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Das Geheimnis des Sawobaums

In Java herrscht der Glaube, dass jeder Mensch sein Leben lang an seine Plazenta gebunden ist. Sie wird als kleines Geschwisterchen des Neugeborenen angesehen, dass direkt nach der Geburt mit diversen Beigaben und guten Wünschen an einer geschützten Stelle begraben werden muss – Mädchen links vor dem Elternhaus, Jungs rechts davor. Den ersten Monat lang muss dort fortwährend ein Licht brennen, um die Seele des Kindes zu schützen. Als unser Sohn geboren wurde, entschieden wir uns für eine – unserer Meinung nach besonders schöne – Stelle neben einer Buddhastatue, die unter einem Sawobaum (eine kiwiähnliche, nach Honig schmeckende Frucht) in unserem Vorgarten steht. Dort wurde also der „kleine Bruder“ unseres Kindes mit alle Ehren und symbolischen Gaben begraben, ein Öllämpchen darüber angezündet.

Als der Kleine zwei Wochen später mit seinen wohl ersten Dreimonatskoliken kämpfte, baten wir die am nächsten wohnende Hebamme, ihn zu massieren, damit er die Blähungen loswürde. Die ältere Dame kam gern, massierte das Baby mit erfahrenen Händen und begutachtete ihn eingehend. „Ein gesundes, kräftiges Kind“, bescheinigte sie uns. Von Dreimonatskoliken wollte sie allerdings nichts wissen. „Das Problem ist die Plazenta: Sie liegt zu weit weg vom Haus – und dann noch unter einem Sawobaum. Ihr müsst sie näher am Eingang begraben“, erklärte sie. „Außerdem müsst Ihr eine Glühbirne anbringen, damit das Licht bei Regen nicht immer ausgeht.“

Wir haben natürlich keine Umbettungsaktion gestartet. Wir haben der Hebamme erklärt, dass wir ein Naturkind wollen und deswegen die Bäume der Terrasse vorziehen. Unsere Weigerung, ihrer Interpretation der Traditionen zu folgen, scheint jedoch in der Stadt bereits die Runde gemacht zu haben, denn ein paar Tage später bekam ich eine SMS von einer entfernten Bekanntschaft aus der Schwangerschaftsgymnastik, von der ich noch nicht einmal weiß, wo sie wohnt: „Hallo Christina, brauchst Du Hilfe? Ich habe gehört, dass Dein Kind rebellisch ist, weil seine Plazenta unter einem Sawobaum liegt…“

Unser Sohn entwickelt sich übrigens trotz gelegentlichen Blähungen und Plazenta unter dem Sawobaum ganz prächtig. 

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