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19. Geschenk: ein hässlicher Weihnachtspullover

 

advent_thumb_2Besucht man zur Weihnachtszeit ein beliebiges Londoner Pub, wird man nicht nur vom üblichen Geruch von verschüttetem Bier begrüßt, sondern auch von allerlei farbenfrohen Wollpullovern mit Rentier-, Glocken-, Tannen- oder Santa-Clause-Motiven. Christmas jumpers trägt man in der Regel ironisch. Wie die Hornbrille sind sie ein Fashion-Statement, das sagt: Ich weiß, dass der Pullover eigentlich uncool ist – darum muss er auch möglichst hässlich sein –, aber gerade weil ich das weiß, ist er cool. Der klassische Hipster-Dreh.

Die Mode der gestrickten Weihnachts-Pullover kommt eigentlich aus Nordamerika, wo sie erstmals in den 1980er-Jahren Verbreitung fand. Im neuen Jahrtausend wurden sie auch in Großbritannien mit viel Enthusiasmus aufgenommen – als Colin Firth im Film Bridget Jones‘s Diary 2001 ein solches Kleidungsstück trug, war es allerdings noch nicht ironisch gebrochen, sondern lediglich etwas peinlich.

Heutzutage bietet jedes britische Modehaus, das etwas auf sich hält, in der Adventszeit ein ganzes Sortiment an bunten Strickwaren. Eine besonders raffinierte Variante findet sich auf der Website funkychristmasjumpers.co.uk: hier gibt es einen „Hipster-Weihnachtspullover“ – mit einem Santa Claus, der eine Hornbrille trägt.

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Weltreporter-Forum 2016 – hier ist das Programm!

 

Das Programm des Weltreporter-Forums 2016 in Raiding/Burgenland steht:

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Wir freuen uns mit unseren internationalen Gästen auf einen spannenden Sommer-Nachmittag auf dem Land. Und auf Sie!

 

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London: Frauenkollektiv gegen Jack the Ripper

 

Das umstrittene Museum über Jack the Ripper, das im vergangenen Herbst heftige Proteste provoziert hatte, steht noch immer. Bei der Eröffnung im Oktober war das Londoner East End in Empörung ausgebrochen: Angekündigt war eine Einrichtung, die die Geschichte der Frauen im Londoner Osten zelebrieren würde; herausgekommen war jedoch eine seltsame Würdigung des berüchtigten Frauenmörders, der 1888 im Quartier Whitechapel Schrecken verbreitete. Im Museum an der Cable Street sind etwa nachgestellte Mordszenen mitsamt Puppen der Opfer zu bewundern, neben denen die Besucher zu einem Selfie eingeladen wurden. Einer der Designer des Museums bezeichnete es damals als „anzüglichen, frauenfeindlichen Müll“.

Jack_the_Ripper_MuseumDie Geschmacklosigkeit stieß auch vielen Anwohnern sauer auf. Wütende Proteste verzögerten die Eröffnung, wiederholt wurden die Scheiben des Museums eingeschlagen, und Petitionen wurden lanciert, um es zu schließen. Dieses Vorhaben ist zwar gescheitert, aber eine Gruppe von Frauen hat sich zu einer anderen Form des Protests entschlossen.

Heute prangt auf der gegenüberliegenden Seite des Museums, unter den Geleisen der Docklands Light Railway, ein großes Plakat mit der Aufschrift: „Feiert die Suffragetten, nicht Serienmörder“, und daneben eine Wegbeschreibung. Als Antwort auf das Ripper-Museum hat ein Frauenkollektiv in einer nahen Kirche eine Ausstellung eröffnet, die der sensationsheischenden Touristenfalle eine seriöse Ehrung der Frauen des East End gegenüberstellen will.

Dass es einiges zu erzählen gibt, ist auf den ersten Blick zu sehen, wenn man das Pop-up Museum in der Kirche St George in the East besucht: Eine Handvoll etwas zu dicht bedruckter Informationstafeln schildert Episoden aus 200 Jahren Lokalgeschichte, die oftmals nationale und internationale Bedeutung erlangten. Der Kampf für sozialen Fortschritt steht im Vordergrund. So liest man etwa von den „Streichholzfrauen“, den Teenagerinnen, die Ende der 1880er-Jahre gegen die Arbeitsbedingungen in ihren Fabriken protestierten – und die meisten ihrer Forderungen durchzusetzen vermochten. Oder von den Suffragetten, die hier einen wichtigen Stützpunkt hatten und bei den Arbeiterinnen im armen Osten große Unterstützung genossen. Auch neuere Kampagnen werden vorgestellt, etwa jene gegen die Gentrifizierungswelle, die derzeit rund um den Olympiapark schwappt.

Den Initiantinnen vom East End Women’s Collective geht es aber auch darum, die Verniedlichung von Gewalt gegen Frauen anzuprangern, wie sie im Ripper-Museum zu sehen ist: „Diese Art von Gewalt ist keine Serie von mysteriösen Ereignissen, die sich vor 130 Jahren ereigneten“, schreiben sie, sondern eine historische wie gegenwärtige Realität für viele Frauen; „sie sollte nicht auf eine Form der Unterhaltung für den Nervenkitzel reduziert werden.“

Das Pop-up-Museum ist ein vorübergehendes Projekt: Das Kollektiv sammelt noch immer Geld für eine permanente Ausstellung – um die Geschiche zu erzählen, die das Ripper-Museum eigentlich hätte erzählen müssen.

 

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Die Einwanderung und der britische Boulevard

 

Zeitunglesen zählt zu den Aufgaben eines Journalisten, aber viel Spaß macht es nicht immer. Für Journalisten in London ist es eine zuweilen frustrierende Routine, weil ein großer Teil der britischen Medien boulvardisierte Leichtkost und/oder groben Unfug präsentiert. Frappant ist das bei der Berichterstattung zur Einwanderung: Hier werden die Leserinnen und Leser in der Regel nicht informiert, sondern in ihren negativen Stereotypen bestärkt, sofern diese vorhanden sind.

Das liegt unter anderem auch daran, dass Migranten in der Presse kaum zu Wort kommen. Die Zeitschrift Migrant Voice untersuchte im letzten Jahr rund 600 Artikel über Migration in verschiedenen Medien – vom linksliberalen Guardian über die BBC bis zur konservativen Times; die Studie kam zum Ergebnis, dass in nur 12 Prozent der Texte Migranten selbst zu Wort kommen.

Am Sonntag vor einer Woche gab es besonders starken Tobak vom Revolverblatt The Sun on Sunday: Eine Kolumnistin schimpfte auf so unmenschliche Weise über Bootsflüchtlinge im Mittelmeer (sie verglich sie unter anderem mit Kakerlaken), dass innert weniger Tage eine Petition mit über 200’000 Unterschriften ihren Rausschmiss forderte. Sogar der Uno-Hochkommissar für Menschenrechte beschwerte sich. Beunruhigend ist: Die Auflage der Sun on Sunday beträgt 1.8 Millionen – sie ist die meistgelesene Sonntagszeitung.

Geistige Erholung vor xenophober Ausfälligkeit gab es dann fernab der Medien, und zwar in einem Theater im Vergnügungsviertel Soho. In intimer Atmosphäre und mit minimaler Bühnenausstattung malt der Theaterautor Anders Lustgarten in seinem Stück „Lampedusa“ ein packendes Bild der Flüchtlingssituation auf der Mittelmeerinsel. Er erzählt von einem Fischer, der tote Migranten aus dem Meer fischt, und parallel dazu von einer jungen Frau in Leeds, die Kleinkredite eintreibt und Vorurteilen gegen Immigranten ausgesetzt ist. Mit nur zwei Monologen schafft Lustgarten, was den Medien hier kaum gelingt: Mit Menschlichkeit über Einwanderung zu sprechen.

Szene aus "Lampedusa"

Szene aus „Lampedusa“

 

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Königliche Hochzeit in Australien ohne Chaser … buhh!

 

Gut, dass ich heute abend eh nicht fernsehen wollte: 4 der 5 Kanäle, die mein TV (siehe unten) empfängt, zeigen nämlich das gleiche: die Hochzeit des Enkels der Königin von Australien! Und zwar komplett spaßfrei! 

Das einzige Programm, in dem ich mir die Hochzeit nachher evtl. doch angeguckt hätte, wäre der „The Chaser“ auf ABC gewesen (korrekt: The Chaser’s war on Everything). Eine klasse Satire-Sendung, die das ganze Theater gewohnt liebevoll mit dem für Australien typischen Sinn für den ein oder anderen zynischen Scherz begleiten wollte. Doch die Jungs vom Chaser wurden gestern zurück gepfiffen, die Sendung gekippt. Und zwar vom BBC und von „Clarence House“ (da wohnen Kate & Will soweit ich weiß künftig). Zu schade, das wäre wenigstens originell gewesen. Eine Chaser-Kostprobe mit Rede-Therapie für Prince Philip sickerte gestern schon durch, heute (noch!) hier auf Youtube VERY Chaser! Für heute bleibt mir, eine der xy Royal-Weddingparties der Nachbarschaft mitzufeiern, natürlich wie auf den Antipoden üblich in Kostüm: Mein Kollege Drew geht als Lady Di, das kann ja auch komisch werden. 

 

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Von wegen Meinungsfreiheit

 

Der Anfang Juli in Beirut verstorbene schiitische Großajatollah Mohammed Hussein Fadlallah hat uns über seinen Tod hinaus noch einige Lehren mit auf den Weg gegeben. Nicht zuletzt, dass es mit der Meinungsfreiheit auch im Westen nicht sehr weit her ist, wenn es um eine berühmte und umstrittene Figur wie Fadlallah geht. Zudem eine, welche die israelische, die amerikanische und die britische Regierung als „Erz-Terroristen“ gebrandmarkt haben.

Die amerikanisch-libanesische CNN-Nahost-Spezialistin Octavia Nasr hat ihr Tweet zu Fadlallahs Tod ihren Job gekostet. Die britische Botschafterin Francis Guy, die den Großajatollah in ihrem diplomatischen Blog aus Beirut würdigte, erhielt eine schroffe Rüge aus London. Ihr Blogeintrag wurde aus dem Netz verbannt. 

Nun kann man den beiden ausgezeichneten Nahostkennern keine Naivität vorwerfen. Vielleicht hätte Nasr nicht gerade einen Tweet mit 140 Zeichen-Begrenzung wählen sollen, um ihren Gefühlen über den Tod einer so komplexen Person wie Fadlallah Ausdruck zu verleihen. Dächte man auch nur einen kurzen Moment nach, könnte man darauf kommen, dass das nicht gut gehen kann. Andererseits wissen wir auch, wie hoch der Druck einiger großer Medienunternehmen auf ihre Mitarbeiter ist, vor allem im TV-Bereich, zu tweeten und zu bloggen. Bei manchen ist es schon Einstellungsvoraussetzung, hört man. Der Wahnsinn in dieser Welt hat viele Gesichter!

Beiden Äußerung zu Fadlallahs Tod ist eines gemein: Sie drückten Respekt für den verstorbenen schiitischen Großajatollah aus, der in vielen Medien weiterhin fälschlich als geistlicher Führer oder ehemaliger geistlicher Führer der Hisbollah beschrieben wird.  Das kann man sicher so nicht sagen, obwohl Fadlallah Sympathien und teilweise offene Unterstützung für einige politische Sichtweisen und Taten der Hisbollah geäußert hat und beide sicherlich den Kampf gegen Israel und eine feindliche Gesinnung gegenüber den USA teilten. Die einzig wirklich gut recherchierte Würdigung Fadlallahs, die ich gelesen habe, stand übrigens im US-Magazin Foreign Policy.

Octovia Nasr musste ihre 20jährige Karriere bei CNN beenden wegen des Satzes: Fadlallah ist einer der Hisbollah-Giganten, die ich sehr respektiere. Darauf erhielt sie sofort wütende Reaktionen, unter anderem vom Simon Wiesenthal Center in den USA, das sie aufforderte, sich sofort bei all jenen Hisbollah-Opfern zu entschuldigen, deren Angehörige ihre Trauer über den Tod des Hisbollah-Giganten nicht teilen könnten. Kurz darauf entschied CNN, dass Nasrs Glaubwürdigkeit kompromittiert war, obwohl sie sich entschuldigt hatte und ihren eigenen Tweet als Fehleinschätzung zurückgezogen hatte. So schnell kann eine Karriere zu Ende gehen. Das besorgniserregende daran ist – ganz egal ob man Octavia Nasrs Einschätzungen zum Nahen Osten teil oder nicht – dass sie für CNN unhaltbar wurde, obwohl ihre Vorgesetzten wussten, dass sie eine durchaus differenzierte Einstellung zu Fadlallah und zur Hisbollah hatte, die sie immerhin 20 Jahre lang über den Sender gebracht hatte.

Der Fall der britischen Botschafterin Francis Guy liegt ganz ähnlich – obwohl sie glücklicherweise nicht gleich aus Beirut abgezogen wurde und ich hoffe, das wird auch so bleiben. Denn sie gehört zu den großen Kennern der Region in der westlichen Botschafterclique hier, sie wohltuend ist ehrlich, aufrichtig und nicht immer so entsetzlich diplomatisch. Guy hatte in ihrem Blog geschrieben, der Tod des Ajatollahs habe den Libanon ärmer gemacht. „Wenn man ihn besuchte, konnte man sicher sein, eine ernsthafte und respektvolle Auseinandersetzung zu erleben und man wusste, dass man sich als bessere Person fühlen würde, wenn man ihn verließ. Das ist für mich der Effekt eines wirklichen religiösen Mannes, dass er einen tiefen Eindruck bei jedem hinterlässt, der ihn trifft, ganz egal welchen Glaubens diese Person ist.“ Ein Sprecher der israelischen Regierung schrie „Skandal“ und das britische Außenministerium wand sich in Schmerzen. Es sei eine persönliche Meinung gewesen, hieß es aus London, die nicht der Regierungseinschätzung entspreche. Während das Foreign Office Fadlallahs progressive Ansichten zu Frauenrechten und dem inter-religiösen Dialog begrüße, gebe es auch tiefe Meinungsverschiedenheiten, vor allem wegen seiner Befürwortung von Attacken gegen Israel. Guy schrieb einen Entschuldigungsblog, in dem sie ihre Äußerungen zu Fadlallah mutiger Weise nicht zurücknahm. Aber, in dem sie sich klar von jeder Form (sic!) des Terrorismus distanzierte und in dem sie bedauerte, dass sie möglicherweise die Gefühle einiger ihrer Leser verletzt habe. Das sei nicht ihre Absicht gewesen.

Was lernen wir daraus? Dass Meinungsfreiheit in unserer westlichen Welt bei manchen Themen ganz engen Grenzen unterworfen ist, selbst, wenn man sehr differenziert ist. Sympathie für einen umstrittenen Menschen, vor allem islamischen Glaubens, den Israel und die USA als Erz-Feind ausgemacht haben – sei das nun berechtigt oder unberechtigt – kann und darf man nicht ungestraft äußern. Solche Einschätzungen werden im Zweifelsfalle nicht einmal diskutiert. Wie im Falle Octavia Nasrs heißt es lieber gleich „Kopf ab“. Ob das der Kultur einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, von der ich weiterhin träume, dient, wage ich zu bezweifeln.  

 

 

 

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Ist ein Arzt an Bord?

 

Das ist jetzt kein Scherz: Hat jemand da draußen irgendwo einen Arzt übrig? In meiner geschätzten Tageszeitung, dem Sydney Morning Herald, hat heute die westaustralische Ärztekammer Kopfgeld auf GPs (General Practitioners = Allgemeinmediziner) ausgesetzt. Das ganze geht so: Ich finde den Arzt, der Arzt arbeitet für mindestens 12 Monate in Westaustralien, und ich bekomme 3000 Dollar, könnte ich grade gut gebrauchen. Und WA ist eine wirklich klasse Gegend!

 

Natürlich bin ich bereit zu teilen, logisch. Denn wir sind hier unten im doktorlosen Kontinent auf jede Hilfe angewiesen, koste es was es wolle. Also, Tipps aus folgenden Ländern immer gern an mich, (faires 50-50 ist Eherensache): Gefragt sind Weißkittel aus Kanada, USA, South Africa, von den Neuseeländischen Inseln ;-), aus Singapur, den Niederlanden, Schweden, Norwegen, Dänemark, Belgien, Irland und dem UK. Warum deutsche Ärtze nicht oben auf der ‚Wanted‘ Liste stehen, ist mir nicht ganz klar, die müssen evtl. noch extra Beweise ihres Könnens einbringen. Aber wer Mediziner aus genannten Regionen kennt: Get them over here! Aber lasst  es mich vorher wissen, danke. 

 

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Pop vor der Haustür

 

Von meinem Bürofenster aus schaue ich auf ein klobiges, legendäres Lehrstück in Popkultur, die Brixton Academy. Woche für Woche pilgern hier ganz unterschiedliche Fans die Straße entlang,um sich für einen Moment in einem Revival des Revivals unkaputtbarer Bands zu verlieren und ewige Hits mitzugrölen, von den Pixies, Blur, Massive Attack. Jeder von ihnen glaubt, er stecke in seiner ganz eigenen, individuellen Maskerade, dabei sehen am Ende doch wieder nur alle aus wie eine Kopie des charismatisch verlebten Sängers. Die Iron-Maiden-Fans kramen ihre speckigen Lieblingskutten hervor und färben sich die ergrauten Matten. Die Morrisey-Jünger richten ihre dünner werdenden Tollen auf und zwängen sich in ihre Kopf-bis-Fuß-Denim-Tracht. Ein gut sortierter Supermarket of style direkt vor meinem Fenster!

In Deutschland belächelt man diese Fans, die einfach nicht loslassen können. Definitiv hängen geblieben. In England dagegen gibt es Respekt, diese Leute seien sich immerhin treu geblieben! Briten sind gern treu, wenn es um Tradition geht. Sie bleiben bei ihrem Stil, ob Fred-Perry-Poloshirt oder Tweed-Jackett, sie lieben ihre Band und ihren Fußballverein. Sie schlüpfen nach der Arbeit in andere Identitäten, wollen aussehen wie Rod Stewart, zwängen sich in Offiziersuniformen aus dem Zweiten Weltkrieg und spielen Szenarien minutiös nach, als seien sie damals selbst dabei gewesen. Reenactement wird dieses seltsam verklärte Hobby genannt, die Sehnsucht der ewigen Wiederholung
und Wiederbelebung.

Wie hervorragend sich diese Wiederholungssehnsucht vor allem in der britischen Popindustrie vermarkten lässt, sehe ich Woche für Woche vor meinemFenster: In der Brixton Academy findet das zehnte Comebackstatt, und die Fans kommen in ihren zu eng gewordenen Sex-Pistols-Kostümen und zahlen für anderthalb Stunden eine Menge Geld.
Popkultur ist die coole Tante, die man nie so recht durchschaut. Jede Saison gelingt es ihr, das Neuste vom Neuen aus der Subkultur ans Licht zu zerren, gestern Grime, heute UK Funky, und die Briten gleichzeitig dazu zu bringen,sie wie ein nationales Kulturerbe zu vergöttern. Schließlich ist Pop tatsächlich eines der wenigen Dinge, die Großbritannien perfekt beherrscht. Als Band zu altern ist wahrscheinlich nirgendwo schöner als hier, wo Anhänger ihre Helden mental und finanziell bis in die Rente auf den Händen tragen. Als bekannt wurde, dass es ein neues Beatles-Album geben werde, befand sich das Land wochenlang am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ein bisschen erinnert diese Unterwürfigkeit an das Verhältnis zur Queen. Auch sie ist für die Briten ein kostspieliges Hobby, das sie Jahr für Jahr finanzieren. Dafür bekommensie die legendäre zugeknöpfte
Etikettenexzentrik, von der ihre Königin seit Regierungsantritt nicht einen Millimeterabgewichenist. Das nennt man Tradition. Zufriedenes Grölen der immer gleichen Blur-Hits vor meinem Bürofenster aber eben auch.

 

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Menschen sind auch nur Hühner

 

Die schönste SMS bekam ich kürzlich von der deutschen Regierung: "EU-Ministerrat erreicht Einigung zur Hühnerwohlfahrt". Weil die Bundesregierung gerade den Vorsitz in der Europäischen Union hat, kam die SMS an die Brüsseler Journalisten natürlich auf Englisch, was der Sache auch kulturell angemessen ist: "Council reached agreement on chicken welfare".

Für "chicken welfare" gibt es bei Google 1,23 Millionen Einträge. Bei "Hühnerwohlfahrt" wird man nur gefragt, ob man nicht in Wirklichkeit "Männerwallfahrt" gemeint habe. Dafür gibt es dann immerhin noch 735 Einträge. Damit wird auch klar, wo der geografische Schwerpunkt der "chicken welfare" liegt. Männerwallfahrten kommen überwiegend in Bayern vor und "chicken welfare" ist ein ganz großes Thema bei den Angelsachsen.

Tierschutz ist in Großbritannien so wichtig, dass einflussreiche Kreise im Londoner Regierungsviertel schon darüber nachdenken, ob sie vielleicht doch Befürworter der Europäischen Verfassung sein sollten. Denn da ist in Artikel III-121 der Tierschutz ausdrücklich als eines der Ziele der EU genannt. Das würde britischen Tierschützern bei ihrem anhaltenden Einsatz für ein Verbot der spanischen Stierkämpfe enorm helfen. Geht allerdings doch nicht, weil in dem Verfassungsentwurf auch soziale Grundrechte (der Menschen) erwähnt werden.

Zwar ist man in London nicht prinzipiell gegen soziale Grundrechte, aber da will man schon etwas mehr Spielraum bei der Auslegung haben. In Brüssel durften wir deshalb schon eindrucksvolle Szenen erleben, als beispielsweise vor dem Ministerratsgebäude einige hundert vorwiegend britische Demonstranten völlig zurecht gegen die unerträglichen Schweinetransporte protestierten. Da stürmte plötzlich ein britischer Minister aus dem Gebäude und lobte das Engagement seiner Landsleute für das Wohl der Tiere. Dann ging er wieder rein und stimmte die EU-Richtlinie gegen Kinderarbeit nieder.

Damit britische Zeitungen weiterhin von Zwölfjährigen ausgetragen werden können. Das ist Tradition, sagte der Minister, und Traditionen sind den Briten heilig. Das wissen sogar die Hühner.

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