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Adrià macht Pause

Vor ein paar Tagen hat Kataloniens Weltstar Nr. 1, der Koch Ferran Adrià (keinen Einspruch bitte!), eine zweijährige Auszeit angekündigt. 2012 und 2013 macht er Pause vom El Bulli, das noch immer – und schon seit Jahren – als bestes Restaurant der Welt gilt. Dpa begann die entsprechende Meldung mit dem Satz „Für Gourmets aus aller Welt ist es ein Schock“.

Da musste ich an mein erstes Gespräch mit Adrià vom Herbst 2005 zurückdenken, für die Zeit-Serie „Ich habe einen Traum“. Damals sagte Adrià, kaum war die Frage nach seinem Traum gestellt, wie aus der Pistole geschossen: „Ich will mit allem aufhören.“ Ganz so wollte er das dann doch nicht gemeint haben. Aber es war deutlich der Druck zu spüren, der auf ihm lastete – nach mehr als einem Jahrzehnt voller Erfindungen und Umstürze in der Avantgardeküche, die von seinem Restaurant ausgegangen waren und die ihn selbst meist ebenso faszinierten wie seine Gäste. Würde er nun jedes Jahr mindestens eine revolutionäre neue Technik aus dem Hut zaubern müssen?

Ich habe seitdem noch vier oder fünf Mal länger mit ihm zusammengesessen. Ich war zweimal im El Bulli zu Gast und habe außerdem ein El-Bulli-Retromenü im von Adrià betreuten Hotel Hacienda Benazuza gegessen (immer wieder fiel mir dabei der Spruch eines Gastronomie-Autors ein: „Man muss schon eine Menge Kaviar essen, um sich seine Linsen zu verdienen“). Ich bin ein großer Adrià-Fan, auch weil sich der Chef immer noch selbst über seinen phänomenalen Aufstieg wundern konnte. Und gerade als Fan muss ich sagen: Die Auszeit – ein Schock? Im Gegenteil. Ich freue mich, dass Adrià nun tatsächlich die Kraft (und das Geld) gefunden hat, mit seinem Traum ernst zu machen. Es war sicher für seine Gesundheit eine weise Entscheidung.

Aus gegebenem Anlass – ähem – hänge ich hier noch einen Artikel über meinen El-Bulli-Besuch 2008 an, den ich vor eineinhalb Jahren für ein deutsches Gourmetmagazin geschrieben habe. Er sollte Teil eines Dossiers über die sogenannte Molekularküche und deren chemische Abgründe sein, das dann nie zustande kam. Insofern: ein Erstabdruck.

And it goes like this:

Ein Abend im El Bulli beginnt nicht mit dem Blick in die Karte, sondern mit einem Blick hinter die Kulissen. Noch bevor man Platz nimmt, wird man zur Stippvisite in die Küche geleitet, darf einmal die blitzenden Anlagen besehen und dazwischen die herumwieselnden Köche. Ferran Adrià begrüßt jeden Gast und und hält, wenn gewünscht, auch kurz für ein Erinnerungsfoto still. Offener kann ein Empfang kaum sein.

Das Menü, andererseits, könnte kaum geschlossener sein. Der Gast hat keine Wahl (nur auf Unverträglichkeiten darf er hinweisen). Gegessen wird, was der Küchenchef für richtig hält. Man muss sich überraschen lassen. Erst im Nachhinein gibt es ein Faltblatt mit der Speisenfolge – als Gedächtnisstütze zum Mitnehmen. Die freie Entscheidung jedenfalls, dieses oder jenes zu ordern, die tritt man im El Bulli ab. Niemand beschwert sich darüber. Denn hierher kommt man ohnehin nicht, um gepflegt nach eigenem Gutdünken Essen zu gehen. Man will sich ja überraschen lassen. Und Überraschungen bestellt man besser nicht à la carte.

Das Menü hebt allem Anschein nach mit dem klassischen regionalen Dessert an, einer Crema Catalana. Bis die Zunge diesen Eindruck korrigiert: Tatsächlich löffelt man gerade einen Begrüßungs-Cocktail aus Zitrone, Joghurt und Gin. So beginnt ein knapp vierziggängiges Spiel mit Assoziationen, Erwartungen, Wiedererkennungs-Effekten und falschen Fährten, das über mehr als drei Stunden hinweg die Aufmerksamkeit des Gastes fast vollständig in Anspruch nimmt. Zum möglichst „ganzheitlichen“ Genuss all der Kleinigkeiten, die am Tisch anlanden, braucht man bei weitem nicht nur einen erfahrenen Geschmacks- und Geruchssinn. Auch die Augen müssen wachsam sein, das Gehirn bekommt zu tun, die Fingerspitzen sollten sensibel sein und hoffentlich hat man obendrein Humor. Sind so weit alle Elemente zu Hochtouren in der Lage, dann steht einem einzigartigen Abend wenig im Wege.

Dabei gibt es in diesem Jahr gar keine spektakuläre Neuerung zu präsentieren. Die wahrhaft bahnbrechende Zeit des El Bulli liegt bald ein Jahrzehnt zurück. Einige Techniken aus Adriàs „Labor“ haben sich längst popularisiert. Und einen neuen, etwa der „Sferificacíon“ vergleichbaren Clou fährt der Chef diesmal nicht auf. Aber es wäre natürlich völlig falsch, die Originalität des Bulli-Menüs an solche Neuerungen zu ketten. Der Gast im Saal vermag einen komplexen experimentellen Geniestreich ohnehin nur selten direkt zu würdigen. Dass ein Tomatenkeks aus der Snack-Parade des ersten Menü-Teils zum Beispiel ganz ohne Mehl auskommt, mag eine technische oder chemische Innovation bedeuten. Dem Esser nützte diese Information kaum, weshalb die Bedienung sie für sich behält. Der „molekulare“ Aspekt der Küche bleibt damit im Grunde aus dem Essenssaal verbannt.

Für den Gast zählt etwas anderes. Ihm kommt es auf die „Chemie“ und den Tanz der Moleküle eher in einem übertragenen Sinn an. Und in diesem Sinn ist das El Bulli auch im Jahr 2008 eine euphorisierende Erfahrung. Natürlich überzeugt nicht jede Kleinigkeit. Aber das Menü im großen Bogen ergibt doch so etwas wie ein sinnliches Gesamtkunstwerk. Der japanische Einfluss in Adriàs Küche scheint stärker zu werden, vom gefalteten Nori mit Schwarzer-Sesam-Butter über die Shiso-Praline bis hin zur Kombination von Abalone mit Shimenshi-Pilzen. Trotzdem bleiben die charakteristischen Züge der Bulli-Küche bestimmend: Die meisten Gerichte werden kalt gegessen. Entschieden kauen muss man nie. Auch auf Messer wird verzichtet; alles lässt sich entweder bequem mit der Hand oder mit Löffel und Gabel (meist im Kleinformat) verspeisen. Die Trennung zwischen süß und salzig gilt nur noch wenig: Eine gegrillte Erdbeere mit Holzkohlenaroma wird ebenso gereicht wie Kaviar an Kokosmilch; besonders minimalistisch: die „LYO-Sahne“, ein Brocken liophilisierter saurer Sahne, gekrönt von einem Tupfer süßer Sahne. Meeresfrüchte gelten mehr als Fisch: Dafür stehen die Schwertmuschel mit Gelatine aus Dashi und Yuzu ebenso wie die Entenkammmuscheln im Fond aus Foie mit Eiskraut und schwarzen Trüffeln. Geschmähte Fleischstücke gelten mehr als gefeierte: Das sieht man an der Kalbssehne in Estragonbrühe, an der Suppe aus Knochenmark oder an der Speicheldrüse vom Ibérico-Schwein mit Shitake-Pilzen und Siempreviva-Kaktus; besonders gewagt kamen Meeres- und Landgetier bei der Seeanemone mit Austern und Kaninchenhirnen zusammen (siehe oben).

Natürlich bleibt es im Kreuzfeuer der Einfälle, Arrangements und Montagen eine entscheidende Frage, ob das Essen schmeckt und wonach. Und doch büßt die Geschmacksfrage etwas von ihrer üblichen Übermacht ein. Denn irgendwann gelangt man im Zusammenspiel aller Elemente auf eine Art zweite Erfahrungs-Ebene. Auf der ist das Essen nur noch das zentrale Element einer weiterreichenden Erfahrung, die vom Glück des Flüchtigen handelt und vom Versuch, es zu fassen zu kriegen. Mag sein, dass Adrià diese Ebene nicht geradewegs ansteuert; mag sein, dass viele Gäste, je nach Zerstreutheit oder Begleitung, sie gar nicht wahrnehmen. Aber es gibt sie. Sie wird zum Beispiel spürbar in den zahlreichen Blüten (und Blättern) des Menüs. Nie sind sie bloße Dekoration. Mitunter spielen sie sogar die Hauptrolle, etwa in der – nachgebauten – Orchidee aus Passionsfrucht zu Beginn (siehe erstes Bild), später im „Seerosen“-Teller oder in der „Herbstlandschaft“ (siehe links) zum Dessert. So werden sie zu einem Leitmotiv, dessen Doppelsinn sich auch anderswo findet, nicht zuletzt bei jenen besonders flüchtigen Texturen wie Airs und Schäumen, denen die Zunge fast schon im Moment des Erstkontakts nachhaschen muss. Auch das Zarte mancher Zubereitungen, über die man sich nur vorsichtig und unter liebevoller Anleitung beugen mag, unterstützen den Eindruck. Und schließlich das „Geschirr“, das mithilfe von Chrom und Draht den Eindruck von fragilen Materialien wie Papier und Gaze erweckt.

Ein Essen im El Bulli ist ein Essen. Und ist zugleich eine vielstimmige Feier des Flüchtigen. Ist eine existenzielle Metapher, heraufbeschworen von einer unvergleichlichen kulinarischen Inszenierung. Diese zweite Ebene muss es gewesen sein, die Adrià seine Nominierung zur Documenta einbrachte. Sie ist ein Additiv, das auf keiner Liste vermerkt wird und dessen komplexe Struktur noch kaum erforscht ist.

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