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Sie war schon wieder da heute morgen, die junge Frau. Wenn ich im Schlafzimmer die Vorhänge zurückschlage, steht sie da und schaut durch ihren altmodischen Handspiegel zu mir herüber. Ich schaue sie an, streife sie nur kurz mit meinen Blicken. Das ist unser Ritual, jeden Morgen wieder.
Und dann mache ich mich auf den Weg. Der Mensch braucht seine täglichen Routinen, und ich bin wohl einer der wenigen, die sich darauf freuen. Nicht einmal eine Zeitung habe ich abonniert, weil ich mich so an meinen morgendlichen Rundgang gewöhnt habe, auf dem ich alles Notwendige erledige: Aus der Türe raus, dann gerade die zwanzig Meter weiter bis zur Moldau. Da, wo ich wohne, ist sie von einer Promenade eingefasst. Auf der anderen Uferseite liegt der Hradschin, der Berg mit der mächtigen Burganlage, die über der Prager Altstadt thront. Jetzt im Frühling sieht sie ganz anders aus als im Winter unter der Decke aus Pulverschnee oder im Herbst hinter den Nebeln, die über der Moldau wallen. Hier bleibe ich stehen, so wie jeden Tag. Es ist ein Anblick, dessen man nicht satt wird.
Die Niederungen des Alltags liegen zu diesem Zeitpunkt noch zwei Straßenblöcke entfernt. So weit ist der Weg zu meiner Bäckerei, die übrigens ein Segen für das ganze Viertel ist. Weil im restlichen Land die Versorgung mit Gebäck über Supermärkte sichergestellt ist, bilden sich hier vor dem mutmaßlich einzigen Bäcker der Stadt lange Schlangen. Die Leute stehen bis auf die Straße, es passt nur eine Handvoll Kunden gleichzeitig in das Geschäft. Sobald sich die Türe öffnet und jemand heraus auf die Straße tritt, geht der nächste aus der Schlange hinein. Im Laden steht nur eine alte Sperrholztheke, und im Rücken der beiden Verkäuferinnen führen die Bäcker ihr erstaunliches Ballett vor. Sie wirbeln dort in der Backstube, nur von einem halbhohen Regal vom Verkaufsraum abgetrennt, zwischen dem Ofen und den Arbeitsflächen hin und her. Dort formen sie ihre Mohnkuchen, ihre tschechischen Buchteln und die Hefezöpfe, die hier vanocka heißen. Der Duft zieht durch die offene Türe bis fast hinunter an die Moldau, und ich bin fest überzeugt: Das hier bei meinem Bäcker Zoulek ist eine der wenigen Schlangen, in denen sich das Anstellen wirklich lohnt.
Dann geht es wieder zurück nach Hause, die Brötchentüte in der einen, die Zeitungen in der anderen Hand. Links und rechts der Straße erheben sich die Häuser, für die aus aller Welt die Touristen nach Prag kommen: Jugendstil und Gründerzeit in Reinkultur, Erkerchen und Balkone, Giebelmalereien und Fresken in verschwenderischer Fülle. Bei mir oben im vierten Stock ist der Tee inzwischen gezogen. Mein Blick fällt durch die Erkerfenster hinaus, da drüben steht immer noch die Frau mit ihrem Handspiegel. Sie ist eine zeitlose Schönheit, seit 100 Jahren nicht gealtert, eine ein Stein gemeißelte Ode an die Jugend, die den Giebel des Hauses auf der anderen Straßenseite ziert.
Ich stelle mir die Mohnkuchen auf den Schreibtisch. Jetzt kann sie losgehen, die neue Woche hier in Prag.