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Pluralismus live

Stellen Sie sich vor: Der Kopf einer radikalen muslimischen Organisation steht auf einer Bühne zusammen mit 99 anderen Bewohnern seiner Heimatstadt – darunter Menschenrechtsaktivisten, Mitglieder der LGBT-Community und eine ehemalige politische Gefangene, die einst als angebliche Kommunistin jahrelang ohne Gerichtsverhandlung eingesperrt wurde. Und dieser selbst erklärte Extremist sagt ins Mikrophon: „Wir sind ein Leib mit hundert Köpfen.“

100 Prozent Yogyakarta

Vor einer Woche noch hätte ich dies für ein eher unrealistisches Szenario gehalten. Das war vor der Premiere von „100% Yogyakarta“, einer Kollaboration des deutschen Theaterregisseur-Trios Rimini Protokoll und dem indonesischen Kollektiv Teater Garasi.

Rimini Protokoll brachten ihr 100-Prozent-Konzept bereits in 26 anderen Städten zur Aufführung, bevor sie auf Einladung des Goethe-Instituts nach Yogyakarta kamen, im Rahmen der Deutschen Saison, die zurzeit in mehreren indonesischen Städten läuft. Teater Garasi war ihr lokaler Co-Regie-Partner und unter anderem verantwortlich für den Castingprozess: Fünf Monate lang befragte das Casting-Team nach dem Schnee-Ball-Prinzip unterschiedlichste Personen – immer bemüht, die Kriterien der lokalen Bevölkerungsstatistik zu erfüllen.

„Du denkst, Statistiken sind langweilig?“ fragte „Herr 1%“, Istato Hudayana, ein Beamter der städtischen Statistikbehörde, bevor er die Bühne an seine Mitbürger übergab, die sich einer nach dem anderen vorstellten – von einem einfachen Rikschafahrer bis zu einem reichen Kunstsammler, von einem kleinen Baby bis zu einer 90-jährigen Oma.

Die wichtigsten Kriterien beim Casting waren Alter, Geschlecht, Religion, Familienzusammensetzung und Wohnort. Als zusätzliche Auswahlfilter dienten Ethnizität, kulturelle und sprachliche Vielfalt, Bildung, Beruf, Einkommen und besondere Fähigkeiten.

Das Ergebnis war nicht nur sehr unterhaltsam, sondern auch tief bewegend: Vermutlich begann fast jeder im Publikum nach einer Weile, sich selbst auf die Bühne zu projizieren, als die Menschen dort anfingen, vor allen Leuten ihre tiefsten Ängste und größten Hoffnungen zu gestehen.

Die gemeinsam geteilte Bühne schien den Teilnehmern plötzlich eine Chance zu bieten, genügend Selbstvertrauen zu sammeln, um für ihre Ideale gerade zu stehen, ohne die anderen wegen ihrer gegensätzlichen Ansichten zu verdammen.

Politiker und Aktivisten kämpfen heute hart, um Pluralismus und Toleranz in ihrer Heimatstadt Yogyakarta zu erhalten, genauso wie in anderen Teilen Indonesiens, einst so gerühmt für seine Vielfalt der Kulturen.

Diese hundert Menschen auf der Bühne haben gezeigt, wie viel Toleranz und gegenseitiger Respekt entstehen kann, indem kontroverse Fragen offen und gemeinsam von den Betroffenen selbst diskutiert werden.

„Ich fühlte mich bestens repräsentiert“, bestätigt ein Zuschauer nach der Show. „Dieser Abend hat meine Sicht auf diese Stadt verändert. Und ich bin sicher, dass der gesamte Prozess die Menschen, die an dem Projekt beteiligt waren, noch viel mehr beeinflusst haben muss.“

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