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Von Kerstin Schweighöfer, 5. März 2005, Deutschlandfunk
Dieser Mord hat die Niederlande in eine tiefe Krise gestürzt. Und doch erinnert 2005 nichts mehr an dieses Verbrechen vom 2. November 2004 in der Linnäusstraat von Amsterdam, das den Gesetzen eines archaischen Racherituals folgte – mit Todeschüssen, aufgeschlitzter Kehle und einem islamistischen Brandbrief.
Das Opfer: Theo van Gogh. Künstler. Regisseur. Provokateur. Seine verletzenden, oft schockierenden Verbalattacken richteten sich gegen Politiker und Kirchenleute gleichermaßen. Und immer öfter: gegen Muslime. Gemeinsam mit der aus Somalia stammenden niederländischen Abgeordneten Ayaan Hirsi Ali hatte er in einem Film die Unterdrückung der Frauen in der islamischen Welt angeprangert und damit eine erregte Debatte ausgelöst.
Der Täter: Mohamed B., 26 Jahre alt. In Amsterdam geboren und zur Schule gegangen. Mitarbeiter einer Stadtteilzeitung. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001, die auch in den Niederlanden zu heftigen Anfeindungen von Muslimen führten, entwickelte Mohamed B. immer radikalere Ideen. Der Mord an dem rechtspopulistischen Politiker Pim Fortuyn mag ihm als Vorbild gedient haben: Fortuyn war mit derben Sprüchen gegen Multikulturalismus und Toleranz zu Felde gezogen und im Mai 2002 von einem Niederländer ermordet worden.
Die Stimmung ist umgeschlagen. Von Multikulti will niemand mehr etwas wissen. Nicht in den bürgerlichen Stadtvierteln der Einheimischen. Und nicht in den sogenannten schwarzen Vierteln, wo die Zuwanderer längst in der Mehrheit sind. Kerstin Schweighofer ist durch das Land gereist.
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„Deltas sind dynamische Systeme. Die Sedimente, die der Fluss an die Küste spült, werden mit
der Zeit zusammengepresst, der Boden sinkt. Früher wurde das
ausgeglichen, weil der Fluss über die Ufer trat und immer wieder neue
Sedimente ins Delta spülte. Ein steigender Meeresspiegel wäre damals
kein Problem gewesen, der Nachschub hätte Kompression und Erosion
ausgeglichen. Aber jetzt kommen keine Sedimente mehr, der Meeresspiegel
steigt und nichts gleicht die Senkung aus. Die Küste weicht zurück.“
Seit den 1950er-Jahren wird der Ebro aufgestaut – um Strom zu erzeugen, zur
Speicherung von Trinkwasser und um die Landwirtschaft mit Wasser zu
versorgen. Dadurch fehlen laut Berechnungen der Polytechnischen
Universität Katalonien jedes Jahr 300.000 Tonnen Sand. Das Delta ist vom
Verschwinden bedroht. „Wir haben einfach zu spät reagiert. Der Strand
ist so fragil, dass jeder Sturm ihn zerstören kann, die Reisfelder
überspült und Infrastrukturen geschädigt werden können.“
Auch Juan Carlos Cirera hat die Folgen damals gespürt. Er ist Direktor der
Finca Riet Vell, eines Landwirtschaftsprojekts der
Umweltschutzorganisation SEO Birdlife. Auf den Feldern wird seit etwa 20
Jahren ökologischer Reis angebaut, an einer Lagune können Ornithologen
Flamingos und Kommodore beobachten. Cirera führt zu einem Messpunkt,
über den Satelliten die Absenkung des Bodens ermitteln. Drei bis vier
Millimeter sind es jährlich, dazu kommt ein steigender Meeresspiegel von
vier Millimetern.
„Das ist fast ein Zentimeter pro Jahr! Und wir sind hier gerade einmal einen knappen Meter über dem Meeresspiegel.
Das bedeutet, dass wir in 10, 15, 20 Jahren dem Meer ein Drittel näher
sind – mit allem, was das mit sich bringt: salzigere Böden, Wasser, das
von den Stürmen auf unser Land gedrängt wird. Das ist eine astronomische
Geschwindigkeit.“
Wird die Entwicklung nicht gestoppt, könnte in 50 Jahren in der fruchtbaren Ebene keine Landwirtschaft mehr möglich sein.
„Wir brauchen mehr Sedimente, wir brauchen ausreichend organische Materie,
damit sich neuer Boden bilden kann und so natürliche Barrieren gegen das
Meer geschaffen werden. Dem kann man nur mit langfristigen Lösungen
begegnen. Eine riesige Staumauer zu bauen, bringt nichts. Das ist nicht
nur teuer und wegen des Untergrunds technisch unmöglich, sondern
zerstört auch die Landschaft, die Feuchtgebiete und mindert den Wert
dieser Landschaft.“
„Wie viele Sedimente tatsächlich in den Stauseen liegen, weiß niemand so genau.
Laut dem Studienzentrum für öffentliche Infrastrukturen haben wir zwölf
Prozent der Wasserspeicherkapazität verloren. Aber das ist regional sehr
unterschiedlich: In Südspanien geht man von 30 Prozent aus, beim Ebro,
einem der wichtigsten Flüsse, ist es ein Viertel. Das Problem ist aber,
dass die Messmethoden nicht genau sind.“
„Das Problem ist, dass bei Ausleitungen oft Umweltschützer protestieren oder eine Gruppe von
Fischern, weil das Wasser ja „schmutzig“ ist. Uns fehlt es einfach an
einer ganzheitlichen Vision – und an einem klaren gesetzlichen Rahmen.
Bei einem Hochwasser protestiert niemand, wenn das Wasser braun ist.
Aber wehe es kommt aus einem Staudamm. Solange ein Fischer einen
Talsperrenbetreiber verklagen kann, weil das Wasser braun ist, wird der
seine Abflüsse nicht öffnen.“
Solche Interessenskonflikte erschweren den Kampf gegen Erosion auch an der katalanischen Küste.
Knapp 60 Prozent des Küstenstreifens sind auf den ersten hundert Metern
bebaut. Dabei hat auch dort das Sturmtief Gloria im Januar 2020 gezeigt,
wie fragil die Infrastrukturen an der katalanischen Küste sind. Die
Wellen zerstörten Hafenanlagen und unterspülten die Strandpromenaden.
Die Folgen der Klimakrise so hautnah zu erleben, war für die
Lokalpolitik ein Schock. In der Provinz Tarragona schlossen sich 18
Gemeinden zusammen, um gemeinsam Lösungen zu entwickeln.
Aron Marcos hofft, dass die Dünen den Strand nachhaltig sichern. Nicht nur aus Gründen des
Klimaschutzes, sondern auch aus wirtschaftlichen Interessen.
„Wenn wir den Strand verlieren, verliert Calafell eine wichtige
Einnahmequelle: Das gesamte Dorf lebt vom Tourismus. Und der Rohstoff
des Tourismus ist nun einmal der Sand. Wir haben in den letzten zehn
Jahren zwar die Hälfte der Oberfläche eingebüßt, aber das war ein
Strand, den wir in den 1990er-Jahren künstlich aufgeschüttet haben.
Jetzt ist er Strand wieder in seinem natürlichen Zustand. Den können wir
erhalten, wenn wir bestimmte Maßnahmen einhalten.“
Dass sich die Nutzfläche ihres Stadtstrands nicht nur durch die Erosion, sondern
auch durch die Renaturierung verkleinert hat, stört – so sagt Aron
Marcos – weder Besucher noch Touristen. Ein paar Anwohner hätten zwar
über die Kunstdünen mitten im Ort gemurrt, insgesamt aber hielten sich
die Klagen in Grenzen.
„Wir haben weniger Beschwerden bekommen,
als wir erwartet haben, aber mehr als wir uns wünschen. Aber tatsächlich
beeinflussen solchen Maßnahmen ja nur einen Teil des Strandes,
schränken also seine Verwendung nicht ein. Alle wollen so nah wie
möglich ans Wasser. Außerdem hat es uns geholfen, dass die
Nachbargemeinden ähnliche Strategien befolgen: Wir entfernen
beispielsweise alle nicht mehr die Algen und Tangreste, die im Winter
angespült werden. Denn auch sie helfen, das Gleichgewicht zu bewahren.
Wenn der Strand des Nachbarn genauso aussieht wie deiner, beschwert sich
auch niemand.“
Die Promenade in Calafell ist nur ein kleines Beispiel für die
Herausforderungen, die auf Anwohner und Verwaltung in den nächsten
Jahren zurollen. Im Maresme, nördlich von Barcelona, fährt die
Regionalbahn direkt neben der Küste. Angelegt im Jahr 1848 ist sie die
älteste Spaniens und noch heute mit mehr als 100.000 Nutzern eine der
meist befahrenen Strecken. Aber jetzt schlagen hier bei Stürmen die
Wellen über die Gleise, der Boden erodiert. Es ist nur eine Frage der
Zeit, bis die Gleise ins Hinterland verlegt werden müssen. Anfang des
Jahrtausends wurde erstmals über eine Verlegung diskutiert, aber das
Projekt verschwand in der Schublade: zu teuer, ergo unpopulär.
Für Carles Ibañez vom Zentrum für Klimaresilienz ist es an der Zeit, diese
Pläne wiederhervorzuholen. „Es ist es sowohl politisch wie auch
wirtschaftlich absurd, jetzt nicht zu handeln. Denn nichts zu tun, macht
alles nur noch teurer. Wenn wir nicht jetzt in den Umbau investieren,
werden wir für Reparationen und Entschädigungen aufkommen und dann
trotzdem neu bauen, trotzdem investieren müssen.“
Der Wissenschaftler fordert einen parteiübergreifenden Pakt für Küstenschutz
in ganz Spanien – und zwar für die nächsten 30 bis 40 Jahre
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Moderation:
Im Jahr 2002 schrieben die beiden amerikanischen Politologen Ruy Teixeira [sprich „Rai Tejschera”] und John Judis ein viel beachtetes Buch mit dem Titel The Emerging Democratic Majority, „Die bevorstehende demokratische Mehrheit“. Aufgrund demografischer Veränderungen in den USA stünde der Demokratischen Partei eine solide und dauerhafte politische Mehrheit bevor. Es kam anders, wie wir alle wissen. Nach 21 Jahren haben die beiden ein neues Buch über die Partei herausgebracht: Where Have All The Democrats Gone, zu Deutsch vielleicht: „Sag mir, wo die Demokraten sind“. Christoph Drösser hat es gelesen.
Sprecher:
Natürlich müssen sich Teixeira und Judis immer wieder für ihre Fehlprognose von 2002 rechtfertigen. Dabei sah es zunächst ganz gut aus, erzählte John Judis kürzlich bei einer Lesung im Politics and Prose Bookstore in Washington.
O-Ton John Judis:
In 2006, when Democrats take back the Congress, and then in 2008, when Obama wins, we were heralded as prophets and seers …
Sprecher darüber:
Ab 2006 erzielen die Demokraten eindrucksvolle Wahlsiege, Obama zieht ins Weiße Haus ein, und die beiden werden als Propheten gefeiert. Aber schon bei den Kongresswahlen 2010 gab es einen herben Rückschlag.
O-Ton Judis:
… and then lo and behold, in 2010, doom! The Republicans take back the House, and it suddenly starts to become apparent to us that our majority was not as solid as we thought it was.
Sprecher:
Die Autoren hatten vorhergesagt, dass neue, wachsende Wählerschichten – vor allem berufstätige Frauen, Schwarze und Latinos – für eine solide demokratische Mehrheit sorgen würden, solange etwa 40 Prozent der weißen Arbeiterschaft der Partei treu blieben. Aber diese Arbeiter, vor allem in den Staaten im mittleren Westen, liefen in Scharen zu den Republikanern über, was schließlich zur Präsidentschaft von Donald Trump führte.
Die Autoren verhehlen nicht, dass sie selbst links stehen, im Sinne einer sozialdemokratischen oder gewerkschaftlichen Tradition, und sie werfen den Demokraten zunächst einmal vor, dass sie sich zu sehr an die Eliten der Finanzwirtschaft herangeschmissen hätten, an Silicon Valley und Hollywood, an die Gewinner der Globalisierung – und dass sie dabei die Menschen in den ehemaligen Industriezentren aus dem Blick verloren hätten.
Zitator:
„Viele Menschen in den deindustrialisierten Städten und Kleinstädten in der Mitte Amerikas sind wesentlicher Elemente ihrer Identität beraubt worden. Früher hatten sie eine lebenslange Beschäftigung in einem großen Unternehmen, von dem sie erwarteten, dass auch ihre Kinder dort arbeiten könnten. Sie gingen nach der Arbeit in dieselben Bars und spielten an den Wochenenden in Softball- oder Bowling-Ligen, die oft mit ihren Jobs verbunden waren … Vieles von diesem gemeinsamen Leben ist verschwunden. Sie wurden auf die grundlegendsten Elemente ihrer Identität zurückgeworfen: Nation, Familie und Glaube, die Autos, die sie fahren, oder die Waffen, die sie besitzen und die ihr Heim und ihre Familie schützen.”
Sprecher:
Der schlimmste Ausdruck dieser Ignoranz, ja Verachtung gegenüber diesen Menschen sei Hillary Clintons Ausspruch bei einer Wahlveranstaltung 2016 gewesen, sagt Ruy Teixeira.
O-Ton Ruy Teixeira:
She refers to Trump supporters as a basket of deplorables, boy that was like, she was already in trouble with these voters, but that kind of sealed the deal.
Sprecher:
Die Hälfte von Trumps Wählern gehöre in einen „Korb der Bedauernswerten”, a basket of deplorables. Die seien rassistisch, sexistisch, homophob, xenophob und islamophob. Das besiegelte den Wahlsieg Donald Trumps.
Auch in anderen Ländern sind die Wähler von den etablierten Parteien weg in die Arme populistischer Parteien gelaufen. Aber die Autoren benennen eine US-amerikanische Besonderheit, die zur extremen politischen Spaltung des Landes geführt habe.
Zitator:
„Die amerikanischen politischen Parteien unterscheiden sich von den europäischen Parlamentsparteien. Sie haben keine Programme, die ihre Mitglieder binden. Sie werden auch von Spendern, Lobbyisten, Wirtschaftsverbänden, Stiftungen und Gewerkschaften, politischen Gruppen und Think Tanks, Aktivistenorganisationen, privaten und sozialen Medien und mächtigen Einzelpersonen beeinflusst. Wir nennen das die Schattenpartei.“
Sprecher:
Bis in die 90er Jahre war das eine übersichtliche Menge von Interessen- und Lobbygruppen, bei den Demokraten vor allem die Gewerkschaften. Nun aber bestehe die Schattenpartei vor allem aus Aktivistengruppen, die sich für Frauenrechte und sexuelle Minderheiten einsetzen, der Black-Lives-Matter-Bewegung, Klimaschutzinitiativen.
Die Autoren nehmen an keiner Stelle das Wort woke in den Mund, aber sie machen klar, wen sie für den Niedergang der Demokraten verantwortlich machen: die Eliten an den Küsten, gebildet und oft wohlhabend, die mit ihren Minderheitenthemen große Wählerschichten abstoßen.
Zitator:
„Die neue Bewegung und ihre Verbündeten haben die einfache Forderung nach Frauen- oder Homosexuellenrechten durch eine Buchstabensuppe sexueller Bezeichnungen wie LGBTQIA+ ersetzt. Für die meisten Amerikaner, einschließlich derer, die die Demokraten repräsentieren und anziehen sollten, sind diese Begriffe unverständlich und in einigen Fällen, wie etwa beim Begriff ‚schwangere Menschen‘, schlicht beleidigend.“
Sprecher:
Man könnte boshaft sagen: Hier ziehen zwei altlinke weiße Männer mal so richtig vom Leder gegen alles, was sie an der politischen Korrektheit der jüngeren Generation stört, die lieber über gendergerechte Sprache diskutiert, als Machtverhältnisse infrage zu stellen. Diese Minderheit mache sechs bis acht Prozent der US-Gesellschaft aus, habe aber die Demokratische Partei fest im Griff. Und bei den Republikanern sei es nicht viel anders: Beide Lager würden von ihren Schattenparteien ins linke und rechte Extrem gedrängt, während die meisten Wählerinnen und Wähler politisch in der Mitte stünden.
Daran habe auch der gemäßigte Präsident Joe Biden nichts ändern können.
Biden versucht sich – eigentlich im Sinn des Buchs – als Präsident für die einfachen Leute zu präsentieren, er will neue Industrien an die alten Standorte bringen und lässt sich mit streikenden Arbeitern fotografieren. Genützt hat das der Partei bisher wenig, Biden ist so unbeliebt wie selten ein Präsident zuvor.
Das Buch von Teixeira und Judis ist denn auch kein Rezeptbuch für die Demokratische Partei, das betonen sie selbst. Aber es analysiert den Zustand der Demokraten auf scharfsinnige und teilweise unterhaltsame Weise. Und einiges davon könnte auch Politiker europäischer Linksparteien nachdenklich stimmen.