwei Ex-Präsidenten, verkündete , sie strebe eine Volksabstimmung an mit dem Ziel, Taiwan eine neue Verfassung und einen neuen Staatsnamen zu geben.
Der 95 Jahre alte Ex-Präsident Lee Teng-hui, der Taiwans Demokratisierung maßgeblich vorangetrieben hatte, stellte sich ebenso dahinter wie sein Nachfolger Chen Shui-bian, der wegen einer Korruptionsaffäre verurteilt wurde und aus gesundheitlichen Gründen Haftverschonung hat.“Taiwan und China haben eine besondere Beziehung, aber es ist zweifellos eine Beziehung zwischen zwei Staaten“, wiederholte Lee eine Formulierung, die erstmals 1999 in einem DW-Interviewweltweit für Aufsehen gesorgt hatte.
Ein solches Referendum würde von Peking zweifellos mit größter Schärfe beantwortet. Dass es, wie angestrebt, im April 2019 stattfinden wird, ist allerdings höchst unwahrscheinlich. Obwohl Taiwans Regierung zu Beginn dieses Jahres die Hürden für Volksabstimmungen gesenkt hatte, sind Entscheidungen über Staatsnamen und Territorialgebiet ausdrücklich nicht zulässig.
Unabhängigkeits-Befürworter auf dem absteigenden Ast?
Der aussichtslose Referendumsvorstoß sei „eher innenpolitisch motiviert“, sagte der Kölner Politologe Hermann Halbeisen, der Taiwan seit langem erforscht, im Gespräch mit der DW. Angesichts der vergleichsweise gemäßigten Chinapolitik ihrer Präsidentin würden die Aktivisten um ihren Einfluss bangen. Die Idee einer formellen Unabhängigkeit verliere zudem seit einiger Zeit wieder an Zustimmung. Im Gegenteil seien „aus ökonomischen Kalkül“ viele jüngere Taiwaner bereit, „Angebote der Volksrepublik“ zu nutzen. Hintergrund: Taiwans Wirtschaft wächst langsamer als Chinas, die Löhne stagnieren.
Laut einer Langzeitstudie der Nationalen Chengchi-Universität in Taipeh ist der Anteil der Bürger, die sich selbst nur als „taiwanisch“ und nicht auch als „chinesisch“ sehen, auf den niedrigsten Wert seit 2012 gesunken. Der beträgt aber immer noch mehr als 55 Prozent. Zugleich wollen weniger als sechs Prozent formelle Unabhängigkeit so rasch wie möglich, also ohne Rücksicht auf Chinas Reaktion.
Chinas neue Lockmittel für Taiwaner
Offensichtlich nach dem Motto „Zuckerbrot und Peitsche“ verkündete die Regierung in Peking, ebenfalls am Mittwoch, eine Reihe neuer Erleichterungen für ihre „Landsleute in Taiwan“. Sie sollen künftig wie Bürger der Volksrepublik behandelt werden, dort etwa auch Steuererleichterungen erhalten und sich um Regierungsaufträge bewerben können. Wirtschaftliche Verlockungen unter Umgehung von Taiwans Regierung also, die allerdings unter einem Vorbehalt gelten: „Doppelgesichtige Geschäftsleute“, die in China zwar Geld machen wollten, aber Taiwan nicht als Teil Chinas sähen, seien ausgenommen, stellte ein Regierungssprecher klar.
Aus Taiwans Sicht bedrohliche Entwicklungen, wie die ständig vorangetriebene militärische Aufrüstung oder die bevorstehende Verfassungsänderung, die Chinas Staatschef Xi Jinping Macht auf Lebenszeit ermöglicht, machen einen durchgreifenden Erfolg chinesischer Charmeoffensiven aber unwahrscheinlich. Eine „immer größer werdende politische Kluft“, die „eine ohnehin kaum realistische friedliche Wiedervereinigung zusätzlich erschwert“, beobachtet Frederic Krumbein, Taiwanexperte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Xi werde sein Ziel der „großen Wiederaufstehung der chinesischen Nation“ weiter vorantreiben, sagte Krumbein der DW. „Dazu gehört die Vereinigung mit Taiwan. Insofern würde ich vorerst nicht mit Entspannung rechnen.“