Artikel | Julia Macher

Tourismus in Spanien: Das bessere Barcelona?

2020-08-17

Normalerweise wird Barcelona zu dieser Jahreszeit von Touristen überrannt, doch im Pandemie-Sommer ist Ruhe. Was den Wirt Paco Solé belastet, hat die Schauspielerin Eva Poch lange ersehnt. 

Am späten Nachmittag scheint Barcelonas Altstadt beinahe stillzustehen. Mildes Sonnenlicht fällt durch die Häuserschluchten. Vor einem Geschäft für Trocken- und Hülsenfrüchte lassen sich zwei ältere Damen ein Pfund Linsen und ein Pfund Reis einpacken. Ein paar Möwen machen Jagd auf ein liegen gebliebenes Stück Brot. Eva Poch, 49 Jahre alt, sitzt auf einer Bank an der Plaza del Born und beobachtet ihren neunjährigen Sohn Aran beim Rollschuhfahren. Mit zwei Freunden veranstaltet er Wettrennen rings um die zum Museum umfunktionierte Jugendstil-Markthalle, in großen Schwüngen gleiten sie über die Steinplatten, umfahren den hölzernen Mast der riesigen, rot-gelben katalanischen Fahne, die sich in der Sommerbrise bauscht. Er kreischt, sie lacht: „So viel Platz zu haben, mitten in der Altstadt: Das ist einfach unbezahlbar.“

 

Normalerweise wären im Sommer solch raumgreifende Sportarten unmöglich: Dann versperren Besucherinnen und Reisegruppen von Kreuzfahrtschiffen den Weg, im letzten Jahr legten mehr als 800 hier an. Vor dem Picasso-Museum und den Gaudí-Sehenswürdigkeiten bilden sich lange Schlangen, der Stadtstrand platzt aus allen Nähten. Wie gesagt: normalerweise. Die Grenzen nach sind zwar seit Ende Juni geöffnet, doch gerade hat das Auswärtige Amt das Land wegen steigender Infektionszahlen wieder zum Risikogebiet erklärt. So werden die Touristen wohl auch weiterhin fernbleiben. „Dieser Sommer in Barcelona ist herrlich“, sagt Eva Poch so schwungvoll, dass ihre dunklen Locken wippen.

 

„So einen Sommer gab es noch nie“, sagt Paco Solé. Sein Gesichtsausdruck lässt erkennen, dass er die Situation nicht herrlich findet, im Gegenteil. Solé ist 72 Jahre alt und der Inhaber des Traditionslokals Set Portes in der Nähe des Hafens. Aufrecht sitzt er an einem der mit schwerem Leinen eingedeckten Tische, draußen vor den Fenstern schaukeln ein paar bunte Girlanden im Wind. Mit Live-Konzerten und Freigetränken hat er versucht, nach drei Monaten Zwangspause zum Normalbetrieb zurückzukehren. Im Juni feierten Einheimische hier ihr Wiedersehen nach dem Lockdown, doch jetzt, im Hochsommer, fehlen die Touristinnen. Gerade mal einen ausländischen Gast habe er bisher gehabt. „Es ist fürchterlich“, klagt Solé, der in diesem Jahr wohl ein ordentliches Minus machen wird. Barcelona ohne internationale Besucher: Das geht einfach nicht.

 

Jahrelang zählte die Mittelmeermetropole zu den beliebtesten Städteziele weltweit. Allein im letzten Jahr kamen zwölf Millionen Touristen in die Stadt, achtzig Prozent davon aus dem Ausland. Mit zwölf Prozent ist das Urlaubsgeschäft eine der wichtigsten Wirtschaftssäulen der Stadt. Und jahrelang klagten vor allem jene, die nicht daran verdienten, jeden Sommer über Overtourism. Über das Gedränge auf den Rambles, all die Souvenirshops und die steigenden Mieten in der Altstadt. Selbst Touristen beschwerten sich, so steht es in einer Umfrage der Stadt, am häufigsten über die vielen Touristen. Die Corona-Krise hat dieses Problem erst einmal erledigt. Nun stellt sich die Frage: Ist Barcelona ohne Besucherinnen tatsächlich die lebenswertere Version seiner selbst?

 

Paco Solé schüttelt entschieden den Kopf. „Barcelona ist so eine bunte, lebendige Stadt geworden, eben weil wir sie mit anderen teilen und Gäste aus aller Welt empfangen.“ Vierzig Prozent seiner Kunden stammen normalerweise aus dem Ausland, die restlichen sechzig verteilen sich zur Hälfte auf spanische Touristen und Geschäftsleute oder Einheimische, die sich etwas gönnen möchten. Solé, der neben dem Restaurantbetrieb einen Studiengang zu Unternehmensorganisation organisiert, bezeichnet das Set Portes gern als den „FC Barcelona der Paella“: wegen der 100.000 Reisgerichte, die hier pro Jahr serviert werden, der über 180-jährigen Geschichte und der prominenten Gästeliste. Che Guevara war schon hier, Woody Allen auch.

 

Im Frühjahr, als das Leben in Barcelona eingefroren war, weil man das Haus zweieinhalb Monate nur für das Nötigste verlassen durfte, habe er viel über sein Geschäftsmodell nachgedacht. Ohne internationale Besucher funktioniert es nicht und künftig, das sagen Wirtschaftsprognosen, werden die Ausländer wohl noch wichtiger. Denn die Kaufkraft der Einheimischen sinkt. „Wir wollen, dass Barcelona-Besucher nach ihrer Heimkehr gefragt werden: Und, warst du auch im Set Portes?“ Der Wirt rechnet damit, dass es etwa anderthalb Jahre dauern werde, bis die Touristen in sein Restaurant zurückkehren. Die Zwischenzeit will er nutzen, um die Inneneinrichtung zu erneuern. Etwas moderne Kunst hier, ein paar verspielte Lichteffekte dort – und schon könnte das altehrwürdige Restaurant mit den dunkel verkleideten Wänden, den hohen Spiegeln und den schwarz-weißen Bodenfliesen etwas zeitgenössischer wirken. Auch das Personal will er neu schulen. Die Kellner sollen nicht nur Herkunft der Zutaten und Zubereitungsart herunterbeten können, sondern auch die ein oder andere kulturhistorische Information zu Klassikern wie arròs negre, mit Tintenfischtinte gefärbtem Reis, liefern. Das schmeichle auch dem Ego der einheimischen Klientel. Denn die müsse natürlich bleiben: „Sie macht uns authentisch.“

 

Dass Barcelonas Bewohner in Paco Solés Plänen nur in einem
Nachsatz auftauchen, ist einer der Gründe, warum Eva Poch das Set Portes seit
mehr als zwanzig Jahren nicht mehr betreten hat. „Seit Jahren fühle ich mich
als Statistin in meiner eigenen Stadt“, sagt Poch, seufzt und zieht an ihrer
Zigarette. „Ich kann nicht glauben, dass es nach der Krise einfach so weiter
gehen soll wie vorher“, sagt sie, obwohl sie selbst vom Stillstand betroffen ist.
Poch ist Schauspielerin, ihr Mann arbeitet als Bühnentechniker, sämtliche
Bühnen aber sind geschlossen. Das Paar hält sich mit Audioproduktionen für
Sehbehinderte über Wasser, doch der halbe Freundeskreis der beiden ist
arbeitslos oder in Kurzarbeit. Trotzdem, meint sie, dürfe man nicht einfach an
die Zeit vor Corona anknüpfen.

Für Eva Poch begann der Untergang der Stadt, als Barcelona
mit den Olympischen Spielen von 1992 zur Urlaubsdestination aufstieg. Damals
wurden die ersten schmalen Altstadtstraßen in Fußgängerzonen verwandelt. Parallel
dazu schnellten die Grundstückspreise in die Höhe. Die alteingesessene Bäckerei
und das Kino um die Ecke schlossen, stattdessen öffneten große Modeketten ihre
Filialen. In den letzten zwanzig Jahren haben sich die Mieten in Barcelonas Zentrum
verdreifacht. Machten die alten Anwohnerinnen nicht schnell genug Platz, halfen die
Immobilienbesitzer nach.

 

Wie das funktioniert, hat Eva Poch selbst mit ansehen müssen.
Ihre Eltern leben zur Miete in der Carrer del Pi, die Rambles sind drei
Fußminuten entfernt. Seit die Besitzer, eine alteingesessene Adelsfamilie, vor
ein paar Jahren beschlossen, die Wohnungen in Lofts für eine gut betuchte
Klientel aus dem Norden Europas aufzuhübschen, dröhnten acht Stunden täglich
die Presslufthämmer. Erst regnete es monatelang ins Treppenhaus, weil das Dach
abgedeckt wurde, dann kappten Bauarbeiter die Stromleitung und die
Wasserversorgung. Die Familie legte Beschwerde beim Rathaus ein und stellte
Strafanzeige, vergeblich. Erst als Mitte März der Lockdown verhängt wurde,
stoppten die Bauarbeiten. „Dafür bin ich der Pandemie dankbar“, sagt Eva Poch.

 

Ihr Sohn Aran ist müde geworden und schnallt sich die
Rollschuhe ab. Die beiden spazieren durch das Born-Viertel nach Hause, vorbei
an geschlossenen Souvenirshops und einem verrammelten Segway-Verleih. „Es kann
doch eigentlich nicht so schwer sein, über eine Lizenzvergabe für eine
vernünftige Mischung an Geschäften zu sorgen“, schimpft Poch.

Tatsächlich versucht die linksalternative Stadtregierung
seit Jahren, den Massentourismus in den Griff zu bekommen. Die Lizenzvergabe
für Hotels und Pensionen wurde in der gesamten Innenstadt gestoppt. Läuft in
der besonders beliebten Altstadt eine Lizenz aus, wird sie nicht erneuert. Pub
Crawls sind verboten und wer seine Wohnung ohne Genehmigung an Touristen
vermietet, muss mit saftigen Geldstrafen rechnen. Der Hotelverband brandmarkte
die Maßnahmen als „wirtschaftsfeindlich“, vielen Anwohnern aber sind sie zu lax.
Die Corona-Krise könnte nun, so hofft man im Rathaus, dabei helfen, die Exzesse
weiter einzudämmen: Abstands- und Sicherheitsregeln reduzieren automatisch das
Gedränge und Geschiebe. Der Zugang zu Gaudís berühmten Park Güell etwa wird um
die Hälfte heruntergefahren: Statt jährlich neun sollen nur noch 4,5 Millionen
Touristen die berühmten geschwungenen Keramikbänke begutachten können.

Zugleich will man den Qualitätstourismus ausbauen und
internationale Kongresse in die Stadt locken. Das bringt mehr Geld als die
Tagestouristen aus Lloret de Mar oder Cityhopper, die übers Wochenende mit dem
Billigflieger kommen. Zunächst aber sollen die Bewohner mit der Stadt und ihren
touristischen Aushängeschildern versöhnt werden. „Eine gute Beziehung zwischen
den Bewohnern und der Stadt muss ebenso zum Markenkern Barcelona gehören wie
Nachhaltigkeit und Innovation“, sagt Stadtrat Xavier Marcè. Das Tourismusamt
hat 150 Aktivitäten zusammengetragen, die den Barcelonern helfen sollen, ihre
Stadt wiederzuentdecken. Wer seinen Wohnsitz in der Stadt hat, darf den Park
Güell dauerhaft und die Sagrada Família bis Ende des Jahres zu bestimmten
Uhrzeiten kostenlos besuchen. Die Tickets waren nach wenigen Stunden
vergriffen.

Urlaub in der eigenen
Stadt: Solange das nur eine
vorübergehende Begleiterscheinung der Corona-Krise ist, hat auch
Gastwirt Paco Solé nichts dagegen. Parallel dazu müsse die Stadt aber
alles unternehmen, um
wieder internationale Kunden in die Stadt zu locken. „Barcelona war
schon immer
eine Stadt der Verkäufer und Händler“, sagt Solé. „Und ihr bestes
Produkt ist nun
einmal sie selbst.“

Auch Eva Poch hat dieser Tage versucht, ihre Stadt als
Touristin zu erleben. Vor ein paar Tagen war sie mit Freundinnen in der
Altstadt essen, in einem dieser Lokale, die wegen der von der Decke
herabrankenden Pflanzen und der langen Tische aus unbehandeltem Holz auf
Instagram besonders gern etikettiert werden. „9,50 Euro hat die Lachs-Quiche
gekostet – und sie hat nicht einmal geschmeckt.“ Die Touristen sind zwar weg,
ihre Preise aber sind noch da. „Natürlich weiß ich, dass man die Zeit nicht
einfach zurückdrehen kann“, sagt sie. „Aber wenn wir Anwohner bewusster
überlegen, wo wir unser Geld ausgeben, vielleicht können wir dann etwas von diesem
anderen Barcelona bewahren – über diesen Sommer hinaus.“

 

 

via www.zeit.de

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