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Einladungen nach Hause bin ich als Reporter gewöhnt, doch nur selten greifen meine Gastgeber nach dem Interview zur Klampfe. Arkadijus Vinokur, Jahrgang 1952, saß an einem Spätsommerabend auf dem Sofa, barfuß, das graue Haar zum Zopf gebunden. Er sang mir im schönsten Litauisch eine Weise. Es ging um die unglückliche Beziehung des Poeten zum Frühling.
Seine geographische Randlage in einem Vorort von Vilnius macht der stolze Spross einer jüdischen Familie mit einer Vielzahl von Talenten wett: Mit seiner Frau hat Vinokur in Litauen überaus populäre Kinderbücher geschrieben. Er hat ein Sudelbuch über den Eros und seine vielfältigen Facetten vorgelegt, das die tiefkatholischen Litauer vor Scham erröten ließ. In der Zeitung Lietuvos Rytas geisselt er die populistischen Kampagnen der Nationalisten und die Intoleranz gegenüber Homosexuellen. Als Berater des Premiers Andrius Kubilius hat der streitbare Kreative unlängst ganz nebenbei den seit Jahren schwelenden Konflikt um die Rückgabe des jüdischen Eigentums gelöst.
Kürzlich traf ich dieses Talent mit den vielen Leben wieder: in Stockholm, wo er nach seiner Ausweisung durch den KGB drei Jahrzehnte als Clown und Dichter überdauert hatte. Noch einmal las er seine Gedichte auf dem Norrmalmstorg. Dort versammelten sich an jedem Montag die Exilanten und ihre Freunde zum friedlichen Protest – vom März 1990 bis zum September 1991. Es waren Kundgebungen der Sympathie. Für die Aufrechten in Estland, Lettland und Litauen. Die in mächtigen Chören von der Zeit des Erwachens und von der Freiheit sangen. Die sich zu einem 600 Kilometer langen Lindwurm aus Menschenleibern formierten – von Tallinn über Riga bis Vilnius. Mein Porträt von Arkadijus Vinokur zum Nachhören beim WDR.