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In Kairo beginnt der Tag zwei Mal. Das erste Mal, kurz vor Sonnenaufgang, erschallt der Ruf zum muslimischen Morgengebet, dem Salat ul-Fajr, heute um 4.08 Uhr. Er ertönt aus den Lautsprechern der Moscheen und Gebetsstuben, die zu Zehntausenden übers gesamte Stadtgebiet verteilt sind. Diesen Gebetsruf, arabisch Azzan, höre ich nicht, er weckt mich nicht auf. In meinem Stadtteil Dokki wie in vielen anderen Nachbarschaften ab Mittelklasse aufwärts, ist die Moscheedichte nicht so hoch. Anders in ärmeren Vierteln. Hier kann der Gebetsruf kaum ignoriert werden. Oft erschallt er aus billigen Lautsprecheranlagen, übersteuert und krächzend. Nicht selten übertragen besonders eifrige Moscheediener vor dem Azzan eine Viertelstunde lang noch Koranrezitationen, in der Hoffnung, das würde die Leute frommer machen.
Trotzdem bleiben die Reihen der Betenden zu dieser frühen Stunde meistens ziemlich kurz. Nur wenige Unermüdliche oder Frühschichtler schleichen durch die halbdunklen Straßen zur Kiezmoschee um die Ecke. Das zweite Mal beginnt der Tag ein paar Stunden danach, in Kairo normalerweise relativ spät, vielleicht zwischen acht und neun Uhr, auf jeden Fall später als im beflissenen Deutschland. Das hat womöglich mit dem Wetter zu tun, damit, dass die Leute nachts lange wach sind, um möglichst wenig von der frischen Nachtkühle zu verpassen.
Momentan beginnt für mich allerdings erst gegen sechs am Morgen die Phase erholsamen, entspannten Nachtschlafes. Gegen neun endet sie abrupt. Das hat mit zwei typischen Kairo-Phänomenen zu tun. Kairo ist voller Zeitanomalien, verglichen mit mitteleuropäischen Tagesabläufen.
In den Straßen um unseren Wohnblock herum werden gerade lauter neue Häuser gebaut, und das vorzugsweise zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens. Ich liege dann im Bett mit einer Klangkulisse im Ohr, die der einer Maschinenfabrik nicht unähnlich ist. Jemand erzählte mir, dass es für Baufahrzeuge und andere Schwerlaster nur in den sechs Stunden nach Mitternacht erlaubt sei, durchs Kairoer Stadtgebiet zu fahren. Deshalb herrscht genau dann Hochbetrieb auf den Baustellen. Gruben werden ausgebaggert, Betonmischerfahrzeuge lassen unter meinem Fenster den Motor laufen, Zimmerleute hämmern an den Verschalungen. Im Halbschlaf denke ich: Wo ist die Immobilienkrise, wenn man sie wirklich braucht.
Morgens um sechs ist der Spuk vorbei. Stille. Endlich tief und fest schlafen, und zwar bis um neun. Denn dann werden seit Tagen schon in einer Wohnung zwei Etagen unter mir Fliesen so leidenschaftlich von Wänden und Böden geklopft, dass es einem in Mark und Beinen vibriert. Die Abstemmer beginnen um neun mit jenem Geräusch, das für Kairo so typisch ist. Es hat mich in regelmäßigen Abständen durch meine zehn Kairo-Jahre begleitet, in allen vier Häusern, in denen wir bislang wohnten. Während in Deutschland Wohnungen tapeziert oder gestrichen werden, kacheln hier die Leute ihre Räume neu.
Gegen zehn stehe ich auf. Das tue ich seit vielen Jahren so, wenn ich keine Termine habe. Mein Biorhythmus ist vermutlich völlig im Eimer, kaum je resozialisierbar. Ich habe mir das so angewöhnt, weil ich unmöglich schon um Mitternacht ins Bett gehen kann. Nach 24 Uhr ebbt der Straßenlärm ab, meine Nachbarn hören langsam auf, bei offenem Fenster krachige ägyptische Seifenopern zu gucken. Durch die Stadt weht eine kühle Brise. Es ist, als sei dieser 18-Millionen-Moloch plötzlich von all seinen Flüchen befreit (abgesehen von den gelegentlichen Baustellen in der Nachbarschaft). Dann beginnt für mich die beste Phase des Tages. Texte, die ich um diese Zeit schreibe, gehen mir doppelt so schnell von der Hand. Zwischen drei und vier Uhr am Morgen lege ich mich schlafen.
Bis um zehn. Mein Frühstück sind Marmeladen-Baguettes, dazu höre ich meinen Lieblingssender, radioeins vom RBB aus Berlin. Ahmed Normalverbraucher frühstückt meistens Fuul (Bohnenbrei), T'aamiyya (die ägyptischen Falafel), ein paar Brotfladen dazu und vielleicht ein Omelett. All das gibt es an unzähligen Ständen und Imbisswagen. An vielen Straßenecken sind morgens Männer mit Fahrrädern zu sehen, die auf den Gepäckträgern Sandwiches zubereiten und für ein paar Piaster verkaufen. Die Zutaten haben sie und ihre Familie daheim vorbereitet, sowas nennt man Schattenwirtschaft. Ganze Familien leben von solchen informellen Sandwiches. Manchmal gehe ich zum Frühstück ins Costa Café um die Ecke. Dort ist mir vor ein paar Tagen Khaled Nabawy begegnet, einer der prominentesten ägyptischen Schauspielerstars, unter anderem bekannt aus Ridley Scotts Hollywoodstreifen "Kingdom of Heaven".
Um den Fahrradsandwichverkäufer neben unserem Haus bilden sich immer Kundentrauben, er ist offensichtlich sehr beliebt. Aber ich sehe ihn selten, um zehn ist er längst wieder weg. Er begegnet mir immer, wenn ich Korrespondentendienst im ARD-Hörfunkstudio Kairo habe. Ich versuche dann, um 8.30 Uhr im Studio zu sein – was mir nicht immer gelingt. Halbneun, das ist für mich eher ein Paralleluniversum denn eine Tageszeit. Am Anfang, in den ersten Tagen, fühle ich mich morgens, als litte ich unter einem Jetlag. Allerdings gibt es im Studio zwei Dinge, die mich aufmuntern: erstens der Blick vom elften Stock auf die Innenstadt am Nil, die im Morgendunst fast unwirklich aussieht, und zweitens der Morgenkaffee von Fatma, der Haushälterin des Studios.