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Blau durch den Straßenverkehr

Kürzlich stieg ich auf mein altes Rad. Keine leichte Entscheidung, denn sich gemeinsam mit Londons Autofahrern auf einer Ebene im Straßenverkehr zu bewegen ist ein freiwilliger Sturz ins Darwinsche Hierarchiesystem: auf dem Zweirad schrumpft man für Pkw-Fahrer zum störenden Insekt, das sie mit ihren PS am liebsten zerquetschen würden.

Doch nun ist auf den Straßen Londons etwas Wundersames passiert. Eine stechend blaue Spur zieht sich am Rand entlang. Nur für Radler, ein Flüsschen der Sicherheit, Zen für die stets unter Spannung stehenden Waden, eine Miniatmosphäre, die kein noch so testosterongetriebener Taxifahrer berühren darf.Ich habe lange über die Wahl der Farbe nachgedacht. Warum pinselt die Stadt eine derart lebenswichtige Zone in knalligem Blau? Als Symbol steht Blau für Vertrauen und Ganzheitlichkeit. Rein ästhetisch macht die Wahl allerdings tendenziell das Straßenbild kaputt, und genau das las ich als selbstbewusste Kampfansage der Stadt an die Autos. Leben retten vor Ästhetik!

Mein neu gewonnenes Vertrauen in die blaue, beschützende Route wurde jedoch jäh enttäuscht, als ich erfuhr, was beziehungsweise wer tatsächlich hinter diesem Blau steckt: die Barclays Bank! Ich fuhr also nicht aus psychologischen Gründen auf diesem Blau, sondern aus wirtschaftlichen! Ausgerechnet eine Bank ist ab sofort für meine Verkehrssicherheit verantwortlich. Der Name des neuen Radwegs klingt wie in heißen Asphalt gegossene Hybris: Barclays Superhighway! Und damit nicht genug. Die blaue Bank zeigte sich dermaßen spendabel, dass sie die passenden Citybikes für Londoner und Touristen gleich dazukaufte! Auf diesen klobigen Drahteseln, die innerhalb einer Woche an jeder Ecke der Stadt lauerten, sehen die meisten Leute blöd aus. Entweder wie ein im Leerlauf strampelnder Affe oder am Berg wie ein schwitzender Elefant.

Wozu das Ganze? Leidet die Stadt an dermaßen notorischem an Geldmangel, dass sie sich von einem Kreditunternehmen nun schon die Straßen und Fortbewegungsmittel bezahlen lassen muss? Sponsert Mercedes demnächst die Blitzanlagen? Was für ein Glück, dass nicht die Telekom in die engere Wahl gezogen wurde. Pinkfarbene Radwege! Tatsächlich ist London voll von bizarren Kooperationen. Wer ahnt schon, dass hinter der Unilever Series, also den jährlich wechselnden Kunstinstallationen in der Turbinenhalle der Tate Modern (am berühmtesten Olafur Eliassons “Weather Project” mit 3 Millionen Besuchern) ein Waschmittelkonzern steckt? Die winterliche Kulturveranstaltung der Royal Academy, GSK Contemporary, klang nur deshalb so hölzern, weil der Pharmariese GlaxoSmithKline eine Menge Geld gezahlt hat, um vor die Veranstaltung sein schmuckloses Kürzel zu pappen. Es ist ein eleganter Deal, bei dem ein unattraktiver Konzern seine gutmenschelnde Seite zeigen kann. Institutionen müssen im Gegenzug nicht mehr knausern, wenn es um die Champagnermarke beim Empfang geht.

Und wer rechnet schon damit, dass irgendwo am anderen Ende der Welt Öl ausläuft und damit eine globale Umweltkatastrophe auslöst? Dass die Tate Gallery dennoch keinen Funken Gespür dafür hatte, was es heißt, ihre 20-jährige Kooperation mit BP mit einem rauschenden Sommerfest zu feiern, wurde grandios bestraft. Am Ende gab es aufgebrachte Demonstranten und ölbespritzte Gäste, die über ihre versauten Armani-Sakkos und Dior-Taschen jammerten. Und was passiert, wenn Barclays in den nächsten, globalen Finanzskandal verwickelt ist? Liegen dann Nägel auf der neuen, blauen Radfahrbahn? Viel mehr Sorgen machen mir die Übermütigen, die bisher in London nie Rad fuhren und sich nun nach drei Pints, heftig angetrunken und ohne Helm, plötzlich auf die Barclays-Bikes setzen. Wenn sie in Schlangenlinien über den Asphalt eiern, wird auch die schöne, blaue Barclays-Spur sie nicht mehr beschützen…

 

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Man kann in Los Angeles tatsächlich Bus fahren – kommt nur drauf an, wo …

 

 

 

 

Kein Mensch fährt in Los Angeles freiwillig Bus – ok, fast kein Mensch. Die meisten, die das öffentliche Verkehrsnetz der Metropole am Pazifik nutzen, sind entweder zu arm, zu jung oder zu alt, um ein Auto zu kaufen oder sie sind illegal im Land und können den Führerschein nicht machen. Letzteres hält allerdings nicht wirklich viele vom Autofahren ab. Und so fahren sie dann auch … Die Bewohner von Los Angeles stehen lieber mit sechs Millionen anderen Autos in den Staus der Stadtautobahnen als auf Bus oder U-Bahn ausweichen. Der Grund ist ganz einfach – das öffentliche Verkehrsnetz ist eine Zumutung. Wenn ich mit dem Auto zu meinem Zahnarzt fahre, dauert das selbst mit Stau höchstens zwanzig Minuten. Mit dem Bus wäre ich anderthalb Stunden unterwegs, weil ich einmal fast eine Stunde auf den Anschlußbus warten muss. Also nicht wirklich eine gute Idee.

 

Ich wollte aber doch mal ausprobieren, ob es wenigstens möglich ist, von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten mit Bus und U-Bahn zu kommen. Genauer gesagt vom Walk of Fame zum Pier in Santa Monica. Besuch hatte sich angesagt und ich verspürte eine geradezu körperliche Abneigung, zum – gefühlten – tausendsten Mal unter gnadenloser Sonne und zwischen hektischem Gewusel auf dem berühmtesten Bürgersteig der Welt zu stehen und mit gebeugtem Kopf nach den Sternen von Promis zu suchen. Zu meiner Überraschung gibt es zwischen dem Kodaktheater, wo die Oscars verliehen werden und dem Chinese Theater, wo sich unter anderen Marilyn Monroe und Arnold Schwarzenegger mit Hand- und Schuhabdrücken verewigten tatsächlich einige Haltestellen, sogar eine U-Bahn!

 Leider gibt es keine Fahrpläne oder Schilder, die es einem erleichtern würden, den Weg nach Santa Monica zu finden. Man kann online nachschauen. Wer gerade zufällig keinen Computer dabei hat, ist auf die Hilfe von Fremden angewiesen. Ich hab also rumgefragt und bekam reichlich Vorschläge, wie ich am besten ohne Auto zum Meer komme. Zum Beispiel die 20 Kilometer laufen. Oder mit mehreren Sightseeing-Doppeldeckern fahren. Und ich hörte Warnungen, dass ich im öffentlichen Bus mit urinierenden, knutschenden, fummelden Menschen rechnen müsse und mit Gangmitgliedern, die sich gegenseitig durch die Sitzreihen jagen. Das hörte sich spannend an. Ich musste den Bus schon deshalb nehmen, weil es keine U-Bahn zwischen Hollywood und Meer gibt. Und die Fahrt lief deutlich besser als erwartet: Nur einmal umsteigen und sogar mit möglichem Zwischenstopp an Rodeo Drive und Beverly Wilshire Hotel, wo Richard Gere und Julia Roberts ‘Pretty Woman’ gedreht haben. Ich war die einzige Weisse auf der Rüttelfahrt in Hartschalensitzen und mit auf Hochtouren laufender Klimaanlage. Ich war vermutlich auch die Einzige, die aus Vergnügen im Bus sass. Die meisten der dösenden oder mit Handys spielenden Fahrgäste schienen auf dem Weg von oder zur Arbeit zu sein. Zur Enttäuschung meines Reporterinnen-Herzens hab ich weder fummelnde Fahrgäste noch Gangmitglieder bei der Verfolgungsjagd erlebt. Ich weiss nicht, wie meine Gäste das beurteilen. Ich weiss nur eins: die fahren von jetzt ab Bus. Außer sie müssen zum Zahnarzt.

 

 

 

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Ultra-Orthodoxe feiern Abschiebung von “Fremdarbeiter”-Kindern

 

Weite Teile der ultra-orthodoxen Community feiern in diesen Tagen die Abschiebung von 400 Kindern so genannter Fremdarbeiter als „Schritt in die richtige Richtung“. Die drei Zeitungen der nationalreligiösen Allianz in der Knesset, Vereinigtes Torah Judentum, sind erleichtert darüber, dass der „jüdische Charakter Israels“ nicht länger von Fremdarbeiter-Kindern in Gefahr gebracht wird.

In einem Leitartikel der Zeitung „Hamevaser“ heißt es: „Die Geschichte lehrt uns, dass ausländische Elemente, die in Länder kommen, die ihnen Arbeit anbieten, dazu vorherbestimmt sind, entweder das Land zu zerstören, das sie aufnimmt, oder es zu übernehmen“. Die „hunderttausenden christlichen, buddhistischen, muslimischen und hinduistischen Fremdarbeiter (zusammen mit hunderttausenden nicht-jüdischen Immigranten)“ seien eine Gefahr für den „jüdischen Charakter“ des Staates.  Die Kritiker der Abschiebungen bezichtigt das Blatt eines „abgrundtiefen Hasses gegen das Judentum“. Das habe sich in der Vergangenheit vor allem an den politischen Entscheidungen zur „nicht halachischen Konversion, dem Rückkehrrecht und der jüdischen Identität“ gezeigt. Nicht nur die so genannten Fremdarbeiter also, nein, sämtliche säkulare Zionisten, werden als Feinde der Orthodoxie, ja des Judentums insgesamt betrachtet.

Die Zeitung “Yated” schreibt, es gebe „für gewöhnlich eine Entsprechung zwischen diesen sympathischen Leuten“, die sich gegen eine Abschiebung aussprächen, „und denen, die den Hungertod von Haredi-Kindern“ (ultra-orthodoxen Kindern) förderten.

In der Zeitung “Hamodia” schließlich werden die Kritiker der Abschiebungen als „Demagogen“ tituliert. Aufgrund der Haltung dieser Leute würde Israel künftig nicht mehr als jüdischer Staat betrachtet werden können, sondern als Land „mit vereinzelten religiösen Inseln“. Die zionistische Bewegung sei von einem „Stein überrollt und ohne Sarg beerdigt“ worden, heißt es weiter. „Sogar der wahnhafteste Zionist hätte sich nie träumen lassen, dass Sudanesen, Russen, Thailänder, Ukrainer, Etritreer und Rumänen die israelische Staatsbürgerschaft erhalten.“

Netanjahus Kabinett hatte Anfang der Woche mit großer Mehrheit dafür gestimmt, 400 von insgesamt 1200 Kindern, die mit ihren Eltern um der Arbeit willen nach Israel eingewandert sind, innerhalb der nächsten drei Wochen abzuschieben. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu begründete die Entscheidung damit, er wolle keinen Anreiz dafür schaffen, dass hunderttausende Arbeitsmigranten ins Land kämen. 

Die Hetze von in Israel lebenden ultra-orthodoxen Juden gegen alles “Un-Orthodoxe” und “Nicht-Jüdische” wird immer hemmungsloser. Die Kluft zwischen säkularen und religiösen Juden wächst.

 

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Turista per sempre – das wärs: Ich bin verrückt nach römischen Rubbellosen

Ich bin der festen Überzeugung, dass man beim italienischen Lotto keinen vaso gewinnen kann, weshalb ich mich nie dazu verleiten lasse, in Italien irgendwo irgendwelche Kreuzchen auf irgendwelche Scheine zu machen. Da kann mein Arbeitskollege Michele (“Ach komm schon!”) noch so drängeln. 6 aus 49 wie in Deutschland ist ja schon unmöglich. Aber 6 aus 90 wie beim “Superenalotto”? Nein. Ich bin ja nicht stupido. 

 

Allerdings habe ich doch eine Schwäche für eine ähnlich doofe Form des Geld-aus-der-finestra-Werfens, für die “Gratta e Vinci”, “Kratze und Gewinne” genannten Rubbellose, die es in jedem Tabacchi gibt und die 5 bis sogar 20 Euro kosten. Manchmal hole ich mir da eins und wundere mich über mich selbst: Früher gönnte ich mir selbst bei wohltätigen Tombolas von Behindertenwerkstätten höchstens ein Los für einen Euro, aber ich bin in Italien sehr viel investitionsfreudiger geworden in dieser Hinsicht. Auch wenn ich ahne, dass der Finanzminister hier irgendwelche Haushaltslöcher, aber nicht die im Straßenbelag der Via Aurelia stopft.

 

 

Das Rubbeln fühlt sich nicht so irrwitzig an, wie das 6 aus 90, aber doch auch hier glaube ich langsam,  dass ich chancenlos bin: Wahrscheinlicher als ein Gewinn ist es, dass

 

es morgens um sieben an der Tür klingelt und ein Bote mir schönes deutsches Schwarzbrot und Johannisbeergelee fürs Frühstück bringt. Und doch: Mein Lieblingsrubbellos heißt dabei “Turista per sempre!”, “Tourist für immer”. Gerade habe ich mir wieder eins geholt, jetzt stehe ich in meiner Kaffeebar und rubble unter den neugierigen Augen meines Kaffeemanns und Freundes Dino: Wenn ich jetzt zwei mal ein Kästchen freirubble, auf dem “Turista per sempre!” steht, dann bekomme ich 200.000 Euro sofort, 6.000 für 20 Jahre, und am Ende nochmal 100.000. Fünf von 15 Feldern habe ich schon aufgerubbelt, einmal steht schon “Turista per sempre!” da.  Schon sage ich  Dino: “Bereite schonmal die Lokalrunde vor” – doch, völlig klar: Es kommt kein”Turista per sempre”- Feld mehr. Dino kommentiert: “Niente”. 

Also Strategiewechel: Ich hole noch weitere Rubbellose, vielleicht bin ich doch eher der Typ, der eine Million auf einen Schlag gewinnt. Sogar zu dem 10 Euro-Los “Mega Milliardario” habe ich mich vom Verkäufer überreden lassen. “Milliardario”, dass ich nicht lache! Gewinnen kann man nur eine Million´! Der Name soll den Italienern auf die Sprünge helfen: “Mensch stell Dir vor! Das waren mal eine Milliarde Lire.” 

Schnell stand ich wieder bei Dino an der Theke und rubbelte die silberne Fläche weg, Feld für Feld, damit sich die 10 Euro gelohnt haben. Meine “Glücksnummern”: 25, 24, 31, 20,45, 34. Nun muss ich hoffen, dass eine der 15 Zahlen unten mit diesen übereinstimmt. “40 -nö”, “13-nö”, 18-nö”. Und so weiter. Lass mich mal, sagt Dino, nimmt eins meiner weiteren Lose, es heißt “Schiff voller Geld” und beginnt, hastig zu kratzen. Ratz-Fatz ist alles weg, er reicht mir das Los rüber und sagt: “Niente”. 

 

 

Enttäuscht beginne ich, das letzte freizurubbeln, halte dann aber inne und sage zu Dino: “Den Rest mach ich nach und nach und Feld für Feld, da kann ich das Gefühl haben, ich könnte noch gewinnen.” Entgeistert schaut mich Dino an, nimmt mir plötzlich den Schein aus der Hand, rubbelt die restlichen Felder auf, reicht mir den Schein wieder rüber und sagt: “Niente”.  

 

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Kopenhagen sucht 500 Meerjungfrauen

In Kopenhagen kann in den kommenden Wochen jeder seine 15 Minuten Berühmtheit einfordern – als eine von 500 kleinen Meerjungfrauen. Während die Skulptur Kleine Meerjungfrau, DAS Kopenhagener Wahrzeichen, für die Expo in Shanghai weilt, wird sie durch ein Videowerk des Chinesen Ai Weiwei ersetzt. Einer Gruppe dänischer Künstler war das nicht genug, weshalb Sie nun 500 weitere Meerjungfrauen suchen. Sie haben einen Stein im Touristenviertel Nyhavn aufgestellt und dazu aufgerufen, sich als temporäre Meerjungfrau zu bewerben. Wer mag, kann auf dem Stein sitzen, dort einen Vortrag halten, singen oder was auch immer. Einzige Bedingung: 15 Minuten auszuharren. Anmelden unter www.500mermaids.dk

 

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Allah macht hart

Das »journalistische Desaster«, wie Jörg Lau von der ZEIT es in einem Gastvortrag nannte, begann am 5. Juni und nahm in den Wochen danach seinen ungebremsten Lauf. Es ist einer jener Wahrnehmungsunfälle, die im Stimmengewirr unserer postmodernen Medienwelt inzwischen leider all zu oft die Normalität sind. Den Anfang macht eine kurze, zweiseitige Zusammenfassung einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). Ihr widmen sich an jenem 5. Juni zuerst die Süddeutsche Zeitung und dann die Nachrichtenagenturen.

In der KFN-Studie geht es auch und unter anderem um den Zusammenhang zwischen der Religiosität junger Muslime in Deutschland und ihrer Bereitschaft zu Gewalt. Die zweiseitige Zusammenfassung behauptet: »Für junge Muslime geht … die zunehmende Bindung an ihre Religion mit einem Anstieg der Gewalt einher.«

Wenn das keine Schlagzeile ist! »Die Faust zum Gebet«, überschreibt die Süddeutsche Zeitung ihren Beitrag, gefolgt vom Chor anderer Boulevard- und Qualitätszeitungen: »Allah macht hart«, »Jung, muslimisch, brutal«, »Junge Muslime, je gläubiger, desto brutaler« usw. usf. Im Artikel der Süddeutschen behauptet Christian Pfeiffer, Direktor des KFN, zwischen muslimischer Religiosität und Gewaltbereitschaft gebe es einen »signifikanten Zusammenhang«.

Es ist das Verdienst von bildblog.de, den kompletten Text der Studie einfach mal ganz gelesen zu haben. Dort findet sich nämlich dieser »signifikante Zusammenhang« von muslimischer Religiosität und Gewalt gar nicht. Er ist allenfalls sehr klein, und die Studie begründet ihn mit allem möglichen, nur nicht mit Religion. Im Gegenteil: Sie belegt, »dass diese (leicht – J. S.) erhöhte Gewaltbereitschaft weitestgehend auf andere Belastungsfaktoren zurückzuführen ist.« Es sei, heißt es in der Studie weiter, »bei isla­mischen Jugendlichen von keinem unmittelbaren Zusammenhang … zwischen der Religiosität und der Gewaltdelinquenz auszugehen.«

Bildblog.de weist auf diesen Widerspruch am 13. Juni hin und lässt sich von Pfeiffer erklären, er sei falsch zitiert worden. Zu spät, die Schlagzeilenmaschine lief da bereits seit einer Woche rund, siehe oben. Schwer zu sagen, woran diese mediale Entgleisung nun genau lag, ob zum Beispiel Pfeiffer so sehr nach Publicity für sein Institut giert, dass es ihm »offenbar lieber ist, falsch zitiert zu werden als gar nicht« (Jörg Lau). Darüber kann nur spekuliert werden. Sicher ist: Die deutsche (Medien-) Öffentlichkeit scheint auf den Kurzschluss »junge Muslime gleich Gewalt« nur gewartet zu haben. Wer muss da schon ganze Studien lesen.

Soweit ich weiß, haben sich die meisten Blätter später nicht nur nicht korrigiert, sondern basteln auch weiterhin an diesem Stigma, noch Wochen danach, wie etwa der Wiesbadener Kurier oder Spiegel Online. Eine Ausnahme bildet die österreichische Zeitung Die Presse, die sich für den Beitrag »Gewissenloses Islam-Bashing« die Mühe macht, auch mal in den ersten Teil der KFN-Studie aus dem Jahre 2009 zu gucken. Dort werde belegt, dass muslimische Migranten gar nicht gewalttätiger seien als Migranten aus anderen Kulturkreisen.

Aber solch eine Schlagzeile wäre leider längst nicht so sexy wie »Gläubige Muslime sind deutlich gewaltbereiter«.

 

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Piraten der Südsee

Oahu (Hawaii), Kamehameha Highway, gestern Nachmittag: Plötzlich stoppen Autos, einige steuern konfus den Straßenrand an, Leute springen raus mit gezückter Kamera. Ein Blick durchs Seitenfenster genügt, um zu wissen warum: Ein Segelschiff, offensichtlich mehrere hundert Jahre alt, liegt an einem kleinen Pier vor Anker. Ein Museumsschiff? Ein Restaurationsprojekt? Ein Nachbau a la Disneyland? Wir wenden. Parken am Pier, laufen zum Schiff, bis zu einer Absperrung, vor der zwei dutzend Menschen versammelt sind. Alle starren wie gebannt aufs Schiff, das aus der Nähe nicht weniger rätselhafter erscheint als aus der Ferne: Abgerissen, aber zugleich irgendwie gut in Schuss, und warum eigentlich wimmelt es hier vor Sicherheitsleuten?

 

 

 

Endlich macht einer den Mund auf. „Welcher Film?“ Der Security-Guy schiebt seinen Kaugummi von der rechten in die linke Backe und antwortet: „Fluch der Karibik.“ Die Menge erstarrt. Der Neugierige fragt ungerührt weiter: „Welcher Teil?“ – „Vier.“ Ein Teenager im Baskeballtrikot schreit hysterisch: „Ich habe Johnny Depp gesehen!“ Das ist aufgrund der Entfernung ganz unmöglich, und die Leute verdrehen die Augen. Aber später erzählen unsere netten Wirtsleute, dass auf der Insel ganze Horden von Paparazzi unterwegs sind, um den Star zu finden – bisher erfolglos. Kurz regt sich bei mir der Reporterinstinkt: Muss ich da nicht auch irgendwas machen? Ach nein – ich hab endlich mal Urlaub. Aber den Weltreporter-Blog will ich denn doch bestücken. Zumal sicher nicht jeder weiß, dass die “Pirates of the Caribbean” zumindest teilweise in der Südsee gedreht werden.  

 

Foto: Christine Mattauch

 

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Regierungsringen

Beim Einkaufsbummel durch Den Haag komme ich regelmässig bei Eisverkäufer Martijn vorbei. Sein Eiswagen steht direkt vor Paleis Noordeinde, dem Arbeitpalast von Königin Beatrix. Wenn auf dem Dach die rot-weiss-blaue Flagge weht, sitzt die Monarchin hinter ihrem Schreibtisch.

 Für die Bürger von Den Haag ist Martijns Eiswagen zu einer festen Institution geworden. Sein Vater hat hier schon vor 20 Jahren Eis verkauft. In den letzten Wochen allerdings erkundigen sich viele Kunden beim Eiskaufen nicht nur über das Angebot sondern auch den letzten Stand der Koalitionsverhandlungen. Denn der fröhliche junge Holländer behält alles gut im Auge, er weiss genau,wer die Treppen zum Palast raufläuft und wer wieder rauskommt.

 „Das ist hier momentan ein Kommen und Gehen“, erzählt er. Da haben sich nicht nur die Fraktionsvorsitzenden der wichtigsten Parteien die Klinke in die Hand gegeben, sondern auch die so genannten Informateure. Die untersuchen im Auftrag der Königin, welche Koalitionspartner sich am ehesten zusammenraufen könnten.

 Bei Martijn hinter der Scheibe hängen Fotos der ehemaligen Ministerpräsidenten und Eiskunden Wim Kok und Jan Peter Balkenende. Ganz links, über dem Schokoladeneis, prangt bereits ein Schnappschuss von Mark Rutte – für den Eisverkäufer der nächste Premierminister der Niederlande. 

 Noch allerdings ist es nicht soweit: Zwar hat Rutte mit seiner rechtsliberalen VVD-Partei die Wahlen gewonnen – aber nur ganz knapp vor den Sozialdemokraten. Eigentlicher Wahlsieger ist Geert Wilders: Seine islamfeindliche „Partei für die Freiheit“ PVV konnte die Zahl ihrer Sitze fast verdreifachen und ist nun drittstärkste Kraft im niederländischen Abgeordnetenhaus – noch vor den Christdemokraten, die erdrutschartige Verluste hinnehmen mussten. Diese vier Parteien haben alle zwischen 20 und 30 der insgesamt 150 Parlamentssitze ergattert.

 Folge: Die Koalitonsverhandlungen gestalten sich enorm schwierig, fast sieben Wochen nach den Wahlen ist immer noch kein neues Kabinett in Sicht.

Doch die Niederländer sind einiges gewöhnt: Für eine stabile Mehrheit sind immer mindestens drei Parteien nötig, dieses Mal vielleicht sogar vier. Deshalb üben sich alle in Geduld – und stehen für alles offen: Denn was auf das Land zukommt, weiss keiner. Wobei sich die Informateure wie Fussballtrainer vorkommen müssen: Mal versuchen sie es über die rechte Flanke, dann über die Linke. Auch in der Mitte war kein Durchkommen. Mal ist Wilders mit dabei, mal ist er im Abseits. Wobei sich die Niederländer nicht sicher sind, ob er nun wirklich mitspielen will oder doch lieber auf der Oppositionsbank sitzen bleibt.

Inzwischen allerdings ist Ruud Lubbers als Informateur auf dem Spielfeld erschienen, politisches Schwergewicht und Vertrauter von Königin Beatrix. Er hat alle zur Ordnung gepfiffen und an den Teamgeist appelliert – vor allem an den der Christdemokraten, die sich bislang zierten und nicht so richtig mitspielen wollten. Die Berührungsängste mit Wilders waren zu gross: Mit einer Partei, die an der Religionsfreiheit rüttelt, Kopfttücher verbieten und die ethnische Herkunft eines jeden Niederländers registrieren lassen will, so betonte der christdemokratische Fraktionsvorsitzende Maxime Verhagen, mit so einer Partei setze er sich nicht in ein Boot.

Doch nun hat Lubbers ein Machtwort gesprochen, seit Montagnachmittag finden an einem geheimen Ort erste informelle Gespräche zwischen Christdemokraten, Wilders und den Rechtsliberalen statt. Mehr weiss keiner, selbst Eisverkäufer Martijn nicht.

 Der bleibt trotz allem zuversichtlich: „Wir liegen ja noch gut im Rennen.“ Denn durchschnittlich dauern Koalitionsverhandlungen in den Niederlanden immer gut zwei Monate. Der Rekord war 1977, da vergingen fast sieben Monate, bis das Land eine neue Regierung hatte. „Aber“, so erinnert sich ein älterer Herr lachend, bevor er mit einer grossen Kugel Erdbeereis weiterläuft:  „Das haben wir damals ja auch überlebt. Das Leben ging einfach weiter.“

 

 

 

 

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Neuer Job für Paul

Die meisten Indonesier sind abergläubisch und fast alle sind fußballverrückt. Der wahrsagende Tintenfisch Paul aus Oberhausen wurde daher im Inselstaat auf der anderen Seite der Welt zur willkommenen Sensation: Am Ende der Fußball-WM verging keine indonesische Nachrichtensendung ohne eine Meldung über „Gurita Paul“.

Doch während sich der Fußballrausch in Indonesien allmählich wieder gelegt hat, saugt sich der achtarmige Wahrsager weiterhin hartnäckig in den hiesigen Medien fest. Auf diversen Websites wird diskutiert, ob Paulchens Vorhersagen ausreichten, um auch politische oder religiöse Führer zu ersetzen.

Am vergangenen Samstag zeichnete der Karikaturist der englischsprachigen Tageszeitung „The Jakarta Post“ Paul zum Beispiel als Schiedsrichter in einem aktuellen Steuerhinterziehungsfall: Auf der Zeichnung verschwinden der korrupte Finanzbeamte Gayus sowie ein der Unterschlagung beschuldigter Polizeibeamter als gierige Kraken hinter Gittern, während die International Corruption Watch verwundert zusieht.

Beliebt ist auch der Vergleich mit „Gurita Cikeas“ – also dem Kraken von Cikeas: Dieser Ausdruck stammt aus einem populären Buch über die angebliche Vetternwirtschaft unter dem indonesischen Präsidenten Susilo Bambang Yudhoyono, der in Jakartas Vorort Cikeas residiert.

Die Botschaft an den Tintenfisch: Wenn die Deutschen Paulchen tatsächlich schon in Rente schicken wollen – in Indonesien gibt es noch viel für ihn zu tun!

 

 

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Kaltenbrunner – Schellenberg – Kaltenberg

Manchmal frage ich mich, ob es nach 12 Jahren Russland nicht dringend Zeit ist, wieder heimzukehren. Etwa vergangenen Dienstag in Minsk. Das liegt zwar in Weißrussland. Aber als mir in einer dortigen Kneipe die Marke „Kaltenberg“ als „vaterländisches“, also einheimisches Fassbier angeboten wurde, brach ich in höhnisches Gelächter aus: „Kaltenberg“, das haben sich die Weißrussen ja schön ausgedacht, die haben wohl wie die Russen zuviel schlechte Nazi-Literatur konsumiert. Und dann aus „Kaltenbrunner“, „Stauffenberg“ oder schlimmer noch „Schellenberg“ einen ihrer Ansicht nach erzgermanischen Namen gepanscht und einen Pilsverschnitt mit leichtem Nachgeschmack nach Kernseife dazu.

 Aber es stellte sich heraus, dass „Kaltenberg“ gut schmeckt. Ich riskierte eine google.ru-Minimalrecherche. Ergebnis: Die Weißrussen haben tatsächlich geflunkert, „Kaltenberg“ wird nicht in Minsk, sondern in Otschakowo bei Moskau produziert. Aber in Weißrussland betrachtet man ja außer Bier aus Russland ja auch Öl und Gas als „vaterländisch“. Die Russen wiederum brauen „Kaltenberg“ mit einer deutschen Lizenz der König Ludwig Schlossbrauerei Kaltenberg, den Vertrag unterzeichnete Luitpold Prinz von Bayern persönlich. Kurz, „Kaltenberg“ ist echt, wird angeblich auch in Russland nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut, ich aber habe zuviel schlechte russische Nazi-Literatur gelesen. Dringend Zeit für einen Regermanisierungstrip in die Heimat, am besten nach Bayern!  

 

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Ode an die Flugzeugkost

Das Leben in den Antipoden bringt viel Schönes mit sich, zum Beispiel Hokey-Pokey-Eis mit Karamellstücken und staatlich sanktioniertes wildes Zelten am Strand, aber auch einiges Schreckliches: Flugreisen zum Beispiel. Wann immer man die Grenzen Aotearoas verlässt und keine Bootsfahrt plant, sitzt man unweigerlich in der Luft. Und das nicht zu knapp. 25 Stunden sind es gut und gerne bis Europa, aber gefühlte 50. Das sind, auch für jemanden ohne jede Flugangst, zwanzig Stunden zu viel.

Meine Kinder klingen wie verzogene Jetset-Gören, wenn sie mit ihren Freunden darüber fachsimpeln, ob man auf dem Weg nach Frankfurt besser in Singapur umsteigt, weil man da kurz im Terminal C schwimmen gehen kann, oder in Hongkong, wo es drei Stunden lang Playstation satt gibt. Dubai? Geschenkt. Los Angeles geht gar nicht, da sind wir uns alle einig. Die Sicherheitskontrollen dort kommen einer gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung immer näher. Mir reicht die Mammographie einmal im Jahr.

Wie tief das Rund-um-die-Uhr-Eingesperrtsein in Körper und Seele eingreift, zeigt sich am deutlichsten an der Reaktion des Passagiers auf Flugzeugkost. Unter normalen Umständen würde er die in der Economy Class kredenzte Nahrung amüsiert bis misstrauisch betrachten, wenn nicht gar verweigern. Ein Häufchen pseudoethnischer Pamp aus der Mikrowelle, ein viel zu kalter Mini-Salat, das obligatorische Pappbrötchen, abgepackter Gummikäse und ein wabbeliges Törtchen für den kariösen Zahn – welch ein kulinarisches Sammelsurium!

Seltsamerweise ist es aber auf diesen Langstreckenflügen so, dass die Mahlzeiten das einzige Highlight in all der sauerstoffarmen, zähen Trostlosigkeit sind. Das sagt doch alles über die Foltermethoden der Fluggesellschaften. Schreckliches wird erträglich, Halbsoschreckliches wunderbar – verzerrte Wahrnehmung durch rasante Abstumpfung. Nach zwei Bordfilmen und einer Nacht im Sitzen, wenn sich die erste Thrombose anbahnt, klingt nichts so herrlich wie das leise Scheppern des Essen- und Getränkewagens, der im Gang immer näher rollt Und dieser Duft! Neidisch schaue ich auf die zwei Rucksacktouristinnen, die vorab „vegetarisch“ bestellt haben und jetzt vor allen anderen bedient werden. Und immer, immer bin ich mir sicher, das Falsche gewählt zu haben. Rind mit Gemüse oder Huhn asiatisch – es ist und bleibt die einzig wichtige Entscheidung der nächsten 24 Stunden. Wann habe ich jemals mit so viel Wonne ein Päckchen Butter aufgepult? Die gute Neuseeland-Butter, ach! Im Gefängnis muss es ähnlich sein. Man erfreut sich an den kleinen, vertrauten Dingen.

Wenn der Schmerz nachlässt, wird das Trauma mit Hilfe von www.airlinemeals.net verarbeitet. Betroffenen rate ich, sich auf der Webseite die Plastiktablett-Variationen osteuropäischer Fluglinien anzuschauen.  Ein Passagier auf dem Air-Via-Flug von Bulgarien stellte fest, dass seine Henkersmahlzeit deutlich besser aussah als der Zustand der Tupelew, in der er saß. Über den Wolken, da muss der Hunger wohl grenzenlos sein.

 

 

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In Klausur

In periodischen Abständen überkommt mich plötzlich das Gefühl, mein Mandarin verbessern zu müssen. Das sind die Momente, in denen ich einen Flug nach Shijiazhuang (Genau! Eine von diesen chinesischen Millionenstädten, von denen man noch nicht mal den Namen kennt) buche. In Shijiazhuang gibt es eine kleine Sprachschule, die ausschließlich im Einzelunterricht Ausländern Chinesisch beibringt. Sie ist so etwas wie ein Geheimtipp, weil die meisten Ausländer nicht über Peking und Shanghai hinausdenken, wo es eine große Sprachschulindustrie gibt.

 

 

 

Das Beste an der Schule ist natürlich, dass ich dort immer viel lerne. Das Zweitbeste sind die anderen Sprachschüler. Wer in Shijiazhuang lernt, der will es wirklich wissen, der will leiden. Hier ein paar Beispiele von meinem jüngsten Aufenthalt.

Der Doktor: Schräger, in sich gekehrter Arzt aus den USA. Er bleibt ein ganzes Jahr in Shijiazhuang, also ein Jahr Einzelunterricht, und wiederholt 400 Schriftzeichen pro Tag. Alle im Aufenthaltsraum raunen bewundernd. Sein gesprochenes Mandarin ist dafür eigentümlich holperig. Nach dem Jahr will er zurück in seinen Job nach Amerika. Wozu er Chinesisch lernt, weiß niemand, auch er nicht.

Der Chilene: Ein 27-jähriger im Hongkonger Büro einer US-Kanzlei arbeitender Junganwalt (Finanzbranche) mit 250.000 US-Dollar Monatsgehalt. Temporär freigestellt. Auch er will ein Jahr in Shijiazhuang bleiben. Ein netter Kerl, der allerdings mit seiner Entscheidung hadert. Er findet die Frauen dort so furchtbar hässlich. Ohne Frauen geht es aber auch nicht. Also fliegt er regelmäßig übers Wochenende nach Hongkong. Chinesisch wird ihm bei der Karriere helfen, hofft er.

Der Krisengeschüttelte: Ein Mittfünfziger aus Miami, der alles verloren hat: Job, Frau, Vermögen, Lebensmut. Erst wurde er Alkoholiker, dann beschloss er, lieber schnell Mandarin zu lernen, um sich was Neues als Einkäufer in China aufzubauen. Er bleibt drei Wochen und hat es gern sauber. Bei seiner Gastfamilie putzt er nachts heimlich die Toilette.

Der Grönländer: Ein 24-jähriger Wonneproppen. Kräftig, gut genährt, lacht viel. Für ihn musste in der Schulküche der „Nachschlag“ eingeführt werden. Der erste Grönländer in meinem Leben. Mandarin-Anfänger. Er bleibt auch ein Jahr, einfach um mal was anderes zu sehen als Grönland. Danach will er zurückgehen und wieder im Fisch-Export arbeiten. Trägt einen Eisbärzahn um den Hals.

Und natürlich Shijiazhuang: Die Stadt, die man nicht kennen muss, die mich nie vom Chinesischlernen ablenkt, weil es nichts Ablenkendes gibt. Perfekte Lernnachmittage unterm Smoghimmel im Park. Vergesst Shanghai. China ist hier.

 

 

 

 

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“the Stuff of real life” – Politiker oder Pürrierstäbe?

Manch Kurioses passiert, glaube ich, so nur in Australien, im Land der Eier legenden Schnabeltiere. In Australien zum Beispiel steht auf Nicht-Wählen 100 Dollar Strafe, man hat aber nur 3 Tage nach Ankündigung einer Wahl, sich ins Wählerverzeichnis eintragen zu lassen. Zackzack. Noch schneller fliegen Premierminister raus, wie Kevin Rudd erlebte, als ihn Ende Juni seine Labor-Parteikollegen über Nacht entmachteten.

Seither ist seine Ex-Vize Julia Gillard (Foto links) am Ruder und die will nun, auch ruckzuck logisch, neu wählen lassen, und zwar am 21. August. Und damit leiten wir elegant zum Konflikt zwischen Küche und Kabinett über.

Denn vor der Wahl muss Gillard natürlich mit Gegner Tony-‘Klimawandel-ist-Blödsinn’-Abbott im Fernsehen über die ein oder andere politische Priorität diskutieren. Dieser Top-2-Talk wird traditionell vom National Press Club organisiert und gern gesehen. Und selbst im Land der Schnabeltiere finden solche TV-Debatten sonntagabends zur so genannten ‘Prime Time’ statt. Und hier ist das Problem.

Denn um 7.30  läuft gleichzeitig eine Kochschau. So eine Art ‘Australien sucht den Superkoch’, mit fiesem um die Wette dünsten, Garnelen an Limonengrass und fliegenden Pürrierstäben. Glaube ich. Ich geb zu, ich hab Masterchef noch nie gesehen, bin damit aber offenbar fast allein im Land, denn mehrere Millionen Australier machen genau das jeden Sonntag um 7.30 Uhr

Zum Glück werden sie auch am 25. Juli diesem friedlichen Hobby frönen können, ohne zur Unzeit von Hässlichkeiten wie Verschuldung, Klimawandel oder Flüchtlingsfragen abgelenkt zu werden. Denn die TV-Debatte der potentiellen Regierungschefs wurde zuliebe der populären Küchenchefs verschoben. Dank Meisterkoch heißt es diesmal auf Channel 7 schon um 6.30 Uhr: ‘Election 2010: The Great Debate’, die Nachrichten fallen aus. Gekocht wird wann immer gekocht wird, um 7.30 Uhr.

Die Premierministerin war offenbar glücklich mit der Lösung:   

“It says something about the stuff of real life,” sagte Gillard einem Radiosender in Sydney zum Konflikt zwischen Küchen- und Politikerlatein. “Leute interessieren sich dafür, wer Premierminister ist und wer regiert, aber Leuten ist auch ziemlich wichtig, was abends auf den Tisch kommt.’ Einsichten von ähnlich ergreifender Tiefe gab Frau Gillard auch im ABC zum Besten: ‘Australien ist ein großartiges Land‘ so die derzeitige und eventuell künftige Regierungschefin, ‘und eines der Dinge, die hier möglich sind, ist, dass man wählen kann, was man im Fernsehen ansieht.’ (Und das ist noch nicht mal sehr frei übersetzt.) Guten Appetit. 

 

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Japan in der Sinnkrise

Was ist nur mit Japan los? Nicht genug damit, dass es in der Politik drunter und drüber geht und ein Premierminister nach dem anderen zurücktritt. Die wirtschaftliche Entwicklung ist auch nur noch eine lahme Ente. Und nun erschüttern auch noch Skandale ohne Ende die Sumo-Szene.

Diese ur-japanische Sportart, eigentlich eine Bastion nationaler Traditionen, scheint kurz vor dem Ableben zu stehen. Seit geraumer Zeit macht Sumo nur noch negative Schlagzeilen. Vor wenigen Monaten musste der Großmeister Asashoryu nach einer Schlägerei im Suff seinen unehrenhaften Abschied nehmen. Ein Vorbild als besoffener Haudrauf, das ziemt sich nicht. Aber jetzt kommt’s richtig dicke. Die schwergewichtigen Ringer haben sich mit den schwerkriminellen Yakuza eingelassen, so wurde bekannt. Das japanische Pendant der italienischen Mafia hat den dicken Männern geholfen, fette Gewinne bei illegalen Wetten zu machen. Das stürzt so manchen Japaner in eine Sinnkrise. Nichts scheint mehr heilig zu sein im Land der aufgehenden Sonne. Die Idole im Ring sind in Wahrheit Halunken, die sich in der Halbwelt herumtreiben. Nippon liegt im Staub, Rettung ist nicht in Sicht. Fehlte nur noch, dass sich im Kaiserpalast Unerhörtes zutragen würde. Aber das wollen wir den Japanern nicht wünschen. Sie haben es derzeit schon schwer genug. 

 

 

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Israels illegale „Aliens“

 

Im liberalen Tel Aviv machen Rabbiner in diesen Tagen gegen illegale Einwanderer mobil. Sie warnen israelische Bürger in Zeitungsannoncen davor, Wohnungen an Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung zu vermieten. Nach jüdischem Recht sei es verboten, Wohnraum an derlei „aliens“ zu vergeben. Wer gegen dieses Recht verstoße, bringe sich in Gefahr, dräuen die Autoren des Anzeigentexts. Sie setzen sich aus einer Nachbarschaftsinitiative und 25 orthodoxen Rabbinern zusammen, die sich hinter dem Stadtrat Binyamin Babayof sammeln. Der gehört der religiös-sephardischen Shas-Partei an.

In ihrem Aufruf ermutigen die Rabbiner die israelischen Bürger Tel Avivs, dazu beizutragen, den „jüdischen Charakter“ der Stadt zu bewahren. Die illegalen Einwanderer trieben die Kriminalitätsrate in die Höhe, heißt es weiter. Außerdem belästigten die „Eindringlinge unsere Mädchen“, sagte einer der unterzeichnenden Rabbiner der Internetzeitung Ynet. Und betonte, es müsse der Gefahr von „Mischehen“ vorgebeugt werden. 

Widerspruch kam bislang nur von der Stadträtin Yael Dayan, der Tochter des früheren Verteidigungs- und Außenministers Moshe Dayan. Sie bezeichnete die Kampagne von Babayof als „rassistisch und illegal“.

Babayof aber hat starke Verbündete. Unter anderem Eli Yishai höchstpersönlich. Dem Ressort des Innenministers der Shas-Partei obliegt die Gestaltung der Einwanderungspolitik. Eines der zentralen politischen Projekte des Ministers sieht vor, zwei Drittel der in Israel geborenen Kinder so genannter Fremdarbeiter in ihre „Herkunftsländer“ zu deportieren. Für nicht-jüdische Arbeitsmigranten weht zurzeit ein scharfer Wind in Israel. 

 

 

 

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Von wegen Meinungsfreiheit

Der Anfang Juli in Beirut verstorbene schiitische Großajatollah Mohammed Hussein Fadlallah hat uns über seinen Tod hinaus noch einige Lehren mit auf den Weg gegeben. Nicht zuletzt, dass es mit der Meinungsfreiheit auch im Westen nicht sehr weit her ist, wenn es um eine berühmte und umstrittene Figur wie Fadlallah geht. Zudem eine, welche die israelische, die amerikanische und die britische Regierung als „Erz-Terroristen“ gebrandmarkt haben.

Die amerikanisch-libanesische CNN-Nahost-Spezialistin Octavia Nasr hat ihr Tweet zu Fadlallahs Tod ihren Job gekostet. Die britische Botschafterin Francis Guy, die den Großajatollah in ihrem diplomatischen Blog aus Beirut würdigte, erhielt eine schroffe Rüge aus London. Ihr Blogeintrag wurde aus dem Netz verbannt. 

Nun kann man den beiden ausgezeichneten Nahostkennern keine Naivität vorwerfen. Vielleicht hätte Nasr nicht gerade einen Tweet mit 140 Zeichen-Begrenzung wählen sollen, um ihren Gefühlen über den Tod einer so komplexen Person wie Fadlallah Ausdruck zu verleihen. Dächte man auch nur einen kurzen Moment nach, könnte man darauf kommen, dass das nicht gut gehen kann. Andererseits wissen wir auch, wie hoch der Druck einiger großer Medienunternehmen auf ihre Mitarbeiter ist, vor allem im TV-Bereich, zu tweeten und zu bloggen. Bei manchen ist es schon Einstellungsvoraussetzung, hört man. Der Wahnsinn in dieser Welt hat viele Gesichter!

Beiden Äußerung zu Fadlallahs Tod ist eines gemein: Sie drückten Respekt für den verstorbenen schiitischen Großajatollah aus, der in vielen Medien weiterhin fälschlich als geistlicher Führer oder ehemaliger geistlicher Führer der Hisbollah beschrieben wird.  Das kann man sicher so nicht sagen, obwohl Fadlallah Sympathien und teilweise offene Unterstützung für einige politische Sichtweisen und Taten der Hisbollah geäußert hat und beide sicherlich den Kampf gegen Israel und eine feindliche Gesinnung gegenüber den USA teilten. Die einzig wirklich gut recherchierte Würdigung Fadlallahs, die ich gelesen habe, stand übrigens im US-Magazin Foreign Policy.

Octovia Nasr musste ihre 20jährige Karriere bei CNN beenden wegen des Satzes: Fadlallah ist einer der Hisbollah-Giganten, die ich sehr respektiere. Darauf erhielt sie sofort wütende Reaktionen, unter anderem vom Simon Wiesenthal Center in den USA, das sie aufforderte, sich sofort bei all jenen Hisbollah-Opfern zu entschuldigen, deren Angehörige ihre Trauer über den Tod des Hisbollah-Giganten nicht teilen könnten. Kurz darauf entschied CNN, dass Nasrs Glaubwürdigkeit kompromittiert war, obwohl sie sich entschuldigt hatte und ihren eigenen Tweet als Fehleinschätzung zurückgezogen hatte. So schnell kann eine Karriere zu Ende gehen. Das besorgniserregende daran ist – ganz egal ob man Octavia Nasrs Einschätzungen zum Nahen Osten teil oder nicht – dass sie für CNN unhaltbar wurde, obwohl ihre Vorgesetzten wussten, dass sie eine durchaus differenzierte Einstellung zu Fadlallah und zur Hisbollah hatte, die sie immerhin 20 Jahre lang über den Sender gebracht hatte.

Der Fall der britischen Botschafterin Francis Guy liegt ganz ähnlich – obwohl sie glücklicherweise nicht gleich aus Beirut abgezogen wurde und ich hoffe, das wird auch so bleiben. Denn sie gehört zu den großen Kennern der Region in der westlichen Botschafterclique hier, sie wohltuend ist ehrlich, aufrichtig und nicht immer so entsetzlich diplomatisch. Guy hatte in ihrem Blog geschrieben, der Tod des Ajatollahs habe den Libanon ärmer gemacht. „Wenn man ihn besuchte, konnte man sicher sein, eine ernsthafte und respektvolle Auseinandersetzung zu erleben und man wusste, dass man sich als bessere Person fühlen würde, wenn man ihn verließ. Das ist für mich der Effekt eines wirklichen religiösen Mannes, dass er einen tiefen Eindruck bei jedem hinterlässt, der ihn trifft, ganz egal welchen Glaubens diese Person ist.“ Ein Sprecher der israelischen Regierung schrie „Skandal“ und das britische Außenministerium wand sich in Schmerzen. Es sei eine persönliche Meinung gewesen, hieß es aus London, die nicht der Regierungseinschätzung entspreche. Während das Foreign Office Fadlallahs progressive Ansichten zu Frauenrechten und dem inter-religiösen Dialog begrüße, gebe es auch tiefe Meinungsverschiedenheiten, vor allem wegen seiner Befürwortung von Attacken gegen Israel. Guy schrieb einen Entschuldigungsblog, in dem sie ihre Äußerungen zu Fadlallah mutiger Weise nicht zurücknahm. Aber, in dem sie sich klar von jeder Form (sic!) des Terrorismus distanzierte und in dem sie bedauerte, dass sie möglicherweise die Gefühle einiger ihrer Leser verletzt habe. Das sei nicht ihre Absicht gewesen.

Was lernen wir daraus? Dass Meinungsfreiheit in unserer westlichen Welt bei manchen Themen ganz engen Grenzen unterworfen ist, selbst, wenn man sehr differenziert ist. Sympathie für einen umstrittenen Menschen, vor allem islamischen Glaubens, den Israel und die USA als Erz-Feind ausgemacht haben – sei das nun berechtigt oder unberechtigt – kann und darf man nicht ungestraft äußern. Solche Einschätzungen werden im Zweifelsfalle nicht einmal diskutiert. Wie im Falle Octavia Nasrs heißt es lieber gleich „Kopf ab“. Ob das der Kultur einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, von der ich weiterhin träume, dient, wage ich zu bezweifeln.  

 

 

 

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Wetten, dass …

Sie wetten, wie schnell Krabben linksseitig in einen Kreis laufen, sie wetten auf Pferde, Hunde, Boxer, Würfel und zur Not die Flugrichtung der Fliege im Outbackpub  – Australier sind Weltmeister im Wetten. Im 21. Jahrhundert läuft das meiste Gewette natürlich online. Nicht ganz so romantisch wie einst Scheine wedelnd und mit Wettschein, but well. Aber wetten, dass Sie nicht wissen, worauf derzeit online und in anderen Wettbüros ebenfalls spekuliert wird? Ok. Hier kommt’s: Man setzt Geld auf den Termin der nächsten Wahl.

Nicht auf den Ausgang, das wär’ ja irgendwie noch sportlich. Gewettet wird, welchen TAG die neue Premierministerin Julia Gillard wohl für die Wahl festsetzen wird. Spannend was? Macht mir auch keinen echten Blutdruck, aber so isses. Irgendwo zwischen Cycling und Darts wird etwa bei sportingbet oder bei centrebet der Election date getippt. Theoretisch kann der übrigens an jedem möglichen Samstag bis 16. April 2011 sein. Nach der Entmachtung von Kevin Rudd im Juni wird aber gemunkelt, dass es eher früher als später an die Urnen geht. Nur $ 1,75 gibts daher pro Dollar, wenn man als Wahltag den letzten Augustsamstag vorhersagt. Für besonders unwahrscheinlich hält die Zockergemeinde den letzten Samstag im November (derzeit über 100 $ Gewinn pro Dollar). Ich wüsste ja zu gerne, ob die neue Staatschefin da auch ein paar Wetten laufen hat … 

 

 

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Kein Team kam aus China – aber Yingli, Kondome, Jabulani und Vuvuzelas

Die Weltmeisterschaft ist vorbei, wir werden das Vuvuzela-Getute aus dem Fernseher vermissen – aber noch gibt es aufregende Neuigkeiten im Nachklapp des Geschehens. Nicht nur, dass Thomas Müller bester Jungkicker des Turniers wurde. Auch aus China gibt es News: Das Land war zwar selbst nicht bei der WM dabei – jedenfalls nicht mit einem Team – aber irgendwie doch. Heute durften wir erfahren, dass das Land für die WM 100 Millionen Kondome nach Südafrika verschifft hat, wie die Beijing Evening News berichtet. Also hat China wenigstens ein bisschen dran verdient. Oder auch ein bisschen mehr.

Auch der WM-Ball Jabulani stammt, wen wunderts letztlich, aus einer Fabrik in China, die der Hongkonger Firma Longway gehört. Noch weniger überrascht es da, dass auch die allseits beliebten Vuvuzelas aus China stammen. Einfache Plastikwannen made in China finden sich in der ganzen Welt, und eine Vuvuzela ist ja irgendwie nichts anders als eine langgezogene Plastikwanne. 90 Prozent aller WM-Tröten kamen aus China, schreiben chinesiche Zeitungen, die meisten davon aus der Küstenprovinz Zhejiang, einer Hochburg privater Leichtindustriefabriken. Die Guangda Toy Factory – sonst ein harmloser Trillerpfeifenproduzent – etwa produzierte mehr als eine Million der Plastiktrompeten; und die Chefin glaubt fest an einen Post-WM-Boom. Ebenfalls über eine Million vertickte Jiying Plastic Products. Verdient haben daran aber vor allem Händler und Importeure, wenn man dem Chef, Wu Yijun, Glauben schenkt: Fabriken wie seine kriegten pro Tröte umgerechnet nur sieben bis 30 Cents. ‘Unsere Marge liegt bei unter 5 Prozent.’ Auch die Chinesen selbst rissen sich um die Vuvuzelas: Mehr als 400 Tröten-Shops gingen während der WM auf Chinas E-Bay-Pendant Taobao.com an den Start.

Sichtbar für alle war während der WM aber eine ganz andere Firma, und das bei jedem Match für volle acht Minuten: Yingli Solar – und das auch noch prominent platziert direkt neben ‘I’m loving it’ und dem großen gelben M. Der Solarzellenproduzent aus dem nordchinesischen Baoding ist die erste chinesische Firma, die jemals zum WM-Sponsor aufstieg. ‘Die WM ist eine sehr gute Plattform, die sofort unsere Marke in jedem potenziellen Markt weltweit bekannt macht’, freute sich Yingli-Vizepräsident Jason Liu. Womit er vielleicht sogar recht hat.

Wen stört es da schon, dass Chinas eigene Mannschaft da in der Qualifikation schmählich versagt hatte – sollte man denken. Doch weit gefehlt. In China möchte man kein männlicher Kicker sein. Die Fußball-Liga ist korrupt bis ins Mark, das Nationalteam nur selten beim Asien-Cup halbwegs erfolgreich. Chinesen betonen bei jeder Gelegenheit wie wenig das eigene Team tauge. Und das erst recht jetzt, wo sogar Nordkorea dabei war. Während der WM geisterten daher auch Vorschläge durchs Netz, die Mannschaft doch am besten gleich aufzulösen. Aber die nächste Chance kommt bestimmt: Nach der WM ist vor der WM.

 

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Multifunktionales Modestübchen

 

 

 

 

 

 

 

Vergangene Woche habe ich den neuen Londoner Laden, pardon, Palast von Louis Vuitton besichtigt. Habe mir bewusst die Zeit genommen und mich als Konsumentin aufsaugen und mitreißen lassen wie in einem Erlebnispark für exotische Luxus-Mutationen. Eine Geisterbahnfahrt mit gezückter Kreditkarte. Bis ich mir ein grobes Bild gemacht und alle Ecken und Winkel und VIP-Séparées gesehen hatte, war eine gute Stunde vergangen. Fazit: Bin ins letzte Fitzelchen der speziell gewebten Teppiche will man mich hier als Kundin vergessen lassen, dass ich mich im Grunde ja nur in einer Boutique befinde. Es ist eine “Maison für Kunst und Mode”! Und diese Inszenierung präsentiert sich dermaßen over the top, so agressiv und in den augen blendend, dass es einem die Luft nimmt. Wenn der Konsum der Teufel ist, ist dieses seine Stadtpalais. Und genau so wollte ich es schreiben!

Doch ich verließ den Tempel und war erleichtert. Mitnichten liegt hier der blutende Kopf der Kunst abgeschlagen auf dem Silbertablett. Ganz im Gegenteil wird Kunst endlich dort inszeniert, wo sie ohnehin längst zuhause ist: Mitten in der Statusphäre des internationalen Jet Set. Auf drei Etagen herrscht die Stimmung einer Kunstmesse, irgendwo zwischen Dubai und Düsseldorf, veranstaltet in der Prachtvilla eines Sammlers: Eine wandfüllende Arbeit von Gilbert and George hängt neben dem Eingang zu den Herrenumkleiden, zwei Murakamis in Millionenhöhe verzieren die Schmuckabteilung, wie Deko. Weiter oben warten Basquiat, Koons und Richard Prince. Selbst Kunstlaien, die Murakami für eine japanische Tagescrème halten, werden beim Verlassen der “Maison” denken: Das war ja aufregender als ein Museumsbesuch!

Und genau dieser Effekt ist dann doch etwas prekär, denn sollen die Konsumenten in Zukunft lieber Multifunktionsorte besuchen, in denen sie Kleider kaufen, Kinofilme sehen und Kunst gucken können? Das Luxusimperium Louis Vuitton hat zumindest die Kunstszene mit diversen Kollaborationen längst fest im Griff. Die Frage: Passt Ihnen die Größe? kann sich in der neuen “Maison” auf alles beziehen: Am Fuß, an der Hüfte, an der Wand. Und die fachliche Beratung bekommt man hier nicht mehr von charmanten Einzelhandelsprofis, sondern Spezialisten. Ehemaligen, erfolgreich abgeworbenen Mitarbeitern der Tate Gallery zum Beispiel, die einem neben Büchern im ersten Stock schicke Editionen von Anish Kapoor oder Chris Ofili in fünfstelligen Summen verkaufen. In den Regalen stehen schwere Künstlermonografien wie anregende Einrichtungskataloge, und plötzlich, ganz klein mittendrin, entdecke ich ein weißes Büchlein. Diederich Diederichsens Anwedung der Marxschen Theorie des Mehrwerts auf die zeitgenössische Kunst! Hat das da jemand vergessen? Guerilla-mäßig untergemischt? Leider nicht. Es steht natürlich ganz bewusst da. Und es ist defintiv das höchste Maß an inhaltlichem Sprengstoff, was man in diesem Luxus-Disneyland finden wird.

 

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Kriegsführung mit dem Rechenschieber

Seit sechs Wochen eskaliert der PKK-Krieg im Südosten der Türkei wieder dramatisch, mehr als hundert Menschen sind in dieser Zeitspanne getötet worden: türkische und kurdische Soldaten der türkischen Armee, kurdische Milizionäre der türkischen Republik, kurdische Guerrillakämpfer der PKK und auch einige Zivilisten – kurdische wie türkische.

In den Reihen der türkischen Armee sterben in diesem Krieg vor allem Wehrpflichtige von 19 oder 20 Jahren, die nach einem sechswöchigen Grundkurs an die gefährlichsten Außenposten im bergigen Konfliktgebiet geschickt werden. Der Generalstabschef sitzt sicher in Ankara und äußert sich in einem langatmigen Fernsehinterview so:

„Wir haben in den vergangenen 26 Jahren 30.000 Terroristen erledigt, 10.000 weitere wurden verletzt oder ergaben sich, das macht also 40.000. Die Truppenstärke der Organisation fluktuiert mit der Zeit, 6000 Mann sind es im Durchschnitt – der Höchsstand waren 10.000, derzeit sind es etwa 4000. Wenn wir den Durchschnitt von 6000 nehmen und die 30.000 dadurch teilen, dann ergibt das Fünf. Mathematisch gesehen haben wir die Terrororganisation PKK also in den letzten 26 Jahren schon fünfmal ausgelöscht. Das ist eine Tatsache.“

Noch während das Interview ausgestrahlt wurde, starben bei einem PKK-Angriff wieder drei junge Soldaten.

 

 

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Begegnung mit einem deutschen Prinz in Hollywood

 

‘Prinz Frederic, Hello!’ – der deutsche Akzent war so stark, dass ich ziemlich sicher war: der Prinz ist höchstpersönlich am Telefon! Ich fragte lieber nochmal nach. Bis dahin dachte ich, Prinzen haben Butler, die den Hörer abnehmen, während die Hoheiten – so sie denn in Beverly Hills residieren – mit gekühltem Drink am Swimmingpool liegen, umgeben von Bediensteten, die ihnen jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Aber nein – Prinz Frederic geht tatsächlich persönlich ans Telefon. Vielleicht ist das noch eine Angewohnheit aus seiner Zeit als Hans Robert Lichtenberg, bevor er dank Vermittlung und Bezahlung des Titel-Großhändlers ‘Konsul’ Hans-Herrmann Weyer von Prinzessin Marie Auguste adoptiert und damit zum Verwandten von Kaiser Wilhelm wurde. 

 

Jetzt tritt der deutsche Prinz an für die Nachfolge von Arnold Schwarzenegger, will Gouverneur von Kalifornien werden. Sein Wahlprogramm: Marijuana, Prostitution und kubanische Zigarren legalisieren und versteuern, die Homo-Ehe erlauben, die Grenze zwischen USA und Mexiko öffnen. Damit will er die knapp 20 Milliarden Dollar Haushaltsdefizit ausgleichen und sich die Stimmen von Latinos, Schwulen und Lesben sichern. In Kalifornien sind das ziemlich viele. Trotz eines ziemlich wirren Wahlkampfes hat der Prinz inzwischenüber zehntausend Unterschriften gesammelt. Sein Name wird im November höchstwahrscheinlich auf den Stimmzetteln stehen. Die Unterschriften müssen nur noch auf Rechtmässigkeit geprüft werden.    

Prinz Frederic klang jedenfalls ziemlich optimistisch und kampfeslustig am Telefon. Obwohl ich ihn – wie er mir lachend erzählte – beim Abendessen mit Gattin Zsa Zsa Gabor unterbrochen hatte. ‘Das machen wir jeden Abend – Abendbrot essen und dazu Nachrichten schauen. Meine Frau sitzt ja leider im Rollstuhl und kann mich beim Wahlkampf nicht begleiten.’ Seiner Prinzessin und First Lady Zsa Zsa gehe es gut, erklärte er auf meine Nachfrage. Sie hätten zwar 1986 aus reinem Geschäftssinn geheiratet ‘Ich wollte rein in die Hollywood High Society und sie wollte Prinzessin sein’, inzwischen sei aber eine große Liebe zwischen ihnen gewachsen und sie würden einander nie verlassen. Rührend! Den Wahlkampf führe er auch, um sein Blut in Wallung zu halten und jung zu bleiben. 

Bei soviel Plauderei mit einem Prinzen vergaß ich fast, nach einem Interviewtermin zu fragen. Den bekam ich dann aber doch – vor Beginn der Schwulen- und Lesbenparade in Hollywood. Bei der fuhr der Prinz in einer Kutsche mit. Eigentlich wollte ich an dem Tag direkt vom Interview in eine Kneipe zum Fußballschauen. Aber dann war überraschend ein Platz frei in der Kutsche und der Prinz fragte, ob ich nicht mitfahren wollte. Welche Reporterin kann schon die Einladung eines Prinzen ablehnen – selbst wenn es ein Wichtigtuer mit gekauftem Titel ist – mit ihm in der Kutsche in der Schwulenparade durch Hollywood zu fahren.

Ich wurde schwach, habe unglaubliche Töne gesammelt, während der Prinz bei über 30 Grad und wolkenlosem Himmel in Uniform majestätisch winkend Wahlkampf machte – und Deutschland hat gewonnen. 

 

 

 

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Ausgemustert

Als Ungedienter bleibt mir der komplizierte Kranichtanz des Garderegiments auf ewig rätselhaft. Vorige Woche bin ich aber doch zum Schloss gelaufen, um mir das Schauspiel anzutun. Denn die Bewachung der Königsfamilie war stets das edelste Privileg des Wehrpflichtigen. Und mit dieser stolzen Tradition ist es nun vorbei.

Genau 109 Jahre nach ihrer Einführung haben die Schweden die allgemeine Wehrpflicht ausgemustert. Stellvertretend für die vier Millionen Landsleute, die sich vor ihnen schon zu Lande, zu Wasser und in der Luft durch ihre „lumpen“ genannte Grundausbildung quälten, wurden Carl-Johan Grape, Mikael Löjdkvist und Kajsa Andersson mit Orden dekoriert. Logisch, dass die drei ausgesuchten Mustersoldaten den Streitkräften für´s Erste erhalten bleiben – als Logistikexpertin der Luftwaffe, Matrose auf einem U-Boot-Jäger und Scharfschütze in Afghanistan.

 

 

Teure Rüstung und starke Freiwilligenverbände waren für das neutrale Land lange Zeit selbstverständlich. Im Kalten Krieg standen bis zu 800 000 Mann unter Waffen. Mächtige Bunker wurden in die Felsen getrieben. Vielen Schweden unvergessen sind die Eskapaden des Fabian Bom. Der Komiker Nils Poppe spielte in den frühen Nachkriegsjahren den hyperaktiven Gefreiten, der seine Vorgesetzten mit  Eigenmächtigkeiten zur Verzweiflung bringt.

In Zukunft will man hoch spezialisierte Berufssoldaten mit der Landesverteidigung sowie den bewaffneten Einsätzen im Ausland beauftragen. Ganz famos gehe es mit der Rekrutierung voran, versichert Oberbefehlshaber Sverker Göranson. Doch das ist eine höfliche Übertreibung. Bei der ungedienten Jugend nämlich hält sich das Interesse am Berufsbild des Soldaten in Grenzen.

Mit martialischen Kinospots sucht die Truppe daher nach Verbündeten im Kampf gegen das Böse. Die zum Teil in Südafrika inszenierten und an der Heimatfront ziemlich umstrittenen Streifen garantieren spannende Momente bei der Jagd auf Piraten und versprechen Schlaufüchsen eine Karriere mit Biss. Als strategischer Partner sind Johan Måns und seine Kollegen vom Rekrutierungszentrum der Streitkräfte natürlich auch auf der auf der Computerspielmesse „Dreamhack“ im südschwedischen Jonköping vertreten. Im Schlachtenlärm von „World of Warcraft“ und „Counter-Strike“ suchen die Offiziere nach dem Ego-Shooter von morgen. Wenn es der guten Sache dient, kennt Schwedens Militär keine Berührungsängste.

 

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Kinnock beugt sich dem Steuerdruck

Helle Thorning-Schmidt hat ein Problem. Die Chefin der dänischen Sozialdemokaten hat ein Familienmitglied, das in Dänemark keine Steuern gezahlt hat: ihr Mann Stephen Kinnock. Der Sohn des Ex-Labour Chefs Kinnock ist Direktor des Weltwirtschaftsforums. Da das in der Schweiz ansässig ist und er auch dort arbeitet, hat er bisher im Niedrigsteuerland Schweiz und nicht im Hochsteuerland Dänemark seine Einkommensteuer gezahlt. Da er aber die meisten verlängerten Wochenenden in Dänemark verbringt, ist zumindest fraglich, ob das rechtens ist.

Der Fall sagt viel über das Staatsverständnis der Dänen und ihren Moralismus aus. Zum einen galt Sippenhaftung und der Politikerin Thorning-Schmidt, die in Dänemarknoch höhere Steuern befürwortet, wurde das Verhalten ihres Mannes vorgeworfen und das in einem Land wo Ehegattensplitting ein Fremdwort ist. Zum anderen machte eine Vorschrift der dänischen Steuergesetzgebung dem Ehepaar das Leben besonders schwer: Kinnock meinte nämlich, nicht genügend in Dänemark zu sein, um dort steuerpflichtig zu sein, da er bei einem verlängerten Wochenende nicht schon morgens in Kopenhagen ankäme und abends abreise, sondern An- und Abreisetag nur teilweise in Dänemark verbringe. Da hat er aber die Rechnung ohne den dänischen Steuerstaat gemacht, der hier sein Gewaltmonopol ausnutzt und sagt, er brauche Freitag auch nur eine Minute vor Mitternacht in Dänemark anzukommen, schon gelte das als ein kompletter Tag Anwesenheit im Land – gleiches gelte für die Abreise.

Wenn es aber darum geht für Reisen Pauschbeträge anzusetzen, dann lässt das dänische Finanzamt eine solche Rechnung nicht zu, sondern die Pauschalen dürfen nur für die Zeit berechnet werden, die jemand tatsächlich unterwegs ist. Doch statt das die Dänen sich darüber entzürnen, dass hier ein Staat in Gutsherrenart stets zum eigenen Vorteil rechnet, klagen sie lediglich über das unmoralische Verhalten der Familie der sozialdemokratischen Parteichefin. Ganz klar ist bis heute nicht, wo Kinnock denn nun seine Steuern zu entrichten habe. Natürlich spricht einiges für Dänemark, wo er wegen der Familie auch seinen Lebensmittelpunkt hat.Dieser Fall hätte eine Steilvorlage dafür sein können, dass dänische Steuersystem zu diskutieren, stattdessen hat sich Kinnock dem öffentlichen Druck (auf seine Frau) gebeugt und frewillig Steuern nachgezahlt. Das kann in DDänemark übrigens ohne Anlass jeder machen. Mehr dazu gibt es hier in meinem Artikel in der gestrigen Financial Times Deutschland.

 

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Party bei den Toten

Ein Konzert auf einem Friedhof? Einen Moment glaubte ich, ich hätte mich verlesen. Doch da stand es, schwarz auf weiß, in der E-Mail meiner Freundin Carol, einer resoluten älteren Dame, die nicht zu dummen Scherzen neigt. „It is a really nice event“, ließ sie mich wissen. „Let me know if you want to join us.“ Das wollte ich allerdings.

Stattfinden sollte der „nice event“ nachmittags auf dem Green-Wood Cemetery, einem 1838 gegründeten Waldfriedhof im Brooklyner Stadtteil Greenwood Heights. Das Gelände ist riesig – fast 200 Hektar – mit Seen, Teichen, Hügeln und vielen, vielen Bäumen. Nicht nur deshalb ist dieser Friedhof ein wenig anders als die meisten. Viele berühmte und manche exzentrische Persönlichkeiten sind dort beerdigt und bilden eine ewig ruhende illustre Gemeinschaft: der Dirigent Leonard Bernstein; der Boxer und Gangster „Bill the Butcher“; der Vater des US-Präsidenten Theodore Roosevelt; Lola Montez, die Geliebte des bayerischen Königs Ludwig I. In der Fassade des pompösen Eingangstores nistet seit Jahren eine Kolonie grüner Papageien. Angeblich sind die Vögel aus einem Flughafen-Container entwischt.

Konzertanlass war Memorial Day, ein Feiertag, mit dem Amerikaner der Soldaten gedenken, die in Ausübung ihres Dienstes gefallen sind. Ich erwartete deshalb eine Militärkapelle mit Marsch- und Trauermusik, als Zuhörer ein paar Veteranen in Uniform und eine ernste, würdevolle Atmosphäre.

Die Bühne und ein paar Stuhlreihen waren auf einem asphaltierten Platz aufgebaut. Weil es so heiß war, hatten sich allerdings die meisten Zuhörer in den Schatten der Bäume zurückgezogen. Ich traute meinen Augen kaum: Hunderte lagerten auf und zwischen Grabsteinen – Großfamilien mit Picknicktaschen, junge Leute mit Yogamatten, Herrenclubs mit Klappstühlen. Einige wenige hatten Miniaturen des Sternenbanners angesteckt oder Kleidung in den Nationalfarben weiß-rot-blau gewählt. Doch die meisten sahen aus wie auf einer gewöhnlichen Sommerfrische – Shorts, kurze Röcke, Flip-Flops.

Wir breiteten unsere Decken am Grab eines gewissen John Huzinec aus, verstorben am 7. August 2005. Dan, ein Freund von Carol, holte drei Tüten Popcorn, das die Friedhofsverwaltung neben der Bühne verkaufte. Uniformträger sah ich keine, und sie hätten sich vermutlich auch fehl am Platz gefühlt, denn die „ISO Symphonic Band“ und der „Brooklyn Youth Chorus“ hatten ein überaus ziviles Programm zusammengestellt: von der „Bridge over troubled water“ über Auszüge aus der West Side Story bis zur „Minnie from Brooklyn“, einer Variation des berühmten Jazzsongs „Minnie the Moucher“. Zwischen den Grabsteinen wippte und schnippte das Publikum, manche sangen mit. Und warum diese Liedauswahl? Einer der Beteiligten, Komponist oder Texter, hat auf dem Green-Wood Cemetery seine ewige Ruhe gefunden. Oder, wie es der Konzertmeister formulierte: er ist ein „Permanent Resident“. Eine hübsche, pragmatische Idee.

 

Mit zunehmender Dauer des Konzerts wurden die Sitten immer lockerer. Kinder balancierten auf den Grabsteinen, Erwachsene benutzten sie als Rückenlehne. Wie die Permanent Residents dazu standen, wird man nie erfahren, aber vielleicht finden sie es ja ganz gut, wenn mal Leben auf ihren Friedhof kommt. Der Gipfel war erreicht, als eine Gruppe dickbäuchiger Herren vor uns eine Flasche Wein entkorkte. Carol, die genüsslich ihr Popcorn verspeiste, zuckte nicht mit der Wimper. Nur wenn die Kinder zu laut kreischten, ärgerte sie sich. „Psst! Das ist doch ein Konzert“, rief sie mehrfach in Richtung der Eltern.

Weil der Green-Wood Cemetery reichlich 30 Gehminuten von meiner Wohnung entfernt liegt, hatte ich übrigens die Idee gehabt, mit dem Fahrrad dorthin zu fahren. Das sei keine gute Idee, hatte mich Carol belehrt. Radfahren ist auf dem Friedhof streng verboten. Aus Pietätsgründen.

 

Fotos: Christine Mattauch

 

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Brütende Hitze und kein Strom

Es hat schon Tradition, dass man im Irak im Sommer auf den Dächern schläft. Wenn das Thermometer über 50 Grad steigt und die Schwüle nicht mehr aus den Häusern weicht, bleibt einem nichts anderes übrig. Nur in den schlimmsten Terrorjahren 2006/2007 wurde es gefährlich. Mörsergranaten und Sprengsätze töteten die Menschen zuweilen im Schlaf. Mit der verbesserten Sicherheitslage hatten nun viele gehofft, dass auch dieser Sommer besser wird und etwas Normalität in ihr Leben bringen werde. Doch darin fühlen sie sich getäuscht. Nach wie vor kommt nur wenig Strom aus der Steckdose, manchmal tagelang gar nichts. Zum Betreiben von Klimaanlagen reicht es kaum. Die Menschen müssen wieder auf ihren Dächern schlafen, um wenigstens in den Morgenstunden eine leichte, erfrischende Brise einatmen zu können.

Doch die Iraker wollen sich das nicht mehr gefallen lassen. Der Stromnotstand führt zu immer stärkeren Protesten. Besonders im Süden Iraks, wo derzeit Temperaturen von bis zu 55 Grad Celsius herrschen, gingen schon Tausende wütend auf die Straße. Es gab Tote und Verletzte. Der Energieminister trat zurück, nachdem Demonstranten in Basra, Nassarija und auch Bagdad dies gefordert hatten. Der noch amtierende und um sein politisches Überleben kämpfende Premierminister Nuri al-Maliki rief seine Landsleute zu Geduld auf und machte seinen Ölminister nun auch verantwortlich für den Strom. Dieser drehte kurzerhand den Saft für die Reichen und Begünstigten ab. Seitdem hat die schwer bewachte Grüne Zone, Ministerquartiere und westliche Botschaften nicht mehr Strom als alle anderen in der Hauptstadt auch – nämlich weniger als sechs Stunden am Tag. Zur Begründung sagte Hussein al-Scharistani, dass die dort Wohnenden genug Möglichkeiten hätten, ihren Bedarf mit Generatoren zu decken.   

Jedoch beheben die temporären Maßnahmen die Misere nicht wirklich. „Das Elektrizitätsproblem ist nicht innerhalb von ein, zwei Tagen zu lösen“, hat Premier Maliki realistisch erkannt. „Die Kraftwerke, die von Siemens und General Electric gebaut werden, sind in frühestens zwei Jahren fertig“,  sagte er am Wochenende im staatlichen Fernsehsender Iraqia mit Hinweis auf die Arbeiten der Deutschen und Amerikaner, um die Stromversorgung endlich zu verbessern. Gleichwohl konnte der Regierungschef bis heute nicht die Korruptionsvorwürfe ausräumen, die sein Regierungspartner, die Schiitenallianz INA, gegen den Energieminister erhoben hatte. Demnach sollen in den letzten vier Jahren seiner Amtszeit Millionen von Dollar in finstere Kanäle anstatt in die Stromversorgung geflossen sein. Die US-Administration hat seit dem Einmarsch vor sieben Jahren 4,6 Milliarden Dollar in die Elektrizität gesteckt, 40 Prozent ihrer gesamten Wiederaufbaukosten für den Irak. Im irakischen Staatshaushalt sind dieses Jahr rund drei Milliarden Dollar eingeplant, etwa ebensoviel wie vergangenes Jahr. Nicht alles kann dem Terror zugeschrieben werden, der zwar vieles verwüstete und den Aufbau erheblich behinderte. Dass es aber selbst während des Kuwait-Krieges Anfang der 90er Jahre und in der gesamten Zeit des Embargos danach mehr Strom gab als heute, leugnet im Irak derzeit niemand.

 

 

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Wir waren Weltmeister

 

Ach, es war schön, wenn auch tief in der Nacht. Der Rausch ebbt langsam ab. Als Neuseeland drei Mal beinahe Weltmeister wurde, hatten die Fans daheim zwar mit der Zeitverschiebung und nassem Winterwetter zu kämpfen, aber von innen wärmte sie die Siegersonne: Nichts als eitel Freude, Stolz und Gloria in den letzten zwei Wochen. Die unscheinbaren Kiwis, 78 auf der Weltrangliste, unentschieden gegen Italien – das fühlt sich fast so gut an wie damals 1953, als Edmund Hillary als erster Mensch den Mount Everest erklomm.

Neuseeland hat schon wesentlich größere sportliche Erfolge eingeheimst, wie den America’s Cup und den Rugby World Cup (reden wir nicht darüber, dass letzterer schon 23 Jahre her ist – geschenkt). Aber keine olympische Goldmedaille hat den gleichen Mediendonner bewirkt wie das das Eins-zu-Eins der All Whites letzte Woche. Alle, die Fußball lieben, lieben die Kiwis. Er tut gut, der Ritterschlag der großen Welt. Wie sagte unser – jawohl, unser, schließlich bekam ich noch gerade rechtzeitig den Doppelpass ausgehändigt – Kapitän Ryan Nelsen so richtig: „Neuseeland ist jedermanns Lieblingsmannschaft, nach der eigenen.“

Und alle Kiwis lieben plötzlich Fußball. Mehr als ein Vierteljahrhundert durften sie nicht dabei sein, dann traten sie quasi über Nacht die Nachfolge Prinzessin Dianas an und wurden Könige der Herzen. Für einen kurzen, aber historischen Moment ist Rugby zum Mauerblümchen im nationalen Psychogramm geschrumpft. Selbst erzkonservative Traditionalisten schätzen, dass ‚Footy‘ seit diesem Juni einst so beliebt werden könnte wie Rugby, auch wenn es zwei Generationen dauert. Eine weiße Revolution.

Premierminister John Key schickte Trainer Ricki Herbert vor dem Spiel in Rustenburg sechs SMS-Nachrichten und erwog, einen Nationalfeiertag auszurufen. Medienstrategen rechnen bereits aus, wie viele hundert Millionen Dollar es der Marke Neuseeland gebracht hat, bis in die Favelas Brasilien gebeamt zu werden. Allein auf Facebook bekannten sich nach dem Spiel gegen die Slowakei Tausende als neue Fans von Aotearoa, dem Land der langen weißen Wolke und der kurzen weißen Überraschung.

Die aus den Safariparks zurückgekehrten Spieler werden gefeiert, bejubelt und in den Schulen herumgereicht. Jede Stadt ist stolz auf ihren persönlichen All White. Jeder kennt jemanden aus dem Team über zwei Ecken, sogar wir: Die Zwillingsschwester einer Freundin ist die Mannschaftsärztin, und wir trinken regelmäßig im Haus von Ryan Nelsen einen Milchkaffee – als Besucher der dort ansässigen deutschen Mieter. Auch die Australier, die bereits die Urheberschaft der Pavlova-Torte, Schauspieler Russell Crowe und Pop-Oldies Crowded House an sich gerissen haben, konnten es mal wieder nicht lassen und kassierten die Heldentat des kleinen Rivalen einfach für sich ein. Unglaublich – 4:0 gegen Deutschland im Eröffnungsspiel verloren, aber dann frech titeln, so wie der Sydney Morning Herald: „Australasia 1, Slovakia 1“. Ach, wir sehen das gelassen.

 

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Fieber

 

 

Die ersten Anzeichen gab es schon vor Wochen. Als Überlebende erkannte ich sie sofort und wusste: Auch dieses Mal gab es kein Entrinnen; um verschont zu bleiben, brauchte es einen extrem guten Widerstand.

 

Denn aus dem ersten kleinen orangefarbenen Fähnchen, das verschämt hinterm Wohnzimmerfenster in den Blumentopf gesteckt worden war, ist ein Fahnenmeer geworden, das ganze Strassen überspannt. Nicht mehr bloss Gartenzäune und Laternenpfähle werden in orangefarbene Folie verpackt, inzwischen sind es ganze Häuserfassaden.

 

Zweifel erübrigen sich: Das Oranjefieber grassiert mal wieder in aller Heftigkeit, gefrässig und schonungslos erfasst es das ganze Land: Schafe bekommen orangefarbene Tupfer, in Springbrunnen plätschert orangefarbenes Wasser, Hundebesitzer stecken ihren Waldi in den dreiteiligen Oranje-Anzug für Hunde, und für 39,90 kann man sich ein oranje-Wellensittich-Pärchen kaufen und damit seine eigene Oranje-Elf züchten.

 

Am heftigsten wütet das Oranjefieber in den Supermärkten: Dort werden Oranje-Törtchen feilgeboten, Oranje-Pudding und als Digestif Oranjebitter. Als Hauptgericht isst der echte Oranjefan in diesen Tagen vorzugsweise Karotten. Und selbstverständlich gibt es auch oranje-Klopapier.

 

Um die Fussballfans an sich zu binden, hat die grösste Supermarktkette des Landes diesmal den „Beesie“ eingeführt, zu deutsch etwa „Tierchen“ oder „Biestlein“ – ein kleines haariges orangefarbenes Ungeheuer mit Kulleraugen, das sich am ehesten mit einer Raupe vergleichen lässt und sich nicht nur um den Finger wickeln lässt, sondern auch um Kühlschranktürgriffe, Antennen,  Kerzenständer, Heizungsrohre, Bürolampen….einer Mäuseplage gleich erobern sie ganze Häuser vom Keller bis zum Obergeschoss.

 

Mir kommt sowas nicht ins Haus. Deshalb gebe ich alle meine „Beesies“ weg an bettelnde Kinder, die vor dem Supermarkt Spalier stehen. Statt dessen habe ich Soziologen zu Rate gezogen, um herauszufinden, was es mit dem Oranjefieber nun eigentlich genau auf sich hat. Man will ja Verständnis entwickeln für seine Mitmenschen.

 

Es geht, so liess ich mir sagen, um eine Art Ersatzkarneval: Die nüchternen Kalvinisten, die das Phänomen Karneval nicht kennen, würden Fussball-Europa- oder Weltmeisterschaften als Ventil benutzen. So könnten sie sich ab und zu doch so richtig ausleben. Hinzu komme ein grosses Bedürfnis nach Mythen und Glaube in einer säkularisierten Welt. Das, so die Soziologen, habe den Fussball zu einer Ersatzreligion gemacht. 

 

Erstmals ausgebrochen ist das Oranjefieber in seiner heutigen Form 1988, als die Niederländer Europameister wurden. Damit konnten sie endlich das Trauma der WM-Niederlage von 1974 verarbeiten, als sie im Finale mit 2 zu 1 gegen Deutschland unterlagen. Seitdem leben sie ihre nationalen Gefühle bei Fussballturnieren ungeniert aus, immer in der Hoffnung, der Welt erneut zeigen zu können, worin ein kleines Land ganz gross sein kann.

 

Dass das Oranjefieber immer heftiger zu wüten begann, liegt den Soziologen zufolge an Europa und der Globalisierung: Die sorgen dafür, dass die verunsicherten Niederländer sich mehr und mehr auf sich selbst besinnen, um in der Extase des Oranjefiebers ihr Selbstwertgefühl aufzubauen. In einer immer anonymer werdenden Gesellschaft, in der die Menschen verstärkt neben- statt miteinander leben, verschaffe das Oranjefieber ausserdem ein angenehmes Gefühl der Zusammengehörigkeit.

 

Naja, über das „angenehm“ lässt sich streiten. Als ich neulich im Vorbeiradeln entdecken musste, dass auch mein Nachbar infiziert ist und quer durch sein Wohnzimmer eine Leine mit Oanje-Fähnchen gespannt hat, packte mich das kalte Entsetzen.

 

Doch dann schloss ich meine eigene Haustür auf – und als ich in die Küche spähte, traf mich fast der Schlag: Denn was grinste mich da ungeniert an? Die Kulleraugen unzähliger „Beesies“, die mein Freund heimlich gespart und in der ganzen Küche verteilt hatte. Kulleraugen, die alle dasselbe zu sagen schienen: „So, jetzt haben wir auch Dich!“

 

 

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Porno, Peterpan und Jesus Christus

Stellen Sie sich vor, Ihr Laptop wird gestohlen. Nicht nur, dass all Ihre darauf gespeicherten Arbeitsdaten weg sind – nein, dummerweise finden sich dort auch noch ein paar ziemlich private Filmchen, die Sie beim Sex mit Ihrer Freundin zeigen. Und mit ihrer Ex-Freundin. Noch pikanter wird die Geschichte dadurch, dass Sie einer der erfolgreichsten Sänger in einem musikverrückten Land mit 240 Millionen Einwohnern sind. Und Ihre Freundin eine der bekanntesten Fernsehmoderatorinnen. Genauso wie die Ex-Freundin. Und ein paar Monate später tauchen diese Videos auf einmal bei Youtube auf…

Genau dies soll dem Leadsänger der indonesischen Popband Peterpan geschehen sein – der zugegebenermaßen auch ohne Privatvideo eine ziemlich sexy Erscheinung abgibt. Er jedoch, Künstlername Ariel, bestreitet genauso wie seine Liebschaften, dass sie auf den besagten Filmchen zu sehen seien. Deswegen lautete die offizielle Sprachregelung bislang „Personen, die Ariel etc. ähnlich sehen“. 

Kein Grund für die Moralapostel im Land, sich zurückzuhalten: Politiker islamischer Parteien wittern die Chance, zum ersten Mal ein umstrittenes Antipornographiegesetz in einem prominenten Fall anzuwenden und einige Bürgermeister haben bereits Auftrittsverbote für Peterpan in ihren Städten angekündigt. Eine ganz neue Wendung nahm der Fall, als vor einigen Tagen Kommunikationsminister Tifatul Sembiring von der islamischen PKS-Partei einen Vergleich mit Jesus Christus zog: Die Frage, ob Ariel und Co. oder nur ähnlich aussehende Doubles auf den Videos zu sehen seien, sei so ähnlich wie die Debatte zwischen Christen und Muslimen, ob Jesus selbst oder nur ein ähnlich aussehender Mann gekreuzigt worden sei. Immerhin hat der Minister es mit dieser Bemerkung geschafft, auch diejenigen Bürger und Intellektuellen aufzurütteln, die sich bislang nicht für die auf Tausenden von Handys kursierenden Sex-Filmchen interessiert hatten.

Die öffentliche Diskussion dreht sich nun vor allem darum, ob Minister Sembiring nicht trotz seines viel genutzten Twitter-Accounts etwas Nachhilfe in Kommunikation benötigt. Und ob Ariel Peterpan, der mittlerweile von der Polizei festgenommen wurde, im übertragenen Sinne gekreuzigt werden soll – sozusagen als Märtyrer im Sinne der Gegner des Antipornographiegesetzes. Und ob der ganze „Peterporn“-Skandal nicht vielleicht doch nur dazu dient, von einigen hochkarätigen Korruptionsskandalen abzulenken, in die nicht nur diverse, ach so moralische Politiker, sondern auch die Polizei selbst verwickelt sind…

 

 

 

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Diplomatie und Kunst

Deutschlands Mann in Hongkong, Generalkonsul Frank Burbach, ist ein doppelt begabter Mensch. Er kann seinen diplomatischen Pflichten nachkommen, und er kann Bilder malen. Nach Ansicht des Hongkonger Goethe-Instituts malt Herr Burbach sogar so gute Bilder, dass dieser jüngst seine Werke in den Goethe-eigenen Ausstellungsräumen zeigen durfte. „Transition“ hieß die Ausstellung – weil sich Herr Burbach gerade in einem Übergang befinde, schreibt die Goethe-Webseite. Sein Hongkonger Posten geht nämlich gerade zu Ende und er selbst in Pension.

 

 

 

Über die Qualität der Burbachschen Kunstproduktion möchte ich mir kein Urteil erlauben (böse Zungen sprechen von „Sonntagsmalerei“). Ich weiß nur, dass es für andere in Hongkong ansässige deutsche Kunstschaffende äußerst schwer ist, in der durchaus renommierten Goethe-Galerie ausstellen zu dürfen. Ich weiß auch, dass das Goethe-Institut die „Präsentation deutscher Kultur im Ausland und interkulturellen Austausch“ (Goethe-Webseite) betreiben will. Ich wusste bislang nicht, dass sich das öffentlich finanzierte Goethe-Institut auch als Plattform für die Kunstaspirationen von Mitarbeitern in befreundeten Einrichtungen vor Ort versteht.

Übrigens ist auch die Frau des scheidenden Generalkonsuls, Eva Meier, eine Künstlerin. Sie tritt verschiedentlich als Brecht-Interpretin auf, gerne auch in deutschen Botschaftsräumen in Asien.

 

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Warum die Römer ständig auf meine Urgroßeltern schimpfen

Ich habe meine Urgroßeltern nie kennengelernt, aber seitdem ich in Rom lebe, leidet unser Verhältnis sehr. Wie soll es auch anders sein, wo sie, also die seligen Karl-Theodor, Hugo, Franziska, Matilde und die anderen vier, ständig für meine Fehltritte verantwortlich gemacht werden? Ständig höre ich es, wenn ich auf dem Roller angehupt werde oder wenn ich selbst jemanden zur Rechenschaft hupe. „Mortacci tua!“ 

„Mortacci tua“, das heißt so etwas wie „Deine unwürdigen verstorbenen Verwandten!“ Es ist die fieseste Beleidigung in Rom und gleichzeitig die am meisten verbreitete; das will etwas heißen, denn die Römer fluchen und schimpfen die ganze Zeit. Wer also auf ein gutes Verhältnis zu den eigenen Ahnen wert legt, sollte sich in Rom unauffällig verhalten. Denn sind sie aufmüpfig – etwa indem sie an der roten Ampel halten – werden nicht nur Sie selbst, sondern ihre ganze Sippschaft der vergangenen Jahrhunderte verflucht. 

Erst gestern hörte ich wieder den auf ein prägnantes „’Cci tua!“ reduzierten Fluch, als ich zugegebenermaßen fälschlicherweise rechts blinkte und links abbog. Weil ich aber partout nicht den Zusammenhang zu meinem Urgroßvater Karl-Theodor erkennen wollte, schimpfte ich auf deutsch zurück, etwas in die Richtung: „Du mich auch!“. 

Aber „Cci tua!“ kann ich und noch viel mehr römisches, seitdem ich einmal die finstere Trattoria „La Parolaccia“ in Trastevere besuchte. Dass das Lokal „Schimpfwort“ heißt, sagt eigentlich schon alles: Die Kellner beschimpfen die Gäste und die zahlen dafür (und für überteuertes Essen). Die Kellner rufen „Hier, Deine Spaghetti, Du Idiot“, wenn sie das Essen bringen, oder „Kannst mich mal!“ wenn man sie um einen weiteren Krug Wein bittet. Besonders herzlich werden neue Gäste begrüßt, so auch ich, als ich zum ersten Mal das Lokal betrat. Ein Kellner griff zum Mikrofon und rief – hörbar für alle Gäste: „Schaut Leute, da kommen zwei Oberidioten, ihr seid die hässlichsten Typen, die ich je gesehen habe, es ist zum Kotzen, dass ihr hier seid.“ Schallendes Gelächter des ganzen Lokals. Und natürlich mischte der Kellner unter seine Flüche auch ein „Mortacci tua!“ und ließ selbst also selbst an diesem Abend meine Urgroßeltern, Karl-Theodor, Hugo, Franziska, Matilde und die anderen vier nicht in Frieden.  

Bevor ich ging, traute ich mich, einen Kellner anzusprechen. Erst fragte er, was ich denn wolle, ich hässlicher Idiot, dann aber erklärte er mir allen ernstes: Wer sich in Rom besonders gern mag, der beschimpft sich. Seither gehe ich recht unbeschwert mit Schimpfwörtern um und mit dem Kassierer in meiner Kaffeebar hat sich ein seltsames Morgenritual ergeben. Er fragt mich, „Was nimmst Du, pezzo di merda?“, worauf ich ganz entspannt sage: „Mortacci tua, einen Cappuccino, stronzo!“ 

Ich kann meine Urgroßeltern, Karl-Theodor, Hugo, Franziska, Matilde und die weiteren vier, also beruhigen: Ich verfluche mindestens so oft die Verwandten der andern, wie ihr verflucht werdet! 

 

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