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Morgens auf dem Planeten Erde (8): Tokio

 

Die Krähen in Tokio sind fette, fliegende Freischärler. Zum Morgenappell versammeln sie sich um fünf auf Stromleitungen und warten auf meinen brennbaren Müll. Sie sitzen auch auf den Beton-Kabelmasten und den zentnerschweren Transformatoren und sind dankbar, dass die Japaner – trotz Erdbeben und Taifune – ihren Kabelsalat immer noch nicht unter der  Erde verlegen. Und so hat die laute Räuberbrut vor meinem Fenster in Shibuya die strategische Oberhand.

Wie viele Boden-Luft-Raketen ich an solchen Mülltagen im Halbschlaf und Wachtraum schon verschossen habe, weiss ich nicht. Zum Beispiel, wenn Nachbar Hatano im Pyjama seinen Müll rausbringt. Dann prasselt ein gnadenloses Krah-Krah-Stakkato durch zwei Kopfpolster auf mein Trommelfell. Ich ziehe die Decke übers Ohr und verpulvere weitere Raketen. Über Nacht sind im Plastiksack von Hatano Flachsen, Fettbolzen und Fischgedärme wie außerirdische Substanzen nach unten gekrochen. Die Sackspitzen sind deshalb so  prall, dass sie in einem meiner Krähenträume schon explodiert sind und unseren Häuserblock in ein schleimiges Inferno verwandelt haben.

Sorgfältig wie alle Nachbarn, rollt auch Hatano den Mittwoch-Müll unter das blaue Krähenabwehr-Nylonnetz der Stadtverwaltung. Kaum ist er wieder im Haus verschwunden, bereiten die Wegelagerer den Angriff vor. Zunächst stapft ein Spähtrupp aus zwei Fußsoldaten um das Netz. Die Luftaufklärung sichert gleichzeitig das Beutegebiet, segelt lautlos wie eine ferngesteuerte Drone im Kreis. Dann folgt der Minenräumdienst, zurrt am Plastiknetz – kurz, testend, dann heftig und ungeduldig. Wieder bleiben Gekreischgeschosse in meinem Trommelfell stecken. Aber diesmal klingt alles wie hämisches Lachen. Ich stehe auf, starte die Kaffemaschine. Frau Noguchi von gegenüber, eine OL – Office Lady – klappert mit hohen Absätzen zum blauen Netz, stellt dort ihren Sack mit Sake-Flaschen  ab. Herr Hatano springt freudig aus dem Haus. „Noguchi-san, sumimasen, sorry, ist nicht heute brennbarer Müll dran?“„Ah, sumimasen,“ sagt sie. Herr Hatano wartet an der Tür, genießt diesen Morgen, wie jedes Mal, wenn sich Frau Noguchi irrt, und deshalb zweimal aus ihrem Haus muss, mit diesem immer zu kurzen Rock. 

 So wie bei vermummten al-Kaida Kommandos ist auch bei meiner Rabenbrut der Rädelsführer schwer auszumachen. Vielleicht der, der als erster schnabuliert? Inzwischen hat der Minenräumdienst das Netz abgezogen. Die Drone kreist weiter. Der Spähtrupp hackt gezielt in die prallen Sackenden. Auf dem Stromkabel wird die Einsatztruppe ungeduldig. Ausgerechnet, als mir das erste Stück Blaubeertoast im Mund zergeht, entfaltet sich unter meinem Fenster das Schleiminferno. Der Spähtrupp springt zurück. Vom Kabel schwingen sich vier  Kampfpiloten, landen neben den auslaufenden Sackecken, rühren ihre Schnäbel wie in fetten Eiterbeulen.  Das ungeschriebene Gesetz zuvorkommender  Nachbarn verlangt, dass derjenige das Schlachtfeld reinigt, der den letzten Müll deponiert, und das bin wieder einmal ich. Ein kräftiger Schluck Kaffee. Ich schnappe den Abfall, den Besen und den Eimer mit Wasser. Tapfer stelle ich mich den Freischärlern. „Da, nehmt das!“ Mein Plastiksack ist gefüllt mit Papierknäueln, fliegt federleicht unter die Vögel. Sie springen nicht einmal zur Seite, wie bei Herrn Hatano oder Frau Noguchi. Sie schimmern wie Seide und ihre Augen zeigen Mitleid: „Armer Kerl, ging wohl gestern nicht so gut mit dem Schreiben!“

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