Wir berichten aus mehr als 160 Ländern –
aktuell, kontinuierlich und mit fundiertem Hintergrundwissen.
Für ein Buchprojekt über die informellen Wohnviertel von Kairo ließ ich mir vor einer Weile im ägyptischen Ministerium für Stadtentwicklung Kairos Zukunft erklären. Man rechnet dort damit, dass in zehn Jahren rund 24 Millionen Menschen in der Megacity wohnen, im Jahr 2050 dann zwischen 32 und 34 Millionen. Das wird ein ziemliches Chaos werden, zumal der interne Kairo-Masterplan, den man mir netterweise kopierte, deutlich mehr Mubarak-Fotos enthielt als konzeptionelle Ansätze gegen die Apokalypse.
Zum Schlamassel, der den schleichenden Tod der Stadt herbeiführt, zählt die Tageszeitung Al-Masry al-Youm den allgegenwärtigen Verkehrskollaps sowie die einzigartige Untätigkeit der Behörden. Ach, wenn sie doch nur untätig wären. Als wir vor ein paar Jahren in unser Viertel zogen, war an der großen Kreuzung unweit unseres Hauses die ägyptische Welt noch in Ordnung. Die Ampeln leuchteten. Niemand schenkte ihnen Beachtung.
Der Verkehr floss zäh, aber stetig. Die Autofahrer einer Richtung fuhren dann los, wenn sie fanden, dass sie lang genug auf den Verkehrstrom aus den anderen Richtungen gewartet hatten. Dieser Pragmatismus ist auf Kairos Straßen üblich, aber den Behörden offensichtlich peinlich. Das ‘unzivilisierte Bild’, wie es gern genannt wird, sollte ein Ende haben. Verkehrspolizisten begannen, den Verkehr manuell zu regeln, während die Ampeln gleichzeitig fröhlich weiter leuchteten, beide meistens asynchron zueinander.
Die Ampeln als Errungenschaft der Moderne wollte man so schnell allerdings nicht aufgeben. Die Behörden installierten große Leuchtanzeigen, auf denen zu sehen ist, wie viele Sekunden es noch dauert, bis die Ampel auf grün bzw. rot schaltet. Die Autofahrer beeindruckte das wenig. Welchen Sinn sollte es auch machen, gebannt den Ampelcountdown zu verfolgen, wenn der Verkehrspolizist dann doch die Fahrbahn sperrt, obwohl endlich Grün kommt.
Was dann geschah, erinnerte mich an die Rechtschreibreform. Jahrelang wurden Regeln aufgestellt und wieder zurückgenommen, bis sich die Leute dachten: Dann schreib ich halt einfach, wie ich es für richtig halte. An meiner Kreuzung bedeutet das: Lethargisch wird losgefahren, wenn sich die Stoßstange des Vordermannes bewegt, den Prinzipien einer unbekannten Macht folgend, deren Ratsschlüsse dem gemeinen Autofahrer verborgen bleiben.
Bald war die Kreuzung nur noch dauerverstopft, und die unbekannte Macht hängte einen riesigen Screen über die Straße, auf dem sie den Autofahrern heilige Verse offenbart. Sie lauten: ‘Geschätzter Verkehrsteilnehmer, der Gurt dient Deiner Sicherheit und der Deiner Mitfahrer.’ Oder: ‘Überfahre nicht die Fahrbahnmarkierung!’ Oder: ‘Die Signalanlage wird mit Kameras elektronisch überwacht.’ Die unbekannte Macht guckt also zu, wenigstens das.
Was die Autofahrer mit diesen Versen anfangen, ist mir ein Rätsel, vielleicht sprechen sie sie laut nach. Zeit genug haben sie im Dauerstau ja. Zwischendurch werden auf dem Screen Werbeclips gezeigt, für Coca-Cola oder für einen der neuen Luxuscompounds am Stadtrand, wo es keinen Verkehrskollaps gibt. Die Kreuzung ähnelt einem Rummelplatz mit Verkehrsinfarkt. Alles blinkt und flimmert: Ampeln, Leuchtanzeigen mit Sekundencountdown, ein Riesenbildschirm.
Literaturtipp: Carsten Otte. Goodbye Auto. Ein Leben ohne Führerschein. München, 2009.