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Daß Hamburger Verhältnisse mich zwanzig Jahre später in Belgrad einholen würden, das hätte ich nicht gedacht.Damals erschienen in Hamburg die ersten Zeitungsberichte über tote Nachbarn, die wochenlang niemand vermißt hat. Ich begann die Berichte zu archivieren unter der Überschrift „Entfremdung im zivilisierten Westen“. Der einsame Tod der unbekannten Menschen berührte mich. Etwas später, als das Fernsehen das Thema entdeckte, berichteten die gleichgültig wirkende Hausbewohner „Ja, wir haben ihn/sie kaum gekannt“.
Nun ist es auch in Belgrad so weit: Mein Jugendfreund Milan lag seit zehn Tagen tot in seiner Wohnung.
Das Haus, in dem wir aufgewachsen sind, liegt in der lebendigen Innenstadt Belgrads. Es wurde 1936 im schönsten Art-Deco-Stil gebaut. Rosamarmortreppen, klare Linien, Glas und Metall, fünf Stockwerke hoch, versteckt unter den Platanenkronen. Leider heute heruntergekommen, wie viele Bauten in Belgrad. Seine alte Schönheit spürt man dennoch.
Das Haus selbst ist geschichtenträchtig. Kaum gebaut, wurde aus dem ehrenwerten Haus ein deutsches Bordell. Ganz berühmt in der Stadt, während der Naziherrschaft. Nach dem Krieg wurde zuerst der Hausbesitzer enteignet, dann die Wohnungen im Bezirksamt verteilt. Ganz Jugoslawien, Menschen aus allen Gegenden des Landes, wohnten plötzlich in dem Prachtbau. Ein bosnischer Arbeiter samt drei Kindern, der Sonntagmittags stets „Hörerwünsche“ durch den Hof hallen ließ. Rahela Ferari, die jüdische Schauspielerin, bei der wir Kinder uns immer verkleiden durften, ein Major aus Mazedonien, der bald der Vorsitzende des Hausrates geworden war. Oma Milena aus Dalmatien saß auf ihrem Schemel vor dem Haus, so wie sie es in ihrem Dorf gewohnt war. Die Straßenbahn donnerte direkt vor ihrer Nase, sie strickte weiter. Es gab keine Kühlschränke, es gab einen „Eiskasten“, in dem riesige Wassermelonen im Sommer gekühlt wurden, sonntags klopften junge Frauen, die unsere Mütter waren, Teppiche im Hof. Es gab Lebensmittelkarten und lange Schlangen vor den Läden.
Das aber, was dieses Haus auszeichnete, waren seine Menschen. Die miteinander lebten, Brot und Butter und ihre Sorgen teilten. Wir waren viele Kinder, spielten, prügelten uns, und waren in diesem Mikrokosmos glücklich. Aus den Kindern sind Erwachsene geworden, die jungen Frauen, die damals ins Haus kamen, sind heute alte, runzelige Damen. Viele neuen Mieter sind hinzugezogen, es gibt einen Optiker und einen Zahnarzt und die Neuen grüßen kaum, wenn man ihnen am Aufzug begegnet.
Vor zwei Wochen mußte ich feststellen, daß nichts mehr ist, wie es einmal war.Im Treppenhaus standen zwei junge Polizisten. Was sie da machen, fragte ich, Ihre Antwort: „Da liegt ein Toter“.Mein Jugendfreund Milan. Die Menschen, die früher Glück und Leid geteilt haben, haben es nicht mal bemerkt. „Er war merkwürdig“, war die Antwort meiner Nachbarn.
Tatsache war, daß Milan in höchster Armut gelebt hat. Gestorben ist er alleine, vor der laufenden Schwarz-Weiß-Glotze, in seinem verrotteten Sessel. Oma Rada, alleinlebend und genauso arm wie er, seine einzige Freundin, bei der er zum Kaffeetrinken kam, war nach eine Woche in Sorge. Und hat die Polizei gerufen.Milan ist auf Staatskosten beerdigt worden.
So schreitet Belgrad mit großen Schritten der Globalisierung entgegen, wie es scheint ist „der zivilisierte Westen“ schon bis zur Haustür vorgedrungen.