Reportage | Agnes Fazekas

Wut in der Wüste

2023-03-01

Die Beduin:innen im Negev sind israelisch, aber nicht jüdisch; geduldet, aber nicht integriert. Dass sich die Situation der traditionellen Gemeinschaft langsam bessert, verdankt sie vor allem ihren Frauen.

Für die Videos hat sie sich vermummt; ein Palästinatuch verdeckt Haare und Mund. Doch ihre wütende Stimme und die schwarzen Augen bleiben unverkennbar. Mal auf Arabisch, mal auf Englisch erklärt Adan Al Hjooj in die Kamera, was um sie herum geschieht, hier in der Wüste im Süden Israels, dem Negev. Wieso Männer und Frauen skandieren:

«Das ist unser Land! Beduinenland!» Und wieso hinter ihr auf dem Erdwall Soldat:innen mit Maschinengewehren stehen. Es sind nur ein paar Instagram-Storys, die sie über den Äther schickt, doch mit diesen wird die 19-jährige Beduinin zum Gesicht eines Protests, der im Frühling 2022 viral wird. Erstmals gehen Beduininnen für alle Welt sichtbar neben – ja, vor ihren Männern auf die Strasse, um für die Rechte ihrer Gemeinschaft zu kämpfen. Auslöser ist ein Projekt, das nur auf den ersten Blick harmlos wirkt: Der Jüdische Nationalfonds pflanzt im Auftrag der Regierung Bäume in die Wüste. «Landschaftspflege und Umweltschutz, eine jüdische Tradition zum Feier- tag Tu Bischwat», lautet die offizielle Erklärung.

Doch was auf der Karte wie ödes Niemandsland aussieht, sind in Realität die Felder eines beduinischen Dorfs. Eines von 35 nicht-anerkannten Dörfern, deren Einwohner:innen stets bangen, dass wie- der ein Haus abgerissen wird; die weder an Wasser noch Strom angeschlossen sind, von medizinischer Versorgung oder Schulen ganz zu schweigen. Für den ansässigen Klan, die al-Atrash-Familie, steht fest, dass es sich um eine Massnahme handelt, sie von ihrem Land zu vertreiben. Wieder einmal. Oder wie die israelische Zeitung «Haaretz» schreibt: «Der Staat Israel führt immer noch einen Krieg um den Negev, aber dieses Mal erobert er ihn von seinen eigenen Bürgern.»

Gut 75 Jahre ist er her, der Israelische Unabhängigkeitskrieg,  den  die  Palästinenser:innen  als «Nakba» beklagen, «die grosse Katastrophe», als die meisten der indigenen Halbnomad:innen vertrieben wurden oder f lohen. Von den bis zu 90 000 Beduin:innen, die bis dahin im Negev lebten, blieben lediglich 11 000. Sie waren dem jungen Staat ein Dorn im Auge, sollten sesshaft gemacht werden. Dort, wo sie möglichst wenig im Weg waren. Schliesslich hatte Staatsgründer Ben Gurion grosse Pläne für die Wüste: Sie sollte «zum Blühen» gebracht werden. Also siedelte die Armee die Klans in eine Art Reservat im Norden des Negev um. Später verpachtete der israelische Staat ihnen Ländereien, die geflohenen oder vertriebenen Beduin:innen gehörten. Noch später wurden urbane Townships etabliert – ohne Felder oder Weidegrund – aber auch ohne Jobs. Da- für mit neuen Verpflichtungen wie Wasser, Strom und Steuern. Heute leben zwar wieder etwa 300 000 Beduin:innen in der Wüste, nur die Hälfte davon allerdings in diesen anerkannten Siedlungen. Und die meisten unter der Armutsgrenze.

«Ich war so stolz auf uns Frauen», sagt Adan Al Hjooj zwei Monate nach den Strassenprotesten. Mit offenen Locken und in Jeans sitzt sie unter einem Zeltdach aus Ziegenhaar, wie es einst ihre Vorfahrinnen als Schutz vor Sonne und Wind gewebt haben. Das Zelt steht im Garten des Desert Embroidery Centers, einer lokalen Frauen-Initiative, ge- gründet von ihrer Mutter Amal. Adans Aktivismus kommt nicht von ungefähr: Es waren Frauen wie ihre Mutter, die einen Wandel angefeuert haben, den Soziolog:innen in seinem Tempo für weltweit einzigartig halten. Viele Jahre lang hatten die Beduininnen die höchsten Geburtenraten in Israel – und eine der höchsten in der Welt. In nur zwanzig Jahren ist die Rate von über zehn Kindern pro Frau auf unter fünf gesunken. Parallel dazu stieg das Bildungsniveau der Frauen rapide. «Es entwickelt sich eine weibliche beduinische Mittelschicht», sagt Sa- rab Abu-Rabia-Queder, seit 2006 die erste israelische Beduinin mit Doktortitel.

Das Dorf Lakiya kämpft nicht mehr um Anerkennung, es wurde 1985 als permanente Siedlung für beduinische Familien bestimmt. Doch der Unterschied zu den jüdischen Orten im Negev ist auffällig: Weniger Platz, mehr Müll, kein landwirtschaftliches Gerät. Nur ein paar Hühner flattern über die Strasse. Weil die Negev-Wüste rund sechzig Prozent des israelischen Staatsgebiets ausmacht, wird immer noch an Ben Gurions Vision festgehalten, sie mit allen Mitteln urbar zu machen. Während es heute fast 200 jüdische Gemeinden gibt, mit wenig Einwohner:innen und aufwendig bewässerten Obst- und Gemüseplantagen, drängen sich die Beduin:innen in Siedlungen mit Tausenden von Menschen und kaum Ackerland.#

Doch über den dünnwandigen Häuschen unten im Dorf säumen auch ein paar Familienhäuser mit fantasievollen Fassaden die Hügelkuppe, in den Einfahrten blitzen SUVs in der Sonne. Hier ist Adan mit ihrem Zwillingsbruder aufgewachsen, bis sie neun Jahre alt waren. Dann zogen sie mit ihrer Mutter nach Kanada, wo diese ihre Doktorarbeit abschloss. Was blieb, war das schlechte Gewissen, sagt Adan. Zwar ist ihr Vater als Anwalt gut situiert, seine Familie jedoch stammt aus dem Nachbarsdorf Awajan, in dem die Bulldozer der Armee alle paar Monate ein anderes Haus plattmachen. Zuletzt das ihrer Tante.

Als Adan im vorletzten Sommer für ein Zwischenjahr nach Israel kam, war klar, dass sie sich engagieren wollte; am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, Beduinin in Israel zu sein. Mit ihrem Bruder unterrichtet sie Englisch an einer Dorfschule, für eine weitere NGO, die ihre Mutter vor vielen Jahren gegründet hat. «Wer hätte gedacht, dass ich so schnell selbst meinen Platz als Aktivistin finden würde?», sagt Adan. Beim ersten Protest standen sie und ihre Mutter noch allein mit den Männern auf der Strasse. Adan hielt das Mikrofon. «Erst wollten mir die Männer nicht nachsprechen. Nur, weil ich eine Frau bin.»

Doch als sich die Demonstration ins Dorf verlagerte, wo die Bäume gepflanzt werden sollten, sassen da schon die daheimgebliebenen Frauen mit ihren Kindern auf dem Feld und wehrten sich gegen die Soldaten. «Sie verhafteten Kinder», sagt Adan. «Meine Mutter jagten sie sogar mit dem Pferd.» Bei der zweiten Demo ein paar Tage später kamen dann Tausende, darunter viele Frauen und Mädchen. Obwohl der Protest dieses Mal angemeldet und genehmigt war, schossen die Soldaten Tränengas, Lärmgranaten und Gummigeschosse in die Menge. Der Druck kam auch aus den eigenen Reihen. Proteste gegen Landnahme und Bulldozer der Armee sind traurige Tradition im Negev. Aber nicht alle Beduin:innen sehen es gerne, dass Mädchen wie Adan oder die Al-Atrash-Töchter plötzlich an der Frontlinie vor Soldat:innen und Kameras stehen. Bis dato hielten sich die Frauen im Hintergrund, oft in eigens aufgestellten Zelten. Ihre Präsenz schien vielen als unzüchtig; Aktivistinnen, die sich gegen Polygamie und Kinderehe aussprachen, wurden so- gar ausgeladen.

Etwas habe sich verändert, sagt Adan. Die Frauen hatten sich plötzlich stark gefühlt, hatten verstanden, dass sie den Kampf um ihr Land nicht den Männern überlassen wollen. Was schliesslich nutze es, wenn sich Frauen im patriarchalischen System der Beduinen behaupten, aber ohne Bushaltestelle im Dorf weder eine höhere Schule erreichen noch eine Stelle in der nächsten jüdischen Stadt annehmen können?

All das versuchen die zwei an diesem Vormittag israelischen Journalist:innen zu vermitteln. Viel Zeit haben diese nicht. Es stehen noch andere Stationen auf dem Plan, ein offizieller Pressetrip anlässlich des Welt-Frauentags, die PR-Frauen sind nervös. Aber Amal ist Profi. Sie hat eine geschliffene Geschichte parat. Sie erzählt von der nur vermeintlichen Tragödie, als fünftes Mädchen geboren zu sein. Immerhin eignete sie sich so früh Führungsqualitäten an:

«Ich war schon im Alter von sechs Jahren Chefin von fünfzig Schafen, drei Kühen und einem Esel.» Mit diesen streifte sie durch die Hügel vor Lakiya und gewöhnte sich an eine Freiheit, die sie nicht mehr missen wollte. «Wir wollen dasselbe Recht haben wie die Jüdinnen und Juden», schliesst Amal: «Selbst entscheiden, ob wir in Tel Aviv oder in der Wüste leben. Einen Bürojob haben oder Schafe züchten.» Als Adan ihre kurze Rede hält, platzt die Mutter fast vor Stolz, und als ihr die Tochter auch noch selbstbewusst widerspricht, reicht Amals dunkler Lippenstift von einem Ohr zum anderen. Adan fin- det nämlich, dass die Beduin:innen die Wüste nicht aufgeben sollten: «Unsere Kultur wäre längst ausgelöscht worden, hätten wir nicht an unserem Lebensstil festgehalten!» Viele Fragen stellen die Journalist:innen nicht. Wichtiger ist ihnen das Foto von Amals alter Mitstreiterin Huda Sana, die im schwarzen Hidschab auf dem Boden hockt und traditionelle Stickkunst vorführt. Solange es bei Folklore und Kamelritten am Strassenrand bleibt, wirbt Israel gern mit der beduinischen Kultur als touristisches Highlight.

Die Fünfzigjährige wohnt gleich nebenan in einem schlichten Haus. Erst, als alle abgezogen sind, erzählt sie in flüssigem Englisch, dass die jüdischen Besucher:innen immer wissen wollten, wer die NGO denn nun von jüdischer Seite unterstütze. «Sie wollen nicht glauben, dass wir Beduininnen das alles selbst auf die Beine gestellt haben!»

28 Jahre ist es her, dass sich die Frauen zusammentaten, um der Generation ihrer Mütter zu helfen, sich selbst zu helfen. Also den Frauen, die Zelte und Ziegenherden gegen enge Wohnschachteln und arbeitslose Ehemänner eintauschen mussten. Sie wieder zu stolzen Produzentinnen zu machen, wie Amal es ausdrückt. Heute versorgt das Center 150 Beduininnen mit einem kleinen Einkommen. Be- sonders die eingeheirateten und damit statuslosen Palästinenserinnen aus Gaza oder dem Westjordanland sind darauf angewiesen, und noch mehr: die von ihren Männern verstossenen Erstfrauen. Es ist immer noch üblich, dass manche Beduinen zwei oder drei Mal heiraten. Für die Erstfrauen eine Demütigung, egal, ob sie bei ihrem Mann bleiben oder nicht.

Sie sei sehr stolz auf ihre Arbeit, sagt Huda. Doch sie sei keine Amal mit Doktortitel, die ihre Kinder ermutigt, zu Protesten zu gehen. «Adan und ihr Bruder werden irgendwann nach Kanada zurückkehren», glaubt sie. «Meine Kinder leben in Israel, sie müssen in der jüdischen Gesellschaft zurechtkommen.» Dass es dabei nicht einfach um Anpassung geht, wurde ihr kurz nach der Hochzeit klar. Damals zog die junge Familie kurzzeitig in eine jüdische Stadt. Drei Monate habe sie darum gekämpft, ihren Sohn im nächsten Kindergarten unterzubringen. «Aber wieso? Wir sind hier jüdisch», hatte man ihr geantwortet. Als sie sich endlich durchgesetzt hatte, merkte sie, wie unglücklich ihr Sohn war, als der ein- zige Beduine. Sie zogen nach Lakiya zurück. Die Fragen ihrer Kinder blieben.

«Wieso haben wir sowas nicht?», löchern sie Huda, wenn sie mal das Einkaufszentrum in der Wüstenmetropole Beer Scheva besuchen. Sportkurse, Fördereinrichtungen, Spielplätze – selbst die anerkannten Ortschaften werden von der Regierung aussen vor gelassen, was soziale und praktische Infrastruktur angeht.

Am deutlichsten wird die Kluft in der Stadt Ra- hat, der mit rund 70 000 Einwohner:innen grössten Beduinen-Siedlung, nur eine halbe Stunde von Beer Scheva entfernt. Was in Lakiya idyllisch erscheint – die ausfransenden Ränder, an denen Verschlag und Kamel auf Haus und Jeep, die Armut der Abgehängten auf den Wohlstand der Wenigen trifft: Hier wirkt es wie eine postapokalyptische Filmkulisse.
Nun, nach dem Winterregen, heben sich die Täler in saftigem Grün vom Wüstenhimmel ab. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man ein weidendes Pferd in der Böschung – und dann den Müll, durch den es stakst. Haushaltsmüll, Sperrmüll und absurde Mengen von Bauschutt. Letzterer erklärt sich schnell bei einer Fahrt durch die Stadt: An jeder Ecke wird ein neues Wohnhaus hochgezogen.

Rahat besteht aus 33 durchnummerierten Vierteln. Das Gold der Kuppeln einer nagelneuen Moschee gleisst über brutalistisch-bröckelnde Rondells. Futuristische Laternen beugen sich über Strassen, die noch asphaltiert werden müssen. Junge Männer kauern vor Wellblech-Verschlägen und rauchen. Ab und an verirrt sich eine Schafherde im Stadtzentrum. Es gibt einen bunten Markt, aber nur eine Handvoll Restaurants. Und auch die sind neu: Ausser Haus essen bedeutet, dass es daheim nicht schmeckt. Oben in der Neustadt sitzt eine Frau auf der frisch-zementierten Terrasse und schnibbelt Gemüse. Die silberne Delfin-Skulptur über dem Eingangstor aus hellem Jerusalem-Kalk habe ihr Mann ausgesucht. Als sie das Grundstück planten, hätten sie nur daran gedacht, endlich für jedes Kind ein Zimmer zu haben, seufzt die Frau mit einem Lächeln: «Wir waren dumm, wir haben ganz vergessen, Platz für einen Garten zu lassen.» Doch statt wie früher die Nachbarsfrauen zum Plaudern sind da bisher sowieso nur hohläugige Gebäude und Kabelboxen.

«In die Neustadt», erklärt Hiba al-Huzeil ein wenig später in ihrem Büro, «ziehen junge Familien, die es modern und anonym mögen.» Dort entstehe gerade eine neue Art von Beduin:innen-Kultur. Nicht schlechter, anders eben. Hiba selbst lebt im ältesten Viertel von Rahat, gleich am Stadteingang. Immerhin ist sie eine Huzeil, gehört zum ältesten Klan von Rahat, und steht damit in der Stammeshierarchie ganz oben. Es werde sehr darauf achtgegeben, dass das Land in der Familie bleibe, sagt sie. Dass sich die Klans nicht mischen. Überhaupt habe jede einzelne der vielen Grossfamilien andere Werte und Sitten. Man kleide sich anders und nutze andere Begriffe, manchmal sogar einen ganz eigenen Dialekt, der immer noch auf die ursprüngliche Herkunft aus Saudiarabien, Anatolien oder den Sinai verweist. Allerdings habe sie früher alle Familien gekannt in der Stadt. «Als Kinder haben wir allein draussen ge- spielt», sagt sie: «Es war sorgenfreier.»

Die 34-Jährige trägt eine schwarze Strickmütze, die wie ihr Pulli mit Glitzersteinchen übersät ist. Sie organisiert im Gemeindezentrum der Stadt Kurse für Mädchen und Frauen: Es geht um Zugang zu Bildung, Eintritt in die Arbeitswelt, gewaltfreie Kommunikation in der Familie. Sie ist im achten Monat schwanger, aber das ist nicht der Grund, wieso sie aktuell von ihren Mitarbeiter:innen mit Samthandschuhen angefasst wird. «Wie macht sich Youssef?», fragt ihre Assistentin. «Er ist tapfer», sagt Hiba und zeigt ein Zeitungsbild, auf dem ihr 7-Jähriger angeschlossen an Schläuche im Krankenhausbett liegt. Er hält eine goldene Patrone in die Linse. Die Familie war gerade beim Einkaufen, als die Schiesserei losging. Sie stürmten ins Auto zurück, und mitten auf der Hauptstrasse passierte es dann. Eine Kugel schlug durchs Fenster und verpasste knapp Youssefs Halsschlagader.

Eine Fehde zwischen beduinischen Klans, hiess es später. Die Angreifenden kamen aus dem Norden Israels und kannten sich nicht aus in Rahat, sagt Hiba. Ihre Familie sei einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. «Die arabischen Gemeinden in Israel erleben in den letzten Jahren einen Anstieg der Gewalt, der hauptsächlich auf das organisierte Verbrechen zurückzuführen ist», meldete eine Zeitung dazu. «Arabische Israelis geben der Polizei die Schuld, die ihrer Meinung nach nichts unternimmt und Familienfehden, mafiöse Revierkämpfe und häusliche Gewalt weitgehend ignoriert.» Der distanzierte Ton sagt alles. Jüdische Israelis meiden Orte wie Rahat, wenn sie nicht gerade nach günstigen Zahnärzt:innen suchen.

Hiba musste nie um ihre Rechte kämpfen. Als Jugendliche spielte sie im Verein Fussball. Ihre Hoch- zeit mit 18 Jahren geschah aus Liebe, sagt sie. Ihren Mann hatte sie im Psychologiestudium kennenge- lernt. Ihr Bruder wiederum ist mit der Tochter einer
Schweizerin verheiratet, die ausserhalb Rahats mit ihrem Mann in einer Art Alpen-Chalet die höflichsten Schafe des Negevs züchtet: «Die warten sogar fürs Futter in der Schlange.»

Durch ihre Arbeit wisse sie natürlich, dass es auch andere Familien gibt, sagt Hiba. Dass junge Frauen immer noch innerhalb des Klans zwangsverheiratet werden, ja, am liebsten innerhalb der Kernfamilie. Ein Grund, wieso es in Rahat drei Schulen für Kinder mit Erbdefekten gibt. Dass lange nicht alle Eltern es gern sehen, wenn ihre Töchter allein auf der Strasse sind, selbst wenn sie nur fürs Gemeindezentrum einer alten Frau aus der Nachbarschaft helfen. «Gerade sprechen die Mädchen noch vom Studium, dann geben sie dir eine Hochzeitseinladung.» Das bringe sie um, sagt Hiba.

Auf der anderen Seite gebe es immer mehr junge Männer, die sich eine Frau wünschen, die studiert hat, ihren Teil zum Einkommen beiträgt, zum Status der Familie. Weil Jobs rar sind in Rahat, wagten sich immer mehr Mädchen in die Naturwissenschaften oder Ingenieursberufe. Schliesslich ist das jüdische Beer Sheva nebenan ein Hightech-Hub. «Wenn heute ein Mann eine Zweitfrau will, dann lässt sich die erste eben scheiden», sagt Hiba. Früher sei es tabu gewesen, über häusliche Gewalt zu sprechen, heute kennen die Frauen ihre Rechte. Seit ein paar Jahren gebe es sogar ein Gesetz, dass die Erstfrau einen finanziellen Ausgleich verlangen kann, wenn ihr Mann nochmal heiraten will. Sie merke den jun- gen Frauen ein neues Selbstbewusstsein an, sagt Hiba: «Sie wissen sich auszudrücken, verhehlen ihre Erfolge nicht.» Oben in der Neustadt sehe man sie nun sogar auf der Strasse joggen.

Umso mehr ärgert es sie, dass die israelischen Me- dien Rahat stets von der düstersten Seite zeigten. Fernsehkameras auf vernachlässigte Kinder oder den alten Scheich mit vier Frauen richten, anstatt Ärzt:innen oder Rechtsanwält:innen zu interviewen. Auf den Stall und die Zeltplane zoomen, anstatt das neue Fitnessstudio für Frauen zu fotografieren. Oder das Schwimmbad. Bevor das eröffnet wurde, mussten sie mit den Kindern in die jüdischen Orte und waren dort nicht immer willkommen. Hiba bleibt verhalten, wenn sie darüber spricht. Sie wolle Schranken abbauen, nicht verhärten. Deswegen la- den sie über das Gemeindezentrum auch regelmässig jüdische Jugendgruppen ein.

Bis 2005 war Rahat nicht einmal ans israelische Busnetz angebunden. Es gab keine eigene Bankfiliale. Von einer Zweigstelle der Sozialversicherung nicht zu reden. «Wahrscheinlich dachten sie: Ach, die Beduinen haben doch ihre Kamele!», sagt Elham Elkamalat und rollt die Augen über dem blauen Kajal. Sie selbst hatte jedenfalls kein Kamel, als sie mit 18 Jahren an ihren Cousin in Rahat verheiratet wurde. Zwar kannte sie die Stadt von Verwandtschaftsbesuchen, aber der Umzug war doch ein Kulturschock. Aufgewachsen ist die Fünfzigjährige in einer kleinen beduinischen Community in der Stadt Ramle bei Tel Aviv.

Sie ist noch ein wenig aufgedreht, gerade hat sie eine jüdische Reisegruppe durch Rahat geführt. Letzte Station ist immer ihre Freundin Jmalat, die in ihrem kleinen Häuschen eine Gaststube eingerichtet hat, und erst mit Hummus, Hühnernierchen, Kebab und Auberginen vom Grill aufwartet, und schliesslich mit ihren selbst gemischten Hautcrèmes. Dazu erzählt sie der Gruppe, wie ihr Kleinunternehmen ihren Status in der Gesellschaft, aber vor allem auch in den Augen ihres Mannes aufgewertet hat. Der sitzt daneben und nickt schüchtern.

Reiseleiterin Elham hat es sich zur Aufgabe gemacht, solche Geschichten in Rahat zu finden. Als sie 2006 die ersten mutigen Tourist:innen empfing, war sie noch selbst die Story. Schnell begriff sie: Die Leute wollen kein Museum – das es in Rahat sowieso nicht gibt. Sie wollen traditionelles Essen und natürlich den Shouk besuchen. Und sie sind neugierig: Hat dein Mann mehr als eine Frau? Wie ist es, eine schwarze Beduinin zu sein?

Elham zählt sich zur Minderheit der Minderheit, den «Afro-Beduin:innen». Seitdem ihre Schwester ein DNA-Test-Kit aus den USA geordert hat vermuten sie, dass ihre Ahn:innen aus dem Sudan stammen. Dass es nicht mal eine mündliche Ge- schichte gibt, auf die sich die dunkelhäutigen Beduin:innen berufen können, liegt daran, dass sie kein eigener Klan sind, erklärt Elham. «Wir wurden immer als Leibeigene der weissen Klans gesehen.» Vermutlich wurden ihre Vorfahr:innen von weitreisenden Händlern in Sansibar eingekauft. Selbst heute noch werden die Afro-Beduin:innen in Rahat als «el-Abd» bezeichnet, als «Sklaven». In den Vierteln der angesehenen Klans haben sie keinen Platz. Statt- dessen leben sie wie ihre Freundin Jmalat in Rahats einziger «gemischter» und deutlich ärmsten Nachbarschaft.

Dabei hatten ihre Eltern einst die grosse Freiheit gesucht in Rahat, erzählt Elham. Noch bis in die Sechziger hatten sie als Anhängsel ihres weissen Klans in der Nähe des Beduinendorfs Hura gelebt. Doch als sie nach Rahat zogen, war da noch keine Stadt, es gab keine Jobs, schon gar nicht für sie – also zogen sie weiter in den arabischen Vorort Ramle bei Tel Aviv.

Anfangs waren es vor allem Frauengruppen, die sich für Elhams Geschichten interessierten, inzwischen kommen Schulklassen, Soldat:innen, Rent- ner:innen – oder wie gestern: Polizistinnen in Elternzeit. «Der Bildungsbeauftragte hatte die Idee, um die Mütter zu ermutigen, wieder mit der Arbeit anzufangen.» Elham kichert. Sie findet es unheimlich befriedigend, dass sich die israelische Polizei ihre Beduininnen zum Vorbild nimmt.

Und noch mehr: Dass die Regierung selbst sie seit 2016 für einige der Touren bezahlt. Anlässlich der «Ramadan Nights», einer Initiative, um jüdischen Tourist:innen mit Wasserpfeifen, hausgemachtem Essen und viel Folklore die Scheu vor den Beduin:innen zu nehmen. Immerhin ist es dieselbe Regierung, der sie fünf Jahre lang Briefe schrieben, um endlich eigene Bushaltestellen zu bekommen. Damals war Elham Koordinatorin bei einer arabisch-jüdischen Organisation, die sich für die Rechte der Beduin:innen einsetzte. Ohne öffentlichen Nahverkehr waren alte Leute und Frauen völlig isoliert. Einige konnten nicht mal ihre Sozialhilfe oder Rente im jüdischen Beer Sheva abholen. «Wir gingen zu den Medien und ins Parlament und machten jede Menge Lärm», sagt Elham. Schliesslich konnten sie sogar einen Bank- Vorsitzenden überzeugen, endlich eine Filiale in Ra- hat zu eröffnen. «Er hatte Angst vor Überfällen», sagt Elham. Tatsächlich sei die Filiale heute eine mit dem grössten Umsatz im Land. «Rahat ist das Tel Aviv der Beduin:innen», erklärt Elham: «Am Sams- tag kommen die Leute von überall her, um auf dem Markt einzukaufen.»

Sie findet es verrückt, dass Israelis in der Türkei oder in Dubai Urlaub machen, aber nervös werden, wenn sie das Stadtschild von Rahat sehen. «Viele wissen nicht einmal, dass wir Moslems sind!», sagt Elham. Deswegen stehen auch die Moschee und ein Gespräch mit einem Imam auf ihrem Tour-Plan.

So selbstbewusst Elham ihre Reisegruppen durch den Markt führt, dabei mit lauter Stimme auf Hebräisch oder Englisch erzählt, dass Frauen noch bis vor nicht allzu langer Zeit gar nicht allein auf den Markt gehen durften – sie fühlt sich dabei stets beobachtet. Aus diesem Grund schaltet sie das Telefon stumm und nimmt Anrufe nur im Haus an. «Wenn ich in der Öffentlichkeit telefoniere, denken die Leute, es sei ein Liebhaber.»

Bis März 2020 hatte sie ihre Ehe als erfolgreich arrangiert bezeichnet. Immerhin waren vier Kinder daraus hervorgegangen. Dann erreichte die Pandemie die Beduinenstadt. «Mein Vergehen war, dass ich das Haus verliess, um einen Covid-Test zu machen», sagt Elham. Ihr Mann habe sich hintergangen gefühlt, obwohl er selbst Sanitäter ist. Aus Sorge vor Gerede? Sie weiss es bis heute nicht. Als sie nach Hause kam, wurde er so aggressiv, dass Elham die Polizei rief. Nachdem er die Beamten an der Tür abgewimmelt hatte, sprach er nach islamischem Recht die Scheidung aus. Drei Worte genügten.

Nach beduinischer Tradition kehrt die Frau nach der Scheidung zu ihrem eigenen Klan zurück. Aber Elham war 48 Jahre alt, hatte ein eigenes Unter-nehmen, fühlte sich unabhängig. Zudem sorgte sie sich, dass ihr ältester Sohn mit dem helleren Teint seines Vaters in ihrem Klan als Aussenseiter betrachtet würde. «Ich musste meinen Brüdern versprechen, mich selbst zu versorgen und keinen zweiten Ehe- mann zu nehmen», sagt Elham. Vor dem islamischen Gericht einigte sie sich mit ihrem Ex auf das geteilte Sorgerecht.

Weil sie in Rahat keine Wohnung fand, zog sie erstmal nach Beer Sheva. «Ich biete den Vermieter:in- nen hier keine Sicherheit, ohne Mann und Klan.» In der jüdischen Stadt habe sie Nachbarn aus Eritrea oder Russland, und niemanden kümmere es, wann sie abends nach Hause komme.

Doch ihr Mann widerrief die Scheidung, und seit- dem geht es hin und her. Elham will nicht zurück. Aber ohne die Erlaubnis ihres Mannes bekommt sie nicht mal einen Arzttermin für ihre Kinder: «Der Richter glaubt, dass mein Mann das Opfer ist.» Selbst mit ihren alten Freundinnen sei es schwierig geworden in Rahat, sagt Elham. Ihre Männer sehen sie nun als Unglücksbringerin, sorgen sich, dass sie einen schlechten Einfluss habe auf ihre Frauen.

Sie wirkt plötzlich sehr müde. Die Tage haben nie genug Stunden für Elham, die Termine am Isla- mischen Gericht wahrnehmen muss, ihre Touren gibt, nebenbei an der Open University Verwaltung studiert und dabei ständig zwischen Beer Sheva und Rahat pendelt. Weil ihr Ex darauf bestand, besuchen ihre zwei Jüngsten weiterhin die Grundschule in Rahat. Er wolle nicht, dass sie nur Hebräisch sprechen, sagt Elham. Ihr selbst ist es vor allem wichtig, dass die Kinder Englisch lernen. «Englisch war meine Brücke.» Schon als Fünftklässlerin habe sie im Fernsehen entdeckt, dass es da draussen noch andere dunkelhäutige Menschen gibt. Menschen, die als schön und umschwärmt und erfolgreich gelten. Ihre Heldinnen heissen Whitney Houston und Oprah Winfrey. «Sie haben mich ermutigt, ich selbst zu sein. Nicht das Eigentum eines Mannes oder eines Klans.»

Auf Adans Instagram ist es seit den Strassenprotesten vor einem Jahr wieder ruhiger geworden. Im Negev finden keine Demonstrationen mehr statt. Mit der Gewalt der Soldat:innen sei das Momentum der Bewegung verloren gegangen, sagt sie. Student:in- nen fürchten, aus der Uni geschmissen zu werden; Eltern sorgen sich, dass ihre Kinder verletzt werden. Adan will erst mal die Familie in Kanada besuchen. Vorher macht sie noch einen Abstecher ins Westjordanland, will ein paar Original-Palästinatücher kaufen, um sie als Geschenke mitzubringen. Denn noch etwas hat sich geändert, seit #savenegev ein Hashtag ist. «Zuvor sassen wir Beduin:innen im Konflikt zwischen den Stühlen», erklärt sie. Nicht mal die Exil-Palästinenser:innen in ihrem politischen Jugendclub in Kanada hatten sie als echte Gleichgesinnte gesehen: «Du hast doch einen israelischen Ausweis!», sagten sie.

Seit den Protesten folgt ihr Muna al-Kurd auf Instagram und bekundet Solidarität mit den Beduin:innen. Die 18-Jährige wurde im vergangenen Sommer selbst erst zum Sprachrohr der Enteigneten aus Ostjerusalem, dann aller Palästinenser:innen – und hielt die internationalen Medien für Monate in Atem. Auf einem ihrer letzten Posts fährt Adan Ski in den Bergen über Montreal, mit der rotgrünweissen Palästinaflagge in der Hand. Vielleicht hat die alte Mistreiterin ihrer Mutter Recht, und sie wird nicht zurückkommen. Schliesslich möchte Adan bald in Kanada Internationale Politik studieren, um Beduin:innen und anderen marginalisierten Gemeinschaften eine Stimme zu geben. Eins hat sie jetzt schon gezeigt: Die Enkelinnen der vertriebenen Beduin:innen von 1948 sind nicht mehr auf israelische Bushaltestellen angewiesen, um für ihre Rechte einzutreten.

2022 genehmigte die Regierung die Gründung von vier neuen jüdischen Siedlungen im Negev, fünf weitere sind geplant. Grosszügige Ortschaften mit wenig Einwohner:innen und viel Ackerland. Dazu eine Stadt, die 100 000 Ultraorthodoxe beherber- gen soll. Etwa zur gleichen Zeit formierte sich unter Führung eines ultrarechten Aktivisten eine jüdische Bürgerwehr; «zum Schutze des Negev».

via www.annabelle.ch

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