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2014: Wie gestern und fast vergessen

 
2004 wütete ein Tsunami in Indonesien. Nirgendwo war die Katastrophe so verheerend wie in der Provinz Aceh. Wie findet man nach so einer Katastrophe wieder ins Leben?
Christina Schott für die tageszeitung, 26.12.2014

Baharuddin will nicht mehr zurückschauen, sondern nach vorne. Und dennoch erzählt der Dorfchef von Lam Teungoh seine Geschichte immer wieder. Als eine Art Selbsttherapie. Und gegen das Vergessen. Denn an sein erstes Leben sind ihm kaum Andenken geblieben. An das vor dem Tsunami.

Der „Kommandant“, wie die Leute in der Gegend den Vorsitzenden der lokalen Fischervereinigung nennen, wirkt dabei wie ein Medienprofi. Im Batikhemd sitzt Baharuddin, 56 Jahre alt, auf einem thronartigen Sessel in seinem Wohnzimmer. Sein Gesicht ist von Sonne und Wind gegerbt. Nach jeder Episode macht er eine Pause.

Ruhig und scheinbar unbewegt beschreibt er bis ins Detail, wie ihm der Tsunami vor zehn Jahren seine gesamte Familie genommen hat. Sein Haus, sein Dorf – schlichtweg alles. Und wie er dennoch weiterlebte mit all dem Schmerz. Wie er Haus und Dorf wiederaufbaute und es am Ende sogar schaffte, eine neue Familie zu gründen.

Auf der rosa und grün gestrichenen Wand in seinem Wohnzimmer hängt in einem Rahmen ein Gedicht. Er hat es selbst verfasst, wenige Wochen nach der Katastrophe:

„Tag für Tag / bade ich in Tränen, wenn ich mich erinnere, / wie schön es mit meinen geliebten Kindern war. / Ich möchte fragen, aber – sie sind nicht mehr da.“

Der 26. Dezember 2004 war ein Sonntag. Die Uhr zeigte zwei Minuten vor acht, als ein Seebeben der Stärke 9,1 etwa 85 Kilometer vor der Nordwestküste Sumatras die Erde erschütterte. Baharuddin arbeitete um diese Zeit schon auf dem Reisfeld. Der schlammige Boden wackelte auf einmal so stark, dass er sich hinlegen musste.

Er erinnert sich, dass die Affen auf den nahen Hügeln kreischten, selbst als das Beben vorbei war. Das war ungewöhnlich. Als er danach sofort zu seiner Familie zurückrannte, um zu sehen, ob zu Hause alles in Ordnung wäre, war die Straße plötzlich voller Menschen, die schrien: „Das Wasser steigt, das Wasser steigt!“

Er konnte noch seine jüngste Tochter schnappen, die gerade einen Monat alt war. Dann sah er die riesige Wasserwand hinter sich, höher als eine Kokospalme. Ganz oben schwamm ein komplettes Haus. Die Welle riss ihm den Säugling aus den Armen, an mehr erinnert er sich nicht mehr. Als er wieder zu Bewusstsein kam, war er auf einem Hügel, um sich herum sah er nur Wasser. Seine elfjährige Tochter Dian Bahari lag schwer verletzt neben ihm und fragte: „Papa, ist das alles ein Traum?“ Es waren ihre letzten Worte.

Niemand aus Baharuddins Familie überlebte die Katastrophe. Seine Frau, seine fünf Kinder, seine Eltern, seine Geschwister, kurz, alle Verwandten kamen in den bis zu 30 Meter hohen Wellen um, die an jenem Morgen über die Küsten des Indischen Ozeans rollten. 230.000 Menschen starben im größten Tsunami unserer Geschichte. Doch am schlimmsten traf es Baharuddins Heimat Aceh. Allein hier verloren mehr als 170.000 Menschen ihr Leben. Eine halbe Million Acehnesen hatte kein Zuhause mehr. In Lam Teungoh, das rund 500 Meter vom Meer entfernt liegt, überlebten nur 93 der 1.500 Bewohner. Darunter lediglich vier Frauen und zehn Kinder. Die meisten, weil sie gerade nicht zu Hause waren.

„Allah wollte uns prüfen“, sagt Baharuddin. Wie viele der streng islamischen Acehnesen glaubt er, dass der Tsunami eine Strafe Gottes war für den Bürgerkrieg, der damals herrschte.

Heute wohnen wieder um die 300 Menschen in dem Fischerdörfchen, viele sind neu hergezogen oder haben eingeheiratet. Die Sonne brennt auf das rosa gestrichene Haus Baharuddins. Es steht an genau der gleichen Stelle wie sein altes. Davor spielt eine Horde kleiner Jungen Fußball. Hundert Meter weiter hat ein moderner Minisupermarkt aufgemacht.

Auf den ersten Blick erinnert nichts an den Tsunami vor zehn Jahren. Es sind kleine Details, die darauf hinweisen: ein verblichener Wegweiser, auf dem ein Männchen vor einer Welle davonläuft, „Jalur Evakuasi“, Fluchtweg, steht darüber; außerdem das Alter der Kinder, die meisten sind jünger als zehn Jahre. Und auch die Bäume sind alle nur so hoch, wie sie eben in einem Jahrzehnt wachsen können.

Vor zehn Jahren gab es keine Warnschilder. Auch kein teures Tsunami-Frühwarnsystem aus Deutschland oder gar Übungen für den Ernstfall, wie sie heute abgehalten werden. Die Menschen hier kannten weder das Wort Tsunami, noch konnten sie die Anzeichen dafür deuten. Als sich das Meer nach dem Beben Hunderte Meter zurückzog, rannten viele noch hinterher, um die im Schlick zappelnden Fische aufzusammeln. Sie hatten keine Chance.

Aus Angst vor dem unberechenbar gewordenen Ozean verbrachten die Überlebenden von Lam Teungoh eine schreckliche Nacht im Regen auf dem Berg. Die meisten waren nackt, der Sog des Meeres hatte ihnen die Kleider vom Leib gerissen. Manche mussten festgebunden werden, um in ihrem Leid nicht völlig durchzudrehen. Danach flüchteten sie in eine Schule im nahen Banda Aceh. Zwar war auch die Provinzhauptstadt mit 220.000 Einwohnern zur Hälfte zerstört, doch der Flughafen war in Betrieb: Hier gab es Lebensmittel, sauberes Wasser, und die Verletzten konnten versorgt werden.

Baharuddin, schon damals Dorfchef, übernahm sofort das Kommando. Er erkannte schnell, dass das Leben im Camp zwar bequemer schien, die Zukunft seiner Leute aber von Regierung und Hilfsorganisationen abhängen würde. „Alles war besser, als tagsüber rumzusitzen und jede Nacht nur das Leiden der anderen anzuhören“, sagt er.

Mit einigen Männern ging er zurück. Sie fingen an, die Toten zu begraben – und sammelten alles, was sich irgendwie eignete, daraus Notunterkünfte zu bauen. Baharuddin zeigt das Foto einer Hütte, die ausschließlich aus leeren Plastikflaschen gebaut ist. Auch den Ausweis seines ältesten Sohnes hat er seit damals wieder. Ein Bergungstrupp fand den verwesenden Leichnam unter einer großen Palme. Der Vater war wochenlang daran vorbeigelaufen, er hatte die Suche nach seinen Angehörigen schon aufgegeben.

Nur von seinem Land – alles, was ihm geblieben war – wollte er nicht lassen. Die Regierung hatte angekündigt, dass ein zwei Kilometer breiter Küstenstreifen nicht wiederbebaut werden sollte. Baharuddin und seine Leute dachten aber nicht daran, sich umsiedeln zu lassen.

Die Bewohner misstrauten der Politik nicht ohne Grund. Seit 1985 hatten sich die Rebellen der Befreiungsbewegung von Aceh, bekannt als GAM, und das indonesische Militär einen blutigen Bürgerkrieg geliefert. Lam Teungoh galt als Hochburg der Rebellen. Obwohl schon zwei Tage nach dem Tsunami ein Waffenstillstand ausgerufen wurde und alles getan wurde, um ausländische Helfer nach Aceh zu lassen: In dem Dorf am Meer kam von der immensen internationalen Hilfswelle, die nach dem Tsunami anrollte, erst einmal nichts an. Militär und ausländische Hilfsorganisationen mieden das Gebiet.

Die Einzigen, die bis nach Lam Teungoh durchdrangen, waren die Aktivisten von Uplink. Was sich als Glück für das Dorf herausstellen sollte. Denn Urban Poor Linkage, wie die Menschenrechtsbewegung ausgeschrieben heißt, war eine damals noch recht junge Organisation, die die Menschen einbeziehen wollte. In Indonesien, wo Hilfe in der Regel von oben verordnet wird, damals noch ein revolutionärer Ansatz.

„Auf einmal standen da ein paar junge Leute in Badelatschen und wollten uns helfen“, schildert Baharuddin die erste Begegnung mit einem Anflug von Schmunzeln. „Sie nahmen uns am Anfang nicht ernst“, bestätigt Yuli Kusworo, der unter den ersten Helfern war, die durch das GAM-Gebiet zur Küste vordrangen. „Tagsüber arbeiteten wir bis zum Umfallen, und nachts hörten wir die Geschichten der Überlebenden an. Nach zwei Wochen war ich der Einzige aus meiner Gruppe, der noch hier war“, erzählt der 38-jährige Architekt, der damals seine Frau mit einem einmonatigen Kind in Java zurückgelassen hatte. Langsam wuchs das Vertrauen.

Der Dorfvorsteher erkannte, dass die Menschenrechtler eine Chance boten: Mitbestimmung. Gemeinsam mit Uplink organisierte er einen Zusammenschluss von 23 Dörfern in der „verbotenen“ Zweikilometerzone. Dieses Netzwerk konnte der Regierung und Hilfsorganisationen als starker Verhandlungspartner gegenübertreten.

„All die wichtigen Leute kamen und wollten uns überzeugen, dass wir woanders hinziehen sollten“, erzählt er. „Doch ich antwortete, dass die Menschen in ganz Indonesien direkt am Meer leben.“ Und dass es ziemlich unwahrscheinlich sei, dass eine solche Katastrophe zweimal genau die gleiche Stelle treffe, sagt Baharuddin. Auf den Fotos an seiner Wohnzimmerwand schüttelt der Dorfchef – damals noch mit dunklem Schnauzbart – die Hände nationaler und internationaler Prominenz.

„Wir waren das erste Dorf, das schon nach einem Monat zurückkehrte“, sagt Baharuddin und klingt stolz dabei. Nicht zuletzt wegen der entschlossenen Weigerung des Uplink-Netzwerks, sich umsiedeln zu lassen, ließ die Regierung den Plan für die Zweikilometerzone bald fallen.

Ein halbes Jahr nach dem Tsunami, als andere Hilfsorganisationen erst über die Planungen für den Wiederaufbau nachdachten, begannen die Menschen, mit Unterstützung von Uplink bereits die ersten von bald 3.500 Häusern in ganz Aceh zu errichten. Das Geld dafür kam von Misereor: mehr als 15 Millionen Euro. Es war eines der größten Projekte, das jemals in Indonesien von einer Nichtregierungsorganisation verwirklicht wurde.

Heute führen neu asphaltierte Straßen von Banda Aceh bis zu der Landzunge von Lam Teungoh. Die frisch gepflanzten Reisfelder leuchten tiefgrün. Bunt gestrichene Boote schaukeln in der Uferzone. Nur aus der Vogelperspektive sind die Spuren des Tsunamis in der einst klaren Küstenlinie zu erkennen: Lagunen und Buchten durchbrechen die Geometrie von Straßen und Reisfeldern. Wie ein zerfranster Flickenteppich.

Während sich in anderen Wiederaufbauprojekten die Fertigbauten oft nur durch die verblichenen Logos der jeweiligen Hilfsorganisationen unterscheiden, sind die Dörfer hier in der Gegend individuell gestaltet. Die Bewohner durften zwischen verschiedenen Haustypen wählen und sie umgestalten, wenn sie das Geld dafür hatten. Nicht wenige werden bereits als Ferienhäuser vermietet.

Der Küstenstreifen ist zum Ausflugsziel geworden, vor allem für Städter, die der Hektik des nahen Banda Aceh entfliehen wollen. Im nahen Ulee Lheue tummeln sich am Wochenende wieder Touristen am Strand oder sitzen in den Kaffeehäusern, wo der berühmte Aceh-Kaffee traditionell in hohem Schwung durch lange Beutelsiebe gefiltert wird – „den Kaffee ziehen“, nennen das die Einheimischen.

Die große Moschee an der Hauptkreuzung ist das einzige Gebäude in dem Hafenort, das den Wassermassen vor zehn Jahren standhalten konnte. Nur hundert Meter weiter erinnert ein Massengrab daran, dass der Tsunami hier fast alles Leben ausgelöscht hatte. Unter der gewellten Grasdecke liegen 14.800 Tote, die meisten konnten nie identifiziert werden.

Ein kleines Schild im Schatten eines Tamarindenbaumes zeigt, wo die Kinder begraben wurden. Genau hier verlief früher die unsichtbare rote Linie des Bürgerkriegs, auch sie ist Geschichte. Nach intensiver Vermittlung des ehemaligen finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari unterschrieben die Kriegsparteien am 15. August 2004 ein Friedensabkommen, das Aceh regionale Autonomie zugestand. Die GAM gab die Waffen ab und formierte sich zur Partei um.

Die Menschen in Aceh sind tiefreligiös. Sie empfanden den Tsunami als Strafe Gottes für den Bürgerkrieg. Die Provinz ist heute die einzige in Indonesien, in der die Scharia gilt. Die Religionspolizei wacht über die Sittsamkeit in den Cafés von Banda Aceh oder am Strand von Ulee Lheue. Schilder in großen Lettern verbieten intime Zweisamkeit. Auf Alkoholgenuss, Glücksspiel und unehelichen Sex stehen Stockhiebe, seit September auch auf homosexuelle Handlungen. Die Strafe wird nach dem Freitagsgebet öffentlich vor der Moschee vollstreckt.

Zwar genehmigte die säkulare Regierung in Jakarta schon seit 1999 einzelne Schariaverordnungen. Aber bis 2004 wurden sie kaum durchgesetzt. Das änderte sich nach der Katastrophe. Außerdem brachte der Helferstrom viele westliche Einflüsse in die zuvor isolierte Provinz, etwa Biertrinken oder uneheliche Liebesbeziehungen. Das gab dem islamischen Gesetz Auftrieb.

Kaum ein Acehnese würde wagen, die Scharia zu kritisieren. Doch heute sind viele über die Anwendung desillusioniert: Es trifft fast ausschließlich kleine Leute, Personen mit Geld und Einfluss haben von der Sittenpolizei nichts zu fürchten. „Wenn schon Scharia, dann muss sie für alle gelten“, schimpft der sonst so beherrschte Baharuddin. Er ist mehr als enttäuscht von den ehemaligen GAM-Leuten, die heute die Politik in Aceh bestimmen. „Wir haben gelitten und sind verprügelt worden für die da oben. Jetzt fahren sie große Autos und haben uns vergessen.“

Seine Hoffnungen liegen nun auf seinem Sohn Ikram. Ein riesiges Foto über dem Sofa zeigt den Fünfjährigen mit drei Cousinen und Cousins. Seine Mutter, Rozma Wardhani, ist eine der vier überlebenden Frauen aus dem Dorf. Auch sie hat ihren Mann verloren, und vier Kinder. Als Baharuddin 2007 um ihre Hand anhielt, sagte sie Ja. Um nicht mehr allein zu sein, um ihr Leid zu vergessen.

„Die Liebe war nicht wichtig. Ich wusste, dass ich mir bei Baharuddin keine Sorgen machen brauchte“, sagt die 40-Jährige, die mit ihren eingefallene Wangen viel älter aussieht. „Ich bin sehr glücklich, dass ich noch einmal einen Sohn bekommen konnte“, fügt sie hinzu, „als Ersatz für die anderen Kinder.“

Ikram spielt vor der Tür Fußball. Er hat weder den Bürgerkrieg noch den Tsunami erlebt. Dafür weiß er, was er bei einem Alarm machen muss: so schnell wie möglich in Richtung Berge rennen. „Wir müssen vorausschauen. Die Vergangenheit ist vorbei, die Toten sind begraben“, sagt sein Vater. Doch um eine bessere Zukunft aufzubauen, müssten die Kinder auch die Geschichte ihrer Eltern kennen. „Eine Naturkatastrophe kann man nicht verhindern. Doch kein Trauma ist schlimmer als das eines Kriegs, in dem sich Brüder gegenseitig umbringen“, sagt Baharuddin. Dann steigt der Kommandant von Lam Teungoh aufs Moped und fährt zum Abendgebet in die Moschee.

 

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2007: Aus der Hütte ins Hochhaus

 

Die Bewohner des Slums Dharavi setzten große Hoffnungen in das Projekt. Britta Peterson hat 2007 über den geplanten Umbau berichtet.

 

 Der größte Slum Asiens liegt im Zentrum der indischen Wirtschaftsmetropole Mumbai. Mit dem Geld privater Investoren soll es in eine moderne Siedlung verwandelt werden – mit kostenlosen Wohnungen für die Armen.

Britta Petersen für Die Zeit 39/2007

Iqbal Chahal hat ein schönes Büro mit Klimaanlage und Marmorfußboden. Marmor! Das ist zu schön, zu schick, zu teuer für einen normalen indischen Landesbeamten. Alle seine Kollegen im Verwaltungsgebäude des Bundesstaats Maharashtra arbeiten in den üblichen heruntergekommenen Räumen, die einem Albtraum Franz Kafkas entsprungen zu sein scheinen: Vergilbte Wände, offen liegende Stromleitungen, verstaubte Aktenstapel drängen bis auf den Flur.

Dabei ist Iqbal Chahal nicht etwa der Chef der Verwaltung und betreut normalerweise Menschen, die von Marmorfußböden nicht einmal träumen können. Aber als Vizepräsident der Slum Rehabilitation Authority arbeitet er derzeit an einem Projekt, bei dem es um Geld geht. Viel Geld. Und in dessen Nähe kann offenbar auch die Behörde eine bella figura machen. Chahal ist für die Sanierung des größten Slums Asiens zuständig: Dharavi in Indiens Wirtschaftsmetropole Mumbai (Bombay). Rund 600.000 Menschen leben dort nach Regierungsangaben auf einem Filetgrundstück von knapp zwei Quadratkilometern mitten in der Stadt.

Direkt gegenüber liegt der Finanzdistrikt Banda Kurla mit seinen Glaspalästen und gleich um die Ecke der völlig überlastete Flughafen der Stadt, der dringend ausgebaut werden muss. Das weckt Begehrlichkeiten, denn Indiens boomende Wirtschaft verlangt derzeit vor allem in den Großstädten überall nach mehr. Mehr Büros, mehr Straßen, mehr Flüge, mehr Gewerbeflächen. Mumbai mit seinen 13 Millionen Einwohnern gehört schon heute zu den Städten mit den höchsten Immobilienpreisen der Welt. Eine Hütte von 20 Quadratmetern in Dharavi, ohne Wasseranschluss und Bad, ist derzeit 22.000 Euro wert.

Die indischen Behörden sehen deshalb in Dharavi die einmalige Chance, aus einem Slum ein Musterbeispiel gelungener Entwicklung zu machen. Mit Hilfe privater Investoren sollen statt der eingeschossigen Hütten siebenstöckige Häuser gebaut werden, in denen die Slumfamilien umsonst eine kleine Wohnung zugewiesen bekommen. Die übrigen Flächen können die Baugesellschaften gewinnbringend verkaufen. “Um einen Slum zu entwickeln, braucht man enorme Summen. Das können wir nicht aus Steuereinnahmen finanzieren. Der Plan ist eine Win-win-Situation für alle”, schwärmt Iqbal Chahal.

Zumindest die privaten Investoren sehen das ähnlich. Mehr als hundert Unternehmen haben sich auf die Ausschreibung mit einem Volumen von zwei Milliarden Euro beworben, unter ihnen die größten indischen Immobilienentwickler DLF, Tata Housing und Reliance Energy, aber auch ausländische Gesellschaften wie Emaar aus Dubai und der US-Riese Tishman Speyer. Ende September soll bekannt gegeben werden, wer den Zuschlag erhält.

Andernorts ist das Projekt heftig umstritten. Im Juli schrieben namhafte Intellektuelle einen offenen Brief an Premierminister Manmohan Singh, in dem sie der Regierung von Maharashtra vorwerfen, den Plan ohne ausreichende Untersuchung und Befragung der Anwohner durchzupeitschen. Zu den Unterzeichnern gehören der indische UN-Diplomat Shashi Tharoor ebenso wie die US-Soziologen Richard Sennett und Saskia Sassen.

Auch Arvind Prajapatti Wadel kann die Begeisterung nicht teilen. “Wenn die Regierungspläne durchkommen, nehme ich mir einen Strick”, sagt der 38-jährige Töpfer. Wadel hat Grund zum Misstrauen. Seine Familie lebt seit drei Generationen in dem Slum, und alle bisherigen Rehabilitierungspläne sind gescheitert. “Schauen Sie sich das an”, sagt er und zeigt auf einen stinkenden offenen Abwasserkanal direkt vor seiner Hütte. “Unsere Kinder werden ständig krank durch den Dreck. Die Regierung schafft es noch nicht einmal, so ein kleines Problem zu beheben. Wie will sie da ganz Dharavi sanieren?”

Sein Geschäft läuft schlecht, obwohl die etwa 2.000 Töpferfamilien in Dharavi zum Arbeiteradel des Bezirks zählen. Ihnen gehört im Gegensatz zu vielen anderen Bewohnern das Land, auf dem sie leben und produzieren. Dennoch wirft die Werkstatt gerade genug ab, um die zehnköpfige Familie satt zu kriegen. Ersparnisse habe er keine, sagt Wadel.

Die Töpfer und viele andere Gewerbetreibende in Dharavi fürchten um ihre Lebensgrundlage, denn in einer Wohnung von 20 Quadratmetern, wie der Rehabilitierungsplan es vorsieht, lässt sich keine Werkstatt betreiben. Wadels Hütte ist allein 100 Quadratmeter groß; seinen Brennofen betreibt er im Hof unter freiem Himmel. Eine gesetzliche Grundlage für seine Enteignung gibt es nicht. Die Töpfer haben deshalb Widerstand im großen Stil angekündigt, und zahlreiche Organisationen unterstützen sie dabei.

“Wir haben die Macht, den Plan zu stoppen”, droht Jockin Arputham, Präsident der National Slum Dwellers Association, mit dem Selbstbewusstsein eines alten Gewerkschaftsfunktionärs. “Dharavi liegt direkt zwischen den wichtigsten Eisenbahnlinien. Wenn wir die blockieren, können wir den gesamten Nahverkehr Mumbais lahmlegen.”

Dharavi ist nur auf den ersten Blick eine chaotische Ansammlung von Wellblechhütten. Es ist zugleich ein Industriegebiet, in dem 50 Prozent der Bewohner ihren Lebensunterhalt verdienen. Zwischen 300 und 400 Millionen Euro werden nach Schätzungen der Regierung jedes Jahr in dem Slum umgesetzt. Zu den wichtigsten Industrien gehören Töpferei, Lederverarbeitung, Recycling und Lebensmittelherstellung – ein Großteil des in Mumbai verkauften Salzgebäcks wird in Dharavis düsteren Hütten frittiert.

Mukesh Mehta hält die Ängste der Anwohner für unbegründet. Der leitende Architekt des Projekts blickt aus seinem Büro in Mumbais Nobelvorort Bandra direkt auf den Indischen Ozean. An der Wand hängt eine Karikatur, die wütende Töpfer zeigt, die den Architekten mit irdenen Wurfgeschossen aus dem Slum vertreiben. “Wir haben tiefes Verständnis für die Situation der Töpfer”, sagt er. Die Gegner des Projekts hätten seine Pläne bewusst verzerrt. “Es gibt hier Nichtregierungsorganisationen, die die Armut der Leute im Ausland geschickt vermarkten. Wir machen aus Dharavi ein Weltklasseviertel. Wer kann dagegen sein, saubere neue Wohnungen zu bekommen?”

Für die Gewerbetreibenden sei gesorgt, betont Mehta und zeigt den Bebauungsplan, in dem verschiedene Industriegebiete ausgewiesen sind, in die die Werkstätten umziehen sollen. “Die Töpfer in Dharavi produzieren noch wie im 19. Jahrhundert. Die Brennöfen werden mit Abfällen angeheizt und sind wahre Dreckschleudern. Wir werden ihnen moderne Öfen zur Verfügung stellen und sogar ein Trainingsinstitut einrichten, das moderne Techniken lehrt.”

Mehtas Problem ist, dass viele Anwohner ihm nicht glauben, weil sie immer schlechte Erfahrungen mit dem Staat gemacht haben. Shankar Poojari etwa wurde bereits in einem früheren Rehabilitierungsplan enteignet. “Ich bin überhaupt nicht zufrieden”, klagt er. Früher hatte seine Werkstatt, die Kondensatoren für Klimaanlagen fertigt, 45 Quadratmeter. Sie wurde von der Regierung abgerissen, obwohl er das Haus sechs Jahre zuvor selbst gekauft hatte. Zugewiesen bekam er danach 20 Quadratmeter. “Damit ich weiterarbeiten konnte, musste ich weitere 20 Quadratmeter dazukaufen.” Kein guter Tausch.

Die von Mehta geschmähten Nichtregierungsorganisationen werfen den Stadtplanern vor, das Projekt im Hauruck-Verfahren ohne gesicherte Datenbasis durchzuziehen. “Laut Regierungsangaben sollen 57.000 Familien umgesiedelt werden”, sagt Simpreet Singh von der National Alliance of People’s Movement, einer Dachorganisation verschiedener sozialer Bewegungen. “Dabei wird davon ausgegangen, dass eine Familie aus fünf Personen besteht. Das heißt, nur 285.000 Menschen bekommen ein Dach über dem Kopf. Der Rest wird obdachlos.” Er sieht deshalb in dem Rehabilitierungsplan vor allem eine Umverteilung von unten nach oben. “In fast allen Bauprojekten ist Korruption im Spiel. Unsere Regierung hat in den letzten Jahren permanent die Armen enteignet, um die Reichen profitieren zu lassen.”

Tatsächlich aber stimmen viele Slumbewohner den Regierungsplänen zu. Die meisten Familien in Dharavi haben mehr als fünf Mitglieder und sind es gewohnt, zusammenzurücken. Wie Vaishali Ashok, die bereits in eine neue Wohnung umgesiedelt wurde. Sie lebt mit ihrer zwölfköpfigen Familie auf 20 Quadratmetern und ist zufrieden, denn ihre frühere Hütte war noch kleiner. “Ich bin glücklich”, sagt sie und zeigt stolz das kleine geflieste Bad und die blitzsaubere Küche. “Wir unterstützen den Regierungsplan, weil er besser ist als alles, was bisher vorgelegt wurde”, sagt Prashant Anthony von der christlichen NGO Proud, die seit 1979 in dem Slum arbeitet. “Es protestieren vor allem diejenigen, denen es besser geht.” Den Kürzeren ziehen aber auch Bewohner, die nach 1995 nach Dharavi gekommen sind und damit keinen gesetzlichen Anspruch auf Rehabilitierung haben.

Iqbal Chahal hat vielleicht recht, wenn er betont, dass 70 Prozent der Bewohner von Dharavi auf seiner Seite sind. Um die Regierungsgegner ein für alle Mal ruhig zu stellen, will Chahal daher eine offizielle Befragung durchführen. “Wir haben eine sehr lebendige Demokratie, da gibt es immer Leute, die etwas auszusetzen haben”, sagt der Bürokrat.

Das Problem ist nur: Den restlichen 30 Prozent wird nichts anderes übrig bleiben, als in einen anderen Slum zu ziehen. Der liegt weit außerhalb der Stadt – und er ist in schlechterem Zustand als die Quartiere, die sich die meisten Bewohner von Dharavi mit ihren eigenen Händen gebaut haben.

 

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2006: In die Seele leuchten

 

Vereinzelt, verloren, in sich versunken – Seelenzustände unserer Zeit. GREGORY CREWDSON, Untitled, 2003-2008, Digital pigment print, image size: 57 x 88 in. ©Gregory Crewdson

Gregory Crewdsons Bilder sind Selbstporträts eines genialen Tiefenpsychologen

Silvia Feist für DIE ZEIT 32/2006

Da lag er dann, das Ohr fest auf den Boden gepresst. Unten im Souterrain hatte der Vater das Büro, ein Psychoanalytiker in Brooklyn, oben lauschte der Sohn. „Ich habe nie etwas gehört“, sagt Gregory Crewdson. Aber seine Fantasie hat diese Momente aufgesogen.

Heute gilt der 43-Jährige als Chronist von Entfremdung und Neurosen, und nur zu gern inszeniert er sie in den Vorstädten des ländlichen Amerika. Heute ist er in Pittsfield, Massachusetts, irgendwo draußen an einer Ausfallstraße, ein schlaglochübersäter Parkplatz mit rostenden Laternen. Pittsfield, das war einmal General Electric, 13000 Arbeitsplätze – übrig sind davon 700. Und so sieht es hier draußen auch aus, die Stadt löst sich auf, die „Sports Bar & Grill“ hat zugemacht, das Kino ebenfalls. Nur Gregory Crewdson ist da, die Haare halblang zerzaust, in karierten Bermudas, er hat seine Großbildkamera mitgebracht und eine Gruppe von Teenagern. Er stellt sie in die Abenddämmerung, ein Mädchen abseits, in der Hocke beim Pinkeln.

Sittengemälde einer untergehenden Gesellschaft?

Sittengemälde einer untergehenden Gesellschaft? So sieht er das nicht, nie wollte er ein Ankläger, ein Dokumentar sein. „Es geht mir weder um eine Zustandsbeschreibung der Vorstadt noch der Kultur oder Politik, meine Bilder sind viel privater.“ Die Psyche des Künstlers im Fokus vielleicht erklärt das, warum sich die unzähligen Menschen in seinen Bildern gespenstisch ähnlich sehen.

Männer, Frauen, Jugendliche, meist Unbekannte, aber auch Oscar-Preisträger wie Philip Seymour Hoffman oder Julianne Moore – sie alle werden zu ferngesteuerten Crewdson-Geschöpfen. Der Fotograf ist dabei nicht auf der Spur des Wesens seiner Porträtierten. Vielmehr porträtieren die Fotografierten unausgelebte Seelenlagen des Fotografen. Der gibt dazu Regieanweisungen.

So sitzen, stehen, liegen und knien sie in seinen Bildern: in sich versunken, vereinzelt, verloren. Erstarrt in einem Moment des Grübelns oder der Scham. Wie herausgerissen aus Träumen oder häufiger aus Albträumen. Eine Frau im Unterrock treibt rücklings in einem überfluteten Wohnzimmer. Eine Tote nach einer Naturkatastrophe? Nach einem Wasserrohrbruch? Oder verraten die leuchtenden Stehlampen im Wasser: Alles nur geträumt? Crewdson weiß es auch nicht. „Ich kann es selbst nicht genau fassen“, sagt er. So wie Edward Hopper, in dessen Tradition er sich sieht, mal gesagt haben soll: „Wenn du es benennen könntest, gäbe es keinen Grund, es zu malen.“

Crewdsons Maßstab: „Es muss mir entsprechen.“ Diese kompromisslose Selbstbezogenheit seiner Inszenierungen unterscheidet ihn von Fotografen wie Cindy Sherman und Jeff Wall, mit denen er oft verglichen wird. Für ihn sind das zwei Wegbereiter, die aus der Fotografie eine Kunstform gemacht haben. Doch ebenso fühlt er sich beeinflusst von den Realisten Walker Evans und William Eggleston oder Lee Friedlander. Auch bei ihm halten sich das Reale und das Imaginäre die Waage. Crewdson ist kein Narziss. Er gehört zu einer Generation von Künstlern, die durch Selbsterkundung die Gefühle unserer Zeit katalysieren und doch darauf bestehen, nur Aussagen über sich selbst zu treffen.

Durch Selbsterkundung die Gefühle unserer Zeit katalysieren

Ausgerechnet sein märchenhaft verrätselter zweiter Bilderzyklus Natural Wonder (1992-97) enthält die konkretesten Spuren dafür, dass Crewdson auch immer von sich erzählt. Neben unerwartet lustigen Bildern, wie dem der ausgestopften Vögel, die um einen Eierkreis sitzen, als hätte der Rotkehlchen-Älteste an den runden Tisch gerufen, gibt es Bilder, in denen so unvermittelt Gewalt ausbricht wie in einem Film von David Lynch. Vor einem Schuppen, der in Flammen zu stehen scheint, liegt etwas, das sich bei genauem Hinsehen als herrenloser Unterschenkel entpuppt, durchwachsen von schlangenartigen Ästen, deren rote Dornen aus der Haut brechen. Das Bein ist eine Nachbildung von Crewdsons eigenem Bein, eine surrealistisch-tiefenpsychologische Selbstbetrachtung, die am Ende seiner ersten Ehe mit einer Kommilitonin entstand, die er beim Studium in Yale kennen gelernt hatte. Seit 1993 unterrichtet Crewdson selbst in Yale. Momentan ruht sein Lehrauftrag jedoch, was ihm ermöglicht, zwei bis drei große Fotoproduktionen im Jahr zu machen. Seit dem Zyklus Dream House (2002) sind die Preise für seine Arbeit in die Höhe geschnellt. Bis zu 75000 Dollar kostet ein Crewdson heute.

„Anfangs habe ich mehr oder weniger umsonst gearbeitet“, sagt er. Inzwischen werden die Projekte von ihm und seinen drei Galerien finanziert. Neben dem Kameramann, einer Managerin für die Produktion, einer für die Koordination der Locations gehören Casting- und Lichtcrew zum Team. Seit Beneath the Roses auch Computergrafiker, die fünf bis sechs Negative kombinieren. Nur so lässt sich bei einem Format von 1,63 x 2,39 Meter noch die gleichmäßig brillante Tiefenschärfe erreichen, die Teil seines Stils geworden ist.

Es ist wie an einem Filmset: Fast dreißig Mitarbeiter und etliche Pittsfielder, die für die zehn bis zwölf geplanten Bilder gecastet wurden, beteiligen sich diesen Sommer an der Ausleuchtung der Crewdson’schen Psyche. Vierzig, fünfzig Locations hatte er im Vorfeld der Produktion geprüft. Die bis ins Detail geplanten Bilder werden von manchen als „Film in einer Einstellung“ bezeichnet, weil sie mit einer Ästhetik, die an Hollywood erinnert, und mit ihrem Facettenreichtum ganze Geschichten evozieren.

„Das Großartige an Fotografien ist, dass sie immer Rätsel bleiben“

Für Crewdson sind seine Bilder jedoch gerade anders als im Kino. „Das Großartige an Fotografien ist, dass sie immer Rätsel bleiben.“ Was geschah davor? Was kommt danach? „Ich bin nur daran interessiert, den Moment einzufrieren und ihn so schön und hintergründig wie möglich zu machen. Deshalb wäre ich auch kein guter Filmregisseur geworden.“

Momentan will er mehr draußen fotografieren. An Bahngleisen und in verlassenen Höfen, an Orten, wo Jugendliche sich treffen. Diese Sujets erwecken ein Gefühl von sommerlichem Abenteuer, von erwachender Sexualität und heimlicher Erwartung. Ist die Hinwendung zum Thema Adoleszenz das erste Zeichen einer Midlife-Crisis? „Ja“, sagt der 43-Jährige, der seit zwei Jahren Vater ist, „ich glaube, meine neuen Bilder haben viel damit zu tun, dass ich ein bestimmtes Alter erreicht habe.“ Wird das verstörende Zwielicht seiner Werke jetzt einem harmlosen Sommerlicht weichen? „Aus meiner Sicht verströmen schon die aktuellen Bilder ein ganz anderes Licht als meine früheren. Ein Künstler kann sich selbst nie ganz entkommen. Man klebt doch immer an sich fest.“

UPDATE: Die ALBERTINA in Wien wird vom 29. Mai bis 8. September 2024 eine Retrospektive zu neun Werkzyklen von Gregory Crewdson zeigen. www.albertina.at

Kein Dinner zu dritt: Fotograf Gregory Crewdson (l.) gibt letzte exakte Regieanweisungen auf dem Foto-Set von “Beneath the Roses” (Courtesy of Crewdson Studio)

 

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Chile nach den Bränden: Alltag zwischen den Ruinen

 

Mittlerweile wirkt Lidia Huilipan ruhig, während sie an einem Tisch unter freiem Himmel sitzt. Sobald sie zu erzählen beginnt, wird erkennbar, dass Schreck und Trauer weiterhin ein fester Bestandteil von ihr sind. Am 2. Februar wurde der gesamte Straßenzug von Huilipan in El Olivar, einem Vorort der Küstenstadt Viña del Mar, Opfer der größten Waldbrände der vergangenen Jahrzehnte in Chile. Mehr als 9000 Häuser brannten innerhalb von wenigen Tagen ab, mehr als 113 Menschen starben. Die Regierung verkündete den Notstand und versprach baldige Hilfe.

Gut einen Monat nach den Bränden sind die meisten Trümmer weggeräumt. Doch die Hügel der Küstenstadt sind weiterhin von abgebrannten Bäumen und Häusern geprägt. Während die anfängliche Hilfe langsam zurückgeht, suchen die Bewohnerinnen und Bewohner nach mittelfristigen Lösungen, und die Politik berät über die Ursachen und Konsequenzen der Katastrophe.

Seitdem das Feuer ihr Haus verschlang, harrt Huilipan in einem Zelt zwischen den Ruinen ihres ehemaligen Wohnzimmers aus. Eine Matratze, ein einfacher Herd, ein Handy und ein paar gebrauchte Klamotten sind alles, was sie noch hat.

Huilipan erinnert sich noch genau, wie es war, als die Waldbrände ihr Viertel erreichten: „Ich war im Bus auf dem Weg nach Hause“, erzählt sie, „plötzlich wurde alles dunkel“. Menschen seien auf den Bus zugerannt, auf der Suche nach Unterschlupf. Die Fenster wurden heiß und zersprangen aufgrund der Hitze, wie Huilipan weiter berichtet: Der Busfahrer wendete und fuhr durch verbrannte Autos und Wolken aus Rauch so weit weg wie möglich.

„Irgendwann waren wir dann am Strand“, sagt Huilipan, „hier warteten wir im Bus bis in die Nacht“. Am Abend dann habe sie der gleiche Busfahrer wieder in ihr Viertel gefahren, manche Häuser hätten noch gebrannt, weit und breit sei keine Feuerwehr zu sehen gewesen. Im Morgengrauen fand Huilipan in ihrem Haus die verbrannten Körper ihres Hundes und der Katze ihrer Nachbarin. Eine Familie aus ihrer Straße starb in den Flammen. Weitere Menschen liegen bis heute wegen der Verbrennungen auf der Intensivstation.

Vor dem Feuer hatte die chilenische Zentralregion eine wochenlange Hitzewelle erlebt. Am 2. Februar fingen die Wälder in der Nähe von Valparaíso und Viña del Mar Feuer. Innerhalb von kürzester Zeit verbreitete sich dieses über knapp 10 000 Hektar Land, in etwa die Fläche der Stadt Mainz. Die Einsatzkräfte waren heillos überfordert und konnten nur noch mit ansehen, wie nach und nach die Brände zuerst den botanischen Garten verschlangen und dann auf die Stadt übersprangen. Laut Behördenangaben war in etwa ein Drittel der Stadt Viña del Mar vom Feuer betroffen.

Viele Menschen haben bis auf die Kleidung, die sie trugen, alles verloren

Zum Glück für das Viertel El Olivar wurde das Gemeinschaftszentrum der Nachbarschaftsvereinigung vom Feuer verschont. Bis heute dient es als Verteilerzentrum für Hilfsgüter, täglich werden hier warme Mahlzeiten ausgegeben. Der Präsident der Nachbarschaftsvereinigung, Felipe Glaser, wirkt erschöpft. Dicke Ringe breiten sich unter seinen Augen aus, er greift zu einer Zigarette und beginnt zu erzählen. „In den ersten Tagen nach dem Feuer bekamen wir viel Hilfe von privater Seite“. Die Helferinnen und Helfer mussten sich um die Aufräumarbeiten kümmern, Essen ausgeben und Kleidung verteilen. Viele Menschen hatten bis auf die Kleidung, die sie trugen, alles verloren.

„Nach Todeszahlen sind wir leider der am meisten betroffene Sektor“, sagt Glaser, „knapp die Hälfte der 113 Toten kommen aus unserem Viertel“. Sein eigenes Haus erlitt nur kleine Schäden. Er selber ist seit dem Feuer rund um die Uhr auf den Beinen. Seinen Job als Eventmanager hat er für den Moment aufgegeben, um sich voll und ganz den Versorgungsarbeiten zu widmen. Wie lange er das noch durchhält? „Ich habe die Erfahrung aus Zeiten der Pandemie, damals war ich eineinhalb Jahre auf den Beinen, irgendwie geht das schon gut“, meint er.

Im Gemeinschaftszentrum steht auch ein leerer Tisch mit dem Logo der Stadtverwaltung. Glaser blickt hin und sagt: „Die staatliche Hilfe kam viel zu spät.“ Erst nach zwei Wochen seien die ersten Hilfspakete von Seiten der Regierung gekommen. Die Stadtverwaltung habe sich lange Zeit nicht blicken lassen. Glaser versucht, dafür Gründe zu finden: „Die Katastrophe war so groß, ich glaube, jede Regierung hätte Zeit gebraucht, um die Hilfe zu organisieren.

Die linksreformistische Regierung unter Gabriel Boric ihrerseits betont derweil, schnell und großzügig reagiert zu haben. Der traditionelle Sommerresidenz des Präsidenten in Viña del Mar wurde in eine Tagesschule für die Sommerferien umgewandelt, damit dort die Kinder ihre Zeit verbringen konnten. Mit mehreren öffentlichen Schulen geschah das Gleiche.

An mehr als 7000 Haushalte wurde eine einmalige Wiederaufbauzahlung von umgerechnet etwa 1000 Euro ausgegeben. In den ersten Siedlungen wurden einfache Holzbaracken als zwischenzeitliche Behausungen aufgebaut. Eine Mietsubvention, soll die Suche nach weiteren Zwischenlösungen fördern. Das Handynetz sowie die Versorgung mit Wasser und Strom wurden größtenteils wieder hergestellt. Die Siedlung El Olivar besteht aus Mehrfamilienhäusern, was einen selbstständigen Wiederaufbau sowie das Aufstellen von Baracken erschwert, wie Glaser erklärt. „Die Regierung hat angekündigt, die nächsten Wochen mit dem Abriss der Ruinen zu beginnen“, erzählt der Präsident der Nachbarschaftsvereinigung weiter, „danach soll irgendwann der Wiederaufbau beginnen“.

Noch ist allerdings der genaue Plan unbekannt. Es heißt einzig, die Wohnungen sollen größer werden, denn mittlerweile haben sich die Standardgrößen für Sozialbauten geändert.

Gleichzeitig schreitet mit der Zeit die politische Aufklärung voran. Zwei Wochen nach den verheerenden Bränden zeigte das chilenische Investigativportal Ciper auf, dass die Stadtverwaltung von Viña del Mar keinen aktualisierten Evakuierungsplan im Fall von Katastrophen hatte, wie dies eigentlich das Gesetz vorsieht. Mit einer vorzeitigen Evakuierung der Wohngebiete hätte in vielen Fällen Leben gerettet werden können, heißt es in dem Bericht weiter.

Die Regierung ihrerseits vermutet zumindest hinter einem Teil der Brände, die sich fast zeitgleich entfachten, Brandstiftung. Man habe genügend Beweise gefunden, um darauf schließen zu können, sagte Regierungssprecherin Camila Vallejo Mitte Februar den Medien. „Es liegt an der Staatsanwaltschaft und später den Gerichten, diesem Verdacht nachzugehen und ihn gegebenenfalls zu bestätigen“, so Vallejo.

Der frühere Bergarbeiter Estay ist aus dem Norden angereist und hilft, wo er kann

Für die Politik liegt der Verdacht nahe, dass Baufirmen hinter der Brandstiftung stecken. Ein privates Unternehmen plant seit Jahren eine Autobahn auf dem Gebiet der verbrannten Wälder zu bauen. Auch deshalb forderte die Bürgermeisterin von Viña del Mar, Macarena Ripamonti, Ende Februar zum wiederholten Mal die baldige Verabschiedung eines Gesetzes, dass die Bebauung von Grundstücken, auf denen ursprünglich Wälder standen verbietet.

Im Gemeinschaftszentrum ist derweil eine Frau mit mehreren Kleidersäcken aufgetaucht. Nelson Estay, ein älterer Mann mit lockigem Haar, nimmt sie entgegen und bereitet sie für die Ausgabe vor. Estay ist ein ehemaliger Bergarbeiter und kommt aus der nördlichen Minenstadt Calama. Er erzählt: „Als ich im Fernsehen von der Katastrophe gehört habe, habe ich sofort meine Sachen gepackt und bin hierher gereist“. Seit drei Wochen hilft er nun überall, wo es nötig ist.

„In Calama wäre ich um diese Uhrzeit bereits in der Kneipe“, sagt der ehemalige Bergarbeiter, „hier macht meine Beschäftigung Sinn“. Er habe davon gehört, dass in einer benachbarten Siedlung, die auf einem besetzten Grundstück liegt, erste Häuser wieder aufgebaut werden. „Ich gehe bald dorthin und werde beim Wiederaufbau helfen“, sagt Estay zum Abschluss. „Ich kehre erst zurück nach Calama, wenn ich mitgeholfen habe, mindestens zwei Häuser aufzubauen.“

Im Straßenzug von Lidia Huilipan gießt derweil ihr Nachbar Luis Castillo die Pflanzen auf einem kleinen Weg, der ihre Häuser mit dem Rest des Viertels verbindet. Wie durch ein Wunder haben die meisten Pflanzen das Feuer überlebt. Er, seine Frau und eine Tochter sind in einer Wohnung für Staatsbeamte im Zentrum der Stadt untergekommen. Doch sie nehmen jeden zweiten Tag den langen Weg in die Vorstadt auf sich, um sich um ihre Hausruine und die Pflanzen dort zu kümmern.

Die Ehefrau von Castillo, Susana Ponce, zeigt auf ihrem Handy Fotos ihres Gartens und der Pflanzen, die sie dort hatte. Vor kurzem kauften sie sich eine größere Wohnung im gleichen Straßenzug, sie begannen zu renovieren und wollten bald umziehen. Doch das Feuer hat alles vernichtet. Eine ihrer Töchter, die seit ein paar Jahren in Duisburg lebt, sammelt nun Spenden, um den Eltern beim Wiederaufbau zu helfen. Doch es wird noch lange dauern, bis sie wieder ein eigenes Zuhause haben.

Auch Lidia Huilipan wird bald in eine Wohnung ziehen. Nach langer Suche hat ihre Familie eine bezahlbare Unterkunft weiter außerhalb gefunden. „Es war sehr schwierig etwas bezahlbares zu finden“, sagt Huilipan etwas grimmig: „Die Eigentümer nutzen unsere Not aus, um Geld zu verdienen“.

Wie sie ihr Leben zukünftig finanzieren wird, weiß Huilipan noch nicht. Vor dem Feuer schneiderte sie von zu Hause aus Kleidungsstücke, doch alle ihre Maschinen und Teile des Ersparten sind verbrannt. „Ich habe davon gehört, dass das Sozialministerium Unterstützungsgelder für den Kauf neuer Maschinen gibt“, sagt Huilipan. In den nächsten Tagen will sie dorthin gehen und nachfragen.

Huilipan hofft, in ein bis zwei Jahren wieder in ihre Straße zurückzuziehen. So lange wird es voraussichtlich dauern, bis zumindest die physischen Schäden der Brände repariert sind.

 

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“Aus heutiger Perspektive war das Zwangsarbeit”

 
 

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Chile versucht einen Neuanfang im Konflikt mit den indigenen Mapuche

 

Fahnen wehen im Wind der drückenden Sommerluft in der Nähe der Ortschaft Victoria. Ein weisser achtkantiger Stern auf blauen Hintergrund markiert die einfachen Holzstände, die mit Laub auf dem Dach die Menschen vor der Sonne schützen. Im Süden Chiles kommen die indigenen Mapuche zusammen, um ein Treffen verschiedener Gemeinschaften abzuhalten, wo politische und kulturelle Themen beraten werden.

Die Gemeinschaften wollen gemeinsam an das Abkommen von Tapihue erinnern. Vor 198 Jahren anerkannte darin der chilenische Staat die Unabhängigkeit der indigenen Gebiete, bevor er 36 Jahre danach begann, die Ländereien zu besetzen und an europäische Siedler – auch aus der Schweiz – zu übergeben. Das Abkommen von Tapihue ist der einzige Vertrag zwischen Chile und den Mapuche als zweier unabhängiger Nationen.

Als erster Präsident seit der militärischen Besetzung anerkannte der im März 2022 ins Amt gekommene Präsident Gabriel Boric das Abkommen. Mit Blick auf das 200-Jahr-Jubiläum kündigte er für März eine Kommission an, die sich endgültig dem Thema der Ländereien widmen und einen konkreten Fahrplan zur Rückgabe an die Mapuche erarbeiten soll. Das Ziel besteht darin, endlich Ruhe in die konfliktreichste Region des Landes zu bringen, in der seit Jahren militante Mapuche gegen Forstunternehmen und Siedler vorgehen. Kann dieses Unterfangen gelingen?

Getreide muss unter Polizeischutz geerntet werden

Es ist Hochsommer im Süden Chiles, Erntemaschinen fahren durch die Felder und mähen das meterhohe Getreide. Der 75-jährige Nachfahre von Schweizer Siedlern Carlos Spichiger hat auf den etwas mehr als hundert Hektaren seiner Familie in der Nähe der Kleinstadt Traiguén vor allem Gerste gesät. Er spielt mit dem Schlüssel seines Autos, während er erzählt, wie er die Ernte vorbereitet: «Ich muss vorher dem Militär und der Polizei Bescheid geben, damit meine Maschinen geschützt werden.»

In letzter Zeit habe es viele Anschläge auf Mähmaschinen und Häuser der Siedler gegeben, so Spichiger. Regelmässig werden Felder angezündet, zum Teil Menschen bedroht, geschlagen oder gar ermordet, und militante Organisationen erheben Steuern auf die Erträge der Siedler. Spichiger sagt: «Ich fahre nicht mehr alleine auf die Felder, das ist viel zu gefährlich.» Viele Siedler seien eingeschüchtert. Diese wollen erst gar nicht mit der Presse sprechen.

Der Konflikt, die Wut der Mapuche und die Angst der Siedler, das sei nicht immer so gewesen, meint Spichiger. Als die ersten Schweizer Siedler vor etwa 150 Jahren kamen, wurden sie vom chilenischen Staat eingeladen, das Land urbar zu machen und Landwirtschaft zu betreiben. Es waren meist arme Familien, deren Abreise aus der Schweiz mit Geldern aus den Gemeinden finanziell unterstützt wurde. Viele siedelten sich zwischen den Hügeln von Traiguén an – einer Stadt, die einst im Zentrum der chilenischen Besiedlungspolitik stand.

Dass sie dabei Land der Mapuche in Anspruch nahmen, war vielen nicht bewusst. Spichiger sagt, der Staat habe ihnen leeres Land und Sicherheit versprochen. Erst mit der Zeit sei ihnen klargeworden, dass hier auch Indigene lebten. Doch das Leben sei lange Zeit friedlich gewesen. In einer Ordnung, in der die Siedler die Mehrheit des Landes in Anspruch nahmen, Schulen aufbauten und Mapuche als Angestellte hatten. Der Wohlstand sei allen zugutegekommen, sagt Spichiger.

Die neue Regierung sucht den Dialog

Diese scheinbar idyllische Ordnung ist mittlerweile in sich zusammengefallen. Nach jahrelangen Protesten spricht Chile seit 2008 offiziell von Vertreibung, massiver Gewalt gegen die Mapuche und illegaler Aneignung indigener Ländereien durch den Staat und private Akteure. Eine staatliche Behörde, die Corporación Nacional de Desarrollo Indígena (Conadi), ist seitdem beauftragt, Land aufzukaufen und an indigene Gemeinschaften zurückzugeben.

Doch Conadi ist viel zu langsam; obwohl die Behörde jährlich umgerechnet knapp 100 Millionen Franken zur Verfügung hat, werden kaum Ländereien gekauft. Im Jahr 2020 verwendete die Behörde gerade einmal 8 Prozent der damals verfügbaren 85 Millionen Franken.

Dies sei auch eine politische Entscheidung, meint Victor Ramos, der erzählt, wie die neue Regierung den Fonds von Conadi aufgestockt und die Behörde zu schnelleren Landkäufen verpflichtet hat. Ramos wurde vom Präsidenten Gabriel Boric beauftragt, die Kommission zur Rückgabe von Ländereien, offiziell Kommission für den Frieden und das gegenseitige Verständnis, zu bilden. Sein Büro liegt direkt im Präsidentenpalast, er selber ist ein langjähriger politischer Weggefährte des Präsidenten.

Die Anerkennung des Vertrags von Tapihue sei ein grosser Schritt, unterstreicht Ramos. Die Anwendung in der heutigen Praxis bedeute aber keineswegs territoriale Unabhängigkeit. Es gebe kein Zurück zu zwei getrennten Staaten, sondern einzig eine gewisse kulturelle, wirtschaftliche und politische Autonomie für die indigenen Gemeinden. Die Anerkennung beziehe sich vielmehr auf eine historische Schuld am Leid der Mapuche, deren Reparation nun in die Praxis umgesetzt werden müsse.

«Wir haben nicht den Anspruch, den Konflikt innerhalb einer Regierungsperiode zu lösen», sagt Ramos. Dies sei der grosse Unterschied zu den Vorgängerregierungen, die versucht hätten, schnelle Lösungen zu erzielen, und dabei gescheitert seien. «Wir wollen die Grundlagen schaffen für einen Dialog, um den Weg zur Lösung des Konflikts zu ebnen.» Die Kommission solle nicht ein weiteres Mal feststellen, welche Probleme herrschten, sondern konkrete Lösungswege vorschlagen.

Dabei sei er auf offene Ohren gestossen: «Überall, wo ich hingehe, herrscht der Wunsch nach Dialog und einer Lösung des Konflikts.» Jedoch ist es für Ramos keineswegs gegeben, dass sich die Konfliktparteien auch an einen Tisch setzen und dort über den ganzen Prozess hinweg bleiben. «Das ist unsere grösste Herausforderung», so schliesst der Beauftragte ab.

Die Mapuche misstrauen dem Staat

Die Aussagen des Präsidialbeauftragten in der Hauptstadt Santiago verblassen in der eine Tagesreise entfernten Konfliktregion. Im Parlament bei Victoria zeigt sich der Lonko Alfredo Caniullan, das Oberhaupt einer Gemeinde in Küstennähe, entschlossen: «Der chilenische Staat hat zu häufig seine eigenen Versprechen gebrochen.» Bevor keine konkreten Schritte erkennbar seien, trete man nicht in Dialog.

Doch das Parlament ist klein. Gerade einmal zehn verschiedene Gemeinden sind gekommen. Eigentlich waren Dutzende von Gemeinschaften angekündigt. Doch kurz vor dem Treffen hatten mehrere Lonkos aufgrund interner Konflikte abgesagt. Ein gefällter Baum versperrt unweit des Treffpunkts den Weg zur benachbarten indigenen Gemeinschaft.

«Wieso sollten wir heute sinnlose Gedenkveranstaltungen über Verträge durchführen?», fragt Andy Marilao. Er ist ein Werkén, ein Sprecher einer indigenen Gemeinschaft, die etwa eine Stunde von Victoria entfernt liegt. Er steht neben einer Sägemaschine. Dort wird das Holz eines Forsts verarbeitet, den seine Gemeinschaft seit über zwanzig Jahren besetzt hält. Das internationale Unternehmen habe die Ländereien illegal erworben, meint Marilao, dessen Familie bis heute die staatlichen Besitztitel des damaligen Indigenen-Reservats aufbewahrt.

Der Staat habe immer mit Repression und Einschüchterungen auf die Forderungen der Mapuche reagiert, meint Marilao. «Ich bin aufgewachsen mit Polizisten, die Tränengasgranaten in mein Haus schossen und auf meine Eltern einprügelten, wie soll ich da Vertrauen in den Staat haben?», fragt er fast rhetorisch.

Für ihn gebe es nur einen Weg, und der sei militant. Nur damit habe man Erfolg. Die Angst der Siedler kann er dabei durchaus verstehen, doch auch diese müssten das Leid der Indigenen anerkennen und akzeptieren, dass sie auf Land lebten, das eigentlich diesen gehöre.

Teufelskreis muss mit Dialog durchbrochen werden

«Aufarbeitung bedeutet, eine tiefe Wunde erneut zu öffnen», meint der Historiker und Mapuche Claudio Alvarado Lincopi. Der ehemalige Berater von Elisa Loncón, der indigenen Abgeordneten, die 2021 den chilenischen Verfassungskonvent präsidierte, sitzt in einem typischen Lokal der Innenstadt von Santiago. Im Hintergrund läuft der Fernseher, der am laufenden Band Raubüberfälle zeigt, auch aus dem Süden Chiles.

«Wir befinden uns in einem Teufelskreis», sagt Lincopi. Radikale Gruppen der Mapuche hätten sich über die letzten Jahre gegen jegliche institutionelle Lösung des Konflikts gestemmt. Der verfassunggebende Prozess, der den Mapuche mehr Autonomie gegeben hätte, wurde von breiten Teilen der Mapuche boykottiert. «Es fehlte an Vertrauen», meint Lincopi. In den Regionen der Indigenen fand der im September 2022 von den Chilenen abgelehnte Verfassungsentwurf eine noch deutlichere Ablehnung als im Rest des Landes.

Die Antwort der Regierung sei derweil enttäuschend. Bisher habe sie vor allem mit Repression auf den Konflikt reagiert. Bis heute herrscht im Gebiet der Mapuche der Ausnahmezustand, das Militär ist für die Sicherheit verantwortlich. Daneben seien alle Einladungen zum Dialog wirkungslos. «Wer will sich an einen Tisch setzen, während das Militär auf der Strasse ist?», fragt Lincopi. Die radikalen Sektoren seien daran nicht interessiert.

Wie soll man nun vorgehen? Die Frage sei schwierig, seit der Verfassungsentwurf abgelehnt wurde, haben rechte Positionen, die verlangen, mit Gewalt gegen militante Sektoren der Mapuche vorzugehen, überhandgenommen. Ein Abzug des Militärs sei derzeit politisch nicht machbar. Dialog sei weiterhin der richtige Weg. «Sofern es die Regierung schafft, alle Akteure zusammenzubringen, wäre das ein grosser Schritt», meint Lincopi.

Es sei wichtig, über sich gegenseitig zugefügtes Leid zu sprechen und dieses anzuerkennen. «Ich stelle mir etwas Ähnliches vor wie beim Friedensprozess in Kolumbien», sagt Lincopi. Dort gingen Kommissionen der beteiligten Parteien zu den Orten, wo Anschläge und Massaker stattgefunden hatten, um sich zu entschuldigen. An solchen Vorgängen sollten sich auch die Staaten beteiligen, die Siedler ins Gebiet geschickt haben. «Sie trifft eine Mitschuld, und für die chilenische Regierung wäre eine solche Unterstützung eine enorme Hilfe», sagt Lincopi.

Zurück beim Schweizer Carlos Spichiger: Er habe kein Problem damit, sein Land irgendwann gegen die passende Bezahlung abzutreten. Seine Kinder seien sowieso schon alle weggezogen, die Gewalt, der Hass und die besseren wirtschaftlichen Aussichten habe sie in die Grossstädte des Landes geführt. Doch das Ganze müsse geordnet ablaufen, ohne Besetzungen und ohne Gewalt. Schliesslich sei der Staat dabei gefragt, seit langem gemachte Versprechen in die Tat umzusetzen.

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