Artikel | Christoph Drösser

Rosen im Garten sind tabu

2019-01-31

Vor fünfzig Jahren entstand mit der Sea Ranch in Kalifornien ein einzigartiges soziales und architektonisches Experiment. Jetzt erzählt eine Ausstellung in San Francisco seine Geschichte.

SAN FRANCISCO, Ende Januar

Fast könnte man die Siedlung verpassen, wenn man den Highway 1 entlangfährt, drei Stunden nördlich von San Francisco. Ein paar kantige Häuser mit verwitterten graubraunen Fassaden ducken sich in die rauhe Landschaft zwischen der Straße und dem Pazifik. Wäre da nicht das meterhohe weiße Logo, die stilisierten Hörner eines Schafbocks. Es ziert die Sea Ranch Lodge, ein Hotel und Restaurant. Wer haltmacht und die Pension besucht, der erfährt, dass hier seit mehr als fünfzig Jahren ein einzigartiges architektonisches und soziales Experiment seine Heimat hat. Leben im Einklang mit der Natur, das war hier schon lange vor der Umweltbewegung ein Slogan.

San Francisco in den sechziger Jahren beschwört Bilder vom summer of love 1967 herauf, von Blumenkindern, die mit Drogen experimentieren und die freie Liebe ausprobieren. Aber es gab in Kalifornien schon einige Jahre zuvor Menschen, die über alternative Lebensweisen nachdachten. Ein solches Projekt war die Sea Ranch. In dem zehn Meilen langen Küstenstreifen wollten Architekten, Landschaftsplaner und Künstler ein Leben im Einklang mit der Natur führen. Das San Francisco Museum of Modern Art würdigt die Sea Ranch nun mit einer Ausstellung.

“Wir wollten eine Architektur bauen, die nicht architektonisch war”, sagte der 2011 verstorbene Architekt Al Boeke, einer der wichtigsten Köpfe hinter dem Projekt, einmal in einem Interview. Die Häuser sollten hinter die Natur zurücktreten, sie sollten zeitgenössisch sein, aber keine Prunkbauten. Was ihm vorschwebte, war “eine ruhige, meditative Gemeinschaft für just folks, wie ich sie nannte. Keine besonderen Leute, einfach nur Leute.”

Darin steckte viel europäisches Gedankengut – ästhetisch stand Boeke in der Tradition der Moderne, von Gropius und Le Corbusier. Und die kommunitären Ideen lehnten sich an die Vorstellungen von New Towns und Gartenstädten an, die in Europa nach dem Ersten Weltkrieg eine Alternative zum Moloch der Industriestädte darstellen sollten. Al Boeke hatte für die Entwicklungsgesellschaft Castle & Cooke schon eine solche New Town in Hawaii entworfen, nun wollte er ein ähnliches Konzept in Kalifornien umsetzen. Die schlichten Häuser, die er sich vorstellte, kamen mit einer bescheidenen Grundfläche aus, duckten sich mit ihren zum Meer hin abfallenden Dächern unter die vom Meer wehende Brise und waren mit unbehandeltem Holz verkleidet, um im Lauf der Jahre immer mehr mit der Landschaft zu verschmelzen. Vorbild waren die Scheunen und Ställe der Schaffarmen, die früher das Gelände geprägt hatten.

Der zweite wichtige Kopf war der Landschaftsplaner Larry Halprin. Er entwickelte die Vorstellung von einem Leben in und mit der Natur. 1960 hatte das noch wenig mit Ökologie und Naturschutz zu tun – es war eher eine ästhetische Idee davon, wie sich eine menschliche Siedlung in die karge nordkalifornische Landschaft einfügen kann. “Es war kein ‘Zurück zur Natur’, sondern die Vorstellung einer Gemeinschaft, die in der Landschaft zusammenkam, um sie gemeinsam zu erleben”, sagt die Kuratorin der Ausstellung in San Francisco, Jennifer Dunlop Fletcher. Zusammen mit seiner Frau Anna, einer Tänzerin, veranstaltete Halprin Workshops für die Sea-Ranch-Interessenten. Die erinnern auf Fotos an Hippie-Happenings, waren aber drogenfreie Seminare zur innigen Verbindung von Mensch und Natur. Die Städter sollten die Gräser riechen, den Sand fühlen und den Westwind auf ihrer Haut spüren. Halprin zeichnete mit Tusche und Aquarellfarbe die ersten Bebauungspläne für die Sea Ranch. Kein Bauherr bekam einen Platz in der ersten Reihe am Strand – hufeisenförmig sollten sich die Häuser um große Wiesen anordnen, angelehnt an langgestreckte Hecken. Eine demokratische Siedlungsform mit großen Gemeinschaftsflächen.

In zwei Stufen sollte die Entwicklung der Sea Ranch vorangehen: Da es zunächst praktisch keine Infrastruktur gab, weder Schulen noch Geschäfte, sollte die erste Welle der Bewohner aus wohlhabenden Stadtbewohnern bestehen, die sich am Meer ein Wochenendhäuschen bauten. So sollte das Projekt finanziell abgesichert werden. Später dann sollte aus der Sea Ranch eine kleine Stadt werden.

Aber es kam anders. Bis heute ist die Sea Ranch zum großen Teil eine Wochenendzuflucht für betuchte Menschen aus San Francisco und Los Angeles. Statt Gemeinschaftshäusern wie dem eindrucksvollen Condominium One, einem der Pionierbauten mit neun Wohneinheiten, wurden in der Folgezeit nur noch Einzelhäuser errichtet. Entsprechend wurden die Bebauungsregeln aufgeweicht und viele der eigentlich unantastbaren Wiesen zu Bauland umgewidmet.

Nicht alle Prinzipien wurden über die Jahrzehnte verworfen. Noch heute muss sich jeder angehende Bauherr den strengen Gestaltungsregeln der Sea Ranch Association unterwerfen. Die Architektin Lisa Dundee wacht über die Einhaltung dieser Regeln. “Wir haben nur Einfluss auf die äußere Gestaltung der Häuser und auf die Gärten”, sagt sie. “Im Inneren sollen die Leute so kreativ sein, wie sie wollen, wir ermutigen sie dazu.” Jeder Entwurf wird individuell geprüft – das Haus muss sich in das Ensemble der Nachbarhäuser einpassen, darf nicht wesentlich größer sein. Es muss den Wind geschickt umleiten, so dass geschützte Bereiche entstehen, daher die schrägen Dächer. Die Außenverkleidung soll aus Materialien bestehen, die mit der Zeit altern, keine Hochglanzflächen. Das war am Anfang vor allem unbehandeltes Holz, in letzter Zeit lässt man auch Metall und Beton zu, die ihre eigene Form von Patina entwickeln. Auch im Garten darf der Sea-Ranch-Bewohner nicht pflanzen, was er will. Zugelassen sind nur einheimische Gewächse, die ans lokale Klima angepasst sind, Rosen sind tabu. Und die Beleuchtung der meist großflächig verglasten Bauten muss sich im Rahmen halten. “Die Leute hier schätzen wirklich die Möglichkeit, nachts die Sterne zu sehen”, sagt Dundee. Und auch wenn sie sich nicht als Geschmackspolizei sieht – ein Gebäude mit Schnörkeln und Girlanden hätte unter ihrem strengen Blick wohl schlechte Chancen.

Es herrscht ein hoher Gemeinschaftssinn unter den Bewohnern der Sea Ranch, man trifft sich zu Versammlungen und entscheidet über gemeinsame Angelegenheiten. Aber den Sprung in die geplante zweite Phase hat das Projekt nie geschafft. Eine Schule oder auch nur einen Supermarkt gibt es bis heute nicht, nur etwa ein Drittel der Häuser wird permanent bewohnt. Wenn man nach den Gründen dafür sucht, lohnt sich ein Besuch bei Barbara Stauffacher Solomon. Die heute neunzigjährige Künstlerin ist dem Projekt in einer Art Hassliebe verbunden. Sie gehörte zum Gründerteam der Sea Ranch, entwarf das Logo und malte im Schwimm- und Tennisclub der Siedlung die “Supergrafiken”, mit denen sie auch international bekannt wurde – großformatige, geometrische Zeichnungen, die mit der Architektur verschmelzen und die schlichten Wände farbig akzentuieren. Sie verdankt dem Projekt einerseits ihre Karriere. Andererseits hat sie sich schon früh von dem ihrer Meinung nach elitären Unternehmen distanziert. “Es war in dem Moment vorbei, als die Verkäufer das Ruder übernahmen”, sagt sie. Anders als andere Beteiligten aus der Gründungsphase hat sie sich nie ein Häuschen auf der Sea Ranch zu Sonderkonditionen gekauft.

Aber es waren nicht nur ökonomische Gründe, die das Projekt in den siebziger Jahren in die Sackgasse führten. Die ländliche Bevölkerung im Umland sah die neuen Siedler als eine elitäre Gruppe, die sich einen Immobilienstreifen in Toplage gesichert und einen wunderschönen Abschnitt des Pazifikstrands privatisiert hatte. Es kam zu einem Rechtsstreit, der in einer Volksabstimmung gipfelte. Die Bevölkerung Kaliforniens bestimmte 1972, dass alle Strände des Bundesstaats für die Öffentlichkeit zugänglich sein müssen. Eine Regelung, über die noch heute die Hollywoodstars in ihren Strandvillen in Malibu grollen, wenn das gemeine Volk vor ihren Panoramafenstern durch den Sand stapft.

Für die Sea Ranch bedeutete der Rechtstreit Stagnation. Zehn Jahre lang herrschte ein Baustopp, der ursprüngliche Investor zog sich zurück. Die Bevölkerung wurde immer älter. Erst seit einigen Jahren kommen wieder verstärkt Interessenten, die von den ursprünglichen Ideen der Sea Ranch fasziniert sind. In San Francisco gibt es genügend jüngere Leute mit den nötigen Mitteln, das Design der fünfziger und sechziger Jahre ist schwer in Mode, und fast jeder Städter träumt irgendwann davon, vor den hohen Immobilienpreisen und der Hektik der Silicon-Valley-Metropole aufs Land zu fliehen. Moderne Technik macht es möglich, auch abseits der Stadt einem Beruf nachzugehen. Gerade sind auf der Sea Ranch Glasfaserkabel mit schnellem Internetanschluss verlegt worden. “Die Altersstruktur wird merklich jünger”, sagt Dundee, “man muss nicht mehr bis zur Pensionierung warten, um hier dauerhaft zu leben.”

Die einfachen Leute oder mittellosen Künstler, die dem Gründer Al Boeke vorgeschwebt hatten, ziehen freilich auch heute nicht auf die Sea Ranch. Die Häuser, die auf dem Markt sind, kosten um eine Million Dollar, unwesentlich weniger als in San Francisco. Die Sea Ranch ist ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist, eine humane und diverse Gemeinschaft auf dem Reißbrett zu entwerfen. “Designer allein sollte man damit nicht beauftragen”, schreibt die Kuratorin Jennifer Dunlop Fletcher im Katalog der Ausstellung. Man brauche “eine klare Vision und Expertise aus mehreren Disziplinen”, um aus idealistischen Vorstellungen eine funktionierende Wirklichkeit zu machen. Die Bevölkerung der Sea Ranch ist fast ausschließlich weiß, überdurchschnittlich alt, kinderlos und eher gut betucht, daran wird sich vorerst nicht viel ändern. Sie könnte in den nächsten Jahren zu einem interessanten Aussteigerprojekt werden – für Aussteiger, die es sich leisten können.

CHRISTOPH DRÖSSER

The Sea Ranch – Architecture, Environment, and Idealism. Im San Francisco Museum of Modern Art; bis zum 28. April.

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