Zu Beginn schauen wir kurz in Mallorcas blauen Himmel. "Na, neidisch?" Dann schwenkt Isabel Vidal das Kameraauge ihres Computers zurück auf sich selbst und die Wand hinter sich. Die Videokacheln zeigen nun mallorquinische Interieurs. Das passt. Schließlich soll es heute um die Innenansicht gehen: Was halten die Inselbewohner davon, dass langsam die Tourismusmaschinerie wieder anläuft?
Von Merten Worthmann und Julia Macher.
Zu Beginn schauen wir kurz in Mallorcas blauen Himmel. „Na, neidisch?“ Dann schwenkt Isabel Vidal das Kameraauge ihres Computers zurück auf sich selbst und die Wand hinter sich. Die Videokacheln zeigen nun mallorquinische Interieurs. Das passt. Schließlich soll es heute um die Innenansicht gehen: Was halten die Inselbewohner davon, dass langsam die Tourismusmaschinerie wieder anläuft? Isabel Vidal ist Hoteldirektorin an der Playa de Palma. Der Arzt Albert Pou leitet regelmäßig eine Corona-Station. Margalida Ramis ist Umweltschützerin, Macià Blázquez Tourismusforscher an Palmas Universität. Toni Bauzá wirft ein paar Brocken Deutsch ins Gespräch. Er hat sie von deutschen Inselbewohnern, die in seiner Hilfsorganisation als Freiwillige arbeiten.
DIE ZEIT: Die Deutschen sind zurück auf . Sind wir Ihnen willkommen?
Toni Bauzá: Wir sind halt auf Touristen angewiesen! Die Menschen hier müssen arbeiten, sie brauchen was zu essen. Das sehe ich ja täglich an den Schlangen unserer Essensausgaben. Was wir gerade erleben, ist ein klassischer Interessenkonflikt.
Isabel Vidal: Unsere beiden Hotels sind noch geschlossen. Aber meiner Meinung nach spricht nichts dagegen, langsam und kontrolliert Touristen auf die Insel zu lassen.
Albert Pou: Ich kann durchaus nachvollziehen, auch als Arzt, dass man Touristen wieder willkommen heißen und keine No-Covid-Strategie fahren will. Wofür ich kein Verständnis habe: dass man Spaniern aus Regionen mit einer niedrigen Inzidenz die Einreise verwehrt, während Touristen aus Ländern mit Inzidenzwerten von mehr als 100 einfliegen dürfen.
Margalida Ramis: Für mich als Umweltaktivistin ist nicht die Frage, ob sich Touristen hier willkommen fühlen oder nicht. Die Abhängigkeit vom Tourismus macht Mallorca anfällig für Krisen aller Art. Dieses eingleisige Wirtschaftsmodell ist mitverantwortlich für unsere Not.
Macià Blázquez: Richtig. Viele bringen gerade Ursachen und Folgen durcheinander. Ich habe Studierende, die den Restriktionen die Schuld geben an der Wirtschaftskrise – und nicht der Pandemie. Dabei gelten die Restriktionen, damit uns die Angehörigen nicht sterben! Und inmitten dieser Sorge rufen die großen Tourismus-Unternehmen der Insel nach Entschädigungen, so wie 2008 die Banken. Das ist doch verrückt.
ZEIT: In Deutschland wird befürchtet, dass sich unsere Landsleute bei Ihnen ballen und das Virus dann, womöglich als Mutante, in die Heimat zurückschleppen.
Pou: Dazu kann ich etwas sagen: Bei den zwei Fällen, in denen wir im Krankenhaus eine brasilianische Mutante diagnostiziert haben, handelte es sich nicht um die gefährliche Variante, die eine Impfresistenz aufweisen soll.
Vidal: Und was heißt hier „sich ballen“? Über sind an der Playa de Palma gerade mal 10 Prozent der Hotels geöffnet – statt 65 bis 80 Prozent wie in normalen Jahren. Und der Ostertourismus ist in der Regel sehr ruhig, sehr familiär. Da sehe ich keine Gefahr.
ZEIT: Vor vielen Hotels hängen Transparente der Initiative SOS Turismo. Auch bei Ihnen, Frau Vidal. Wie oft haben Sie überlegt, Insolvenz anzumelden?
Vidal: Wir sind ein kleines Familienunternehmen, das gibt man nicht so schnell auf. Aber die Branche blutet langsam aus. Manche Hotels sind geschlossen, seit im Herbst 2019 Thomas Cook pleiteging.
ZEIT: Hat sich die Stimmung nach der Ankunft der ersten Touristen gebessert?
Vidal: Wir fühlen uns immer noch wie auf einer Achterbahn aus mal besseren, dann wieder schlechten Nachrichten. Es bleibt eine furchtbare Unsicherheit. Jeden Monat müssen wir Rechnungen bezahlen und neue Schulden aufnehmen. Allein die Müllentsorgung kostet alle zwei Monate 8000 Euro – für Müll, der nicht anfällt.
ZEIT: Maskenpflicht im Freien, Restaurants, die um 17 Uhr schließen müssen, Ausgangssperre von 22 Uhr an – glauben Sie, man kann so verhindern, dass bald wieder neue Reisewarnungen für Mallorca gelten, so wie im vergangenen Sommer, als deutsche Touristen in einem Pilotprojekt als Erste auf die Insel durften?
Vidal: Was den
Sommer 2020 angeht, ist gar nicht ausgemacht, ob Touristen die großen
Pandemietreiber waren. Jetzt über Weihnachten gab es gar keinen
Tourismus – und trotzdem hatten wir anschließend eine neue Welle.
ZEIT:
Herr Pou, Sie haben 2020 „das härteste Jahr Ihres Lebens“ genannt. Die
Infektionszahlen sind in den vergangenen Tagen wieder leicht gestiegen.
Bereiten Sie sich gerade auf eine weitere Welle vor?
Pou: Wir
haben die Zahl der Intensivbetten seit Beginn der Pandemie
verdreifacht. Vor ein paar Wochen, bei sehr niedrigen Inzidenzwerten,
haben wir überlegt, einige Covid-19-Betten wieder für andere Stationen
freizugeben. Wir haben uns dagegen entschieden. Wahrscheinlich werden
wir sie bald wieder brauchen.
ZEIT: In Deutschland halten viele einen Mallorca-Urlaub zum jetzigen Zeitpunkt für unverantwortlich und egoistisch. Die Bundesregierung hat sogar ein Ausreiseverbot diskutiert. Ärgern Sie sich als Arzt über diese ungeduldigen Urlauber?
Pou:
Nein. Weil ich weiß, dass auf der Insel wichtige wirtschaftliche Gründe
für eine Öffnung sprechen. Es gibt schon wieder einzelne Touristen, die
sich auf der Insel infiziert haben. Aber solange die Gästezahlen
niedrig bleiben und es um familiären, naturnahen Urlaub geht, ist das
Risiko eher gering. Natürlich besteht die Gefahr – und die Furcht –,
dass die Lage erneut außer Kontrolle gerät. Die Rückkehr des
Massentourismus halte ich momentan für undenkbar.
ZEIT:
In Madrid hat man überlegt, Kellnern und Taxifahrern eine gewisse
Priorität in der Impfkette zu geben. Wäre das auch für Angestellte aus
der Tourismusbranche auf Mallorca eine gute Idee?
Pou:
Menschen vorzuziehen, die sozial besonders aktiv sind, ist theoretisch
sinnvoll. Aber letztlich ist es, glaube ich, am besten, einfach so
schnell wie möglich so viele Menschen wie möglich zu impfen.
Vidal:
Wir haben den Behörden natürlich dargelegt, dass das Hotelpersonal dem
Virus besonders stark ausgesetzt ist: Kellner, Rezeptionistinnen,
Zimmermädchen. Wir würden aber nie fordern: „Wir zuerst!“
ZEIT:
Herr Bauzá, Ihre Hilfsorganisation Tardor kümmert sich um arme und in
Not geratene Menschen. Was hat sich durch die Pandemie geändert?
Bauzá:
Früher hatten wir pro Tag 150 bis 200 Personen, jetzt sind es etwa
1350, die bei uns für Lebensmittel und Hygieneartikel anstehen. Bei
anderen Hilfsorganisationen sieht es ähnlich aus.
ZEIT: Sind das alles Menschen, die im Tourismus gearbeitet haben?
Bauzá:
Nicht alle, aber sehr, sehr viele. Vor unserer Essensausgabe stehen
Jungunternehmer, die gerade ihr Geschäft aufgebaut und all ihre
Ersparnisse hineingesteckt hatten. Die jetzt komplett ruiniert sind.
Oder Servicekräfte, die über Jahrzehnte einen Saisonvertrag an den
anderen gereiht haben – und jetzt vor dem Nichts stehen. Eine unserer
freiwilligen Helferinnen hat über 14 Jahre brav ihre Hypothek getilgt.
Als in der Pandemie ihre Einkünfte wegfielen, hat sich die Bank ihre
Wohnung geschnappt. Eine andere Familie mit drei Kindern hat eine
Wohnung besetzt, weil sie sonst auf der Straße gelandet wäre. Früher
haben wir vor allem Langzeitarbeitslosen oder Obdachlosen geholfen.
Jetzt sind es ganz normale Leute.
ZEIT:
Wenn man diese Not täglich sieht – wünscht man sich die Touristen dann
nicht so schnell wie möglich zurück? Und je mehr, desto besser?
Bauzá:
Die Verzweiflung ist riesig. Und die Menschen fordern Unmögliches,
obwohl sie wissen, dass wir der jetzigen Lage nicht so einfach entkommen
können. Wir müssen allerdings schnell dafür sorgen, dass das
ökonomische Fundament der Insel, auf dem wir stehen, nicht vor die Hunde
geht. Zum Beispiel mit Mitteln aus dem EU-Wiederaufbaufonds.
Ramis:
Die EU stellt gerade so viel Geld zur Verfügung wie noch nie. Meiner
Meinung nach sollte man es für ein bedingungsloses Grundeinkommen
verwenden. Das würde uns allen etwas Ruhe und Sicherheit verschaffen.
Und die werden wir brauchen. Denn nach dieser Krise müssen wir
darangehen, die Fixierung auf den Tourismus loszuwerden. Wir müssen die
Insel ökologisch umbauen.
Vidal: Viele
Forderungen der Umweltschützer gefallen mir. Aber ein wichtiger Teil der
Gelder muss jetzt an die Unternehmen fließen. Der Tourismus ist nun mal
die größte Industrie der Insel.
Blázquez: Wenn
wir EU-Gelder an Unternehmen geben, dann bitte an kleine, lokale
Firmen. Wir dürfen jetzt nicht die Kontrolle über unsere Insel
verlieren! Mallorca ist ein Leckerbissen für ausländische Investoren und
Investmentfonds. Die versuchen sich hier festzusetzen wie die Piraten
auf der Schatzinsel. Die übernehmen Weinberge und alte Fincas – aber
gern auch Hotels von Mallorquinern, die jetzt in Versuchung geraten, zu
verkaufen.
ZEIT:
Momentan hat man den Eindruck, dass es vor allem die klassische
Ballermann-Kultur nach der Pandemie schwer haben wird, wieder auf die
Füße zu kommen.
Blázquez:
Deren Exzesse wünscht sich niemand zurück. Aber der „Sonne, Strand,
Sangría“-Urlaub hat auch sein Gutes. Das ist touristische
Intensivwirtschaft: Bei relativ geringem Ressourcenverbrauch wird eine
hohe Rendite erzielt. Wer Urlaub in der Finca macht, mit grünem Rasen,
eigenem Pool und Golfplatz in der Nähe, verbraucht nicht nur mehr Raum,
sondern auch sechsmal so viel Wasser. Trotzdem wird auf den
Massentourismus herabgeschaut. Dahinter steckt auch die Strategie, den
Tourismus schrittweise zu gentrifizieren. Einkommensschwache Urlauber
sollen von wohlhabenden verdrängt werden.
Vidal:
An der Playa de Palma kämpfen wir seit Jahrzehnten gegen dieses
Ballermann-Klischee! Zu den entsprechenden Szenen kommt es vielleicht in
zwei Monaten im Jahr. Ich finde, wir sollten die Touristen nicht nach
ihrem Einkommen oder der Art des Urlaubs beurteilen, sondern nach ihrem
Verhalten.
Pou:
Als junger Arzt musste ich in der Notaufnahme jeden Sommer Dutzende
Alkoholvergiftungen behandeln und schwere Verletzungen von Leuten, die
vom Balkon in den Pool gesprungen sind. Das hat unser Gesundheitssystem
Hunderttausende Euro gekostet! Auf solche Touristen verzichte ich gerne.
Man muss hart gegen Unternehmen vorgehen, die solche Aktivitäten
fördern!
ZEIT:
Frau Ramis, Sie haben schon vor Jahren Demonstrationen gegen den
Massentourismus angezettelt. Für Sie ist der beste Tourist der, der gar
nicht erst kommt?
Ramis: (lacht) Auch
wenn man uns gern in diese Ecke stellt: Umweltschutz ist nicht per se
tourismusfeindlich. Aber wir müssen diese Industrie zurückbauen. Die
Ressourcen unserer Insel sind begrenzt.
ZEIT: Wie sich Mallorca ohne Touristen anfühlt, war im vergangenen Jahr zu erleben. Haben Sie das genießen können?
Ramis: Ja, die Ruhe war fantastisch. Plötzlich konnte man die Natur wieder hören.
Vidal:
Mich hat gefreut, dass auch die Anwohner mal die Playa de Palma
genießen konnten: fünf Kilometer Sandstrand, ein Traum! Ich habe ein
Stand-up-Paddle-Board. Als ich damit an einem Sonntagmorgen auf dem
Wasser war, hat mich ein Delfin begleitet, vielleicht hielt er mich für
etwas zu essen. (lacht) Die Ruhe hatte aber auch etwas Trauriges.
Bauzá:
Ich bin das ganze Jahr nicht ein einziges Mal am Strand spazieren
gegangen! Meine ganze Energie und Lebenskraft fließt in unsere vier
Sozialzentren. Dafür habe ich mich bewusst entschieden, als kleines
Gegengewicht zu dem ganzen Wahnsinn um uns herum.
Pou: Ich habe Magaluf entdeckt! Den Strand hätte ich vorher nie betreten, weil er so überlaufen war. Aber er ist prima.
ZEIT: Hat noch jemand einen neuen Lieblingsort auf der Insel entdeckt?
Blázquez: Ich bin zwar Geograf, aber Menschen sind mir wichtiger als Orte.
Bauzá: Der Ort ist irrelevant. Wenn man mit Liebe und Respekt auf etwas blickt, erkennt man darin immer Schönheit.
Ramis: (denkt kurz nach) Ich werde mich hüten, einer großen deutschen Zeitung meinen Lieblingsort hier zu verraten!
Bauzá und Blázquez: (lachen) So geht es uns doch auch!