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Chile nach den Bränden: Alltag zwischen den Ruinen

Mittlerweile wirkt Lidia Huilipan ruhig, während sie an einem Tisch unter freiem Himmel sitzt. Sobald sie zu erzählen beginnt, wird erkennbar, dass Schreck und Trauer weiterhin ein fester Bestandteil von ihr sind. Am 2. Februar wurde der gesamte Straßenzug von Huilipan in El Olivar, einem Vorort der Küstenstadt Viña del Mar, Opfer der größten Waldbrände der vergangenen Jahrzehnte in Chile. Mehr als 9000 Häuser brannten innerhalb von wenigen Tagen ab, mehr als 113 Menschen starben. Die Regierung verkündete den Notstand und versprach baldige Hilfe.

Gut einen Monat nach den Bränden sind die meisten Trümmer weggeräumt. Doch die Hügel der Küstenstadt sind weiterhin von abgebrannten Bäumen und Häusern geprägt. Während die anfängliche Hilfe langsam zurückgeht, suchen die Bewohnerinnen und Bewohner nach mittelfristigen Lösungen, und die Politik berät über die Ursachen und Konsequenzen der Katastrophe.

Seitdem das Feuer ihr Haus verschlang, harrt Huilipan in einem Zelt zwischen den Ruinen ihres ehemaligen Wohnzimmers aus. Eine Matratze, ein einfacher Herd, ein Handy und ein paar gebrauchte Klamotten sind alles, was sie noch hat.

Huilipan erinnert sich noch genau, wie es war, als die Waldbrände ihr Viertel erreichten: „Ich war im Bus auf dem Weg nach Hause“, erzählt sie, „plötzlich wurde alles dunkel“. Menschen seien auf den Bus zugerannt, auf der Suche nach Unterschlupf. Die Fenster wurden heiß und zersprangen aufgrund der Hitze, wie Huilipan weiter berichtet: Der Busfahrer wendete und fuhr durch verbrannte Autos und Wolken aus Rauch so weit weg wie möglich.

„Irgendwann waren wir dann am Strand“, sagt Huilipan, „hier warteten wir im Bus bis in die Nacht“. Am Abend dann habe sie der gleiche Busfahrer wieder in ihr Viertel gefahren, manche Häuser hätten noch gebrannt, weit und breit sei keine Feuerwehr zu sehen gewesen. Im Morgengrauen fand Huilipan in ihrem Haus die verbrannten Körper ihres Hundes und der Katze ihrer Nachbarin. Eine Familie aus ihrer Straße starb in den Flammen. Weitere Menschen liegen bis heute wegen der Verbrennungen auf der Intensivstation.

Vor dem Feuer hatte die chilenische Zentralregion eine wochenlange Hitzewelle erlebt. Am 2. Februar fingen die Wälder in der Nähe von Valparaíso und Viña del Mar Feuer. Innerhalb von kürzester Zeit verbreitete sich dieses über knapp 10 000 Hektar Land, in etwa die Fläche der Stadt Mainz. Die Einsatzkräfte waren heillos überfordert und konnten nur noch mit ansehen, wie nach und nach die Brände zuerst den botanischen Garten verschlangen und dann auf die Stadt übersprangen. Laut Behördenangaben war in etwa ein Drittel der Stadt Viña del Mar vom Feuer betroffen.

Viele Menschen haben bis auf die Kleidung, die sie trugen, alles verloren

Zum Glück für das Viertel El Olivar wurde das Gemeinschaftszentrum der Nachbarschaftsvereinigung vom Feuer verschont. Bis heute dient es als Verteilerzentrum für Hilfsgüter, täglich werden hier warme Mahlzeiten ausgegeben. Der Präsident der Nachbarschaftsvereinigung, Felipe Glaser, wirkt erschöpft. Dicke Ringe breiten sich unter seinen Augen aus, er greift zu einer Zigarette und beginnt zu erzählen. „In den ersten Tagen nach dem Feuer bekamen wir viel Hilfe von privater Seite“. Die Helferinnen und Helfer mussten sich um die Aufräumarbeiten kümmern, Essen ausgeben und Kleidung verteilen. Viele Menschen hatten bis auf die Kleidung, die sie trugen, alles verloren.

„Nach Todeszahlen sind wir leider der am meisten betroffene Sektor“, sagt Glaser, „knapp die Hälfte der 113 Toten kommen aus unserem Viertel“. Sein eigenes Haus erlitt nur kleine Schäden. Er selber ist seit dem Feuer rund um die Uhr auf den Beinen. Seinen Job als Eventmanager hat er für den Moment aufgegeben, um sich voll und ganz den Versorgungsarbeiten zu widmen. Wie lange er das noch durchhält? „Ich habe die Erfahrung aus Zeiten der Pandemie, damals war ich eineinhalb Jahre auf den Beinen, irgendwie geht das schon gut“, meint er.

Im Gemeinschaftszentrum steht auch ein leerer Tisch mit dem Logo der Stadtverwaltung. Glaser blickt hin und sagt: „Die staatliche Hilfe kam viel zu spät.“ Erst nach zwei Wochen seien die ersten Hilfspakete von Seiten der Regierung gekommen. Die Stadtverwaltung habe sich lange Zeit nicht blicken lassen. Glaser versucht, dafür Gründe zu finden: „Die Katastrophe war so groß, ich glaube, jede Regierung hätte Zeit gebraucht, um die Hilfe zu organisieren.

Die linksreformistische Regierung unter Gabriel Boric ihrerseits betont derweil, schnell und großzügig reagiert zu haben. Der traditionelle Sommerresidenz des Präsidenten in Viña del Mar wurde in eine Tagesschule für die Sommerferien umgewandelt, damit dort die Kinder ihre Zeit verbringen konnten. Mit mehreren öffentlichen Schulen geschah das Gleiche.

An mehr als 7000 Haushalte wurde eine einmalige Wiederaufbauzahlung von umgerechnet etwa 1000 Euro ausgegeben. In den ersten Siedlungen wurden einfache Holzbaracken als zwischenzeitliche Behausungen aufgebaut. Eine Mietsubvention, soll die Suche nach weiteren Zwischenlösungen fördern. Das Handynetz sowie die Versorgung mit Wasser und Strom wurden größtenteils wieder hergestellt. Die Siedlung El Olivar besteht aus Mehrfamilienhäusern, was einen selbstständigen Wiederaufbau sowie das Aufstellen von Baracken erschwert, wie Glaser erklärt. „Die Regierung hat angekündigt, die nächsten Wochen mit dem Abriss der Ruinen zu beginnen“, erzählt der Präsident der Nachbarschaftsvereinigung weiter, „danach soll irgendwann der Wiederaufbau beginnen“.

Noch ist allerdings der genaue Plan unbekannt. Es heißt einzig, die Wohnungen sollen größer werden, denn mittlerweile haben sich die Standardgrößen für Sozialbauten geändert.

Gleichzeitig schreitet mit der Zeit die politische Aufklärung voran. Zwei Wochen nach den verheerenden Bränden zeigte das chilenische Investigativportal Ciper auf, dass die Stadtverwaltung von Viña del Mar keinen aktualisierten Evakuierungsplan im Fall von Katastrophen hatte, wie dies eigentlich das Gesetz vorsieht. Mit einer vorzeitigen Evakuierung der Wohngebiete hätte in vielen Fällen Leben gerettet werden können, heißt es in dem Bericht weiter.

Die Regierung ihrerseits vermutet zumindest hinter einem Teil der Brände, die sich fast zeitgleich entfachten, Brandstiftung. Man habe genügend Beweise gefunden, um darauf schließen zu können, sagte Regierungssprecherin Camila Vallejo Mitte Februar den Medien. „Es liegt an der Staatsanwaltschaft und später den Gerichten, diesem Verdacht nachzugehen und ihn gegebenenfalls zu bestätigen“, so Vallejo.

Der frühere Bergarbeiter Estay ist aus dem Norden angereist und hilft, wo er kann

Für die Politik liegt der Verdacht nahe, dass Baufirmen hinter der Brandstiftung stecken. Ein privates Unternehmen plant seit Jahren eine Autobahn auf dem Gebiet der verbrannten Wälder zu bauen. Auch deshalb forderte die Bürgermeisterin von Viña del Mar, Macarena Ripamonti, Ende Februar zum wiederholten Mal die baldige Verabschiedung eines Gesetzes, dass die Bebauung von Grundstücken, auf denen ursprünglich Wälder standen verbietet.

Im Gemeinschaftszentrum ist derweil eine Frau mit mehreren Kleidersäcken aufgetaucht. Nelson Estay, ein älterer Mann mit lockigem Haar, nimmt sie entgegen und bereitet sie für die Ausgabe vor. Estay ist ein ehemaliger Bergarbeiter und kommt aus der nördlichen Minenstadt Calama. Er erzählt: „Als ich im Fernsehen von der Katastrophe gehört habe, habe ich sofort meine Sachen gepackt und bin hierher gereist“. Seit drei Wochen hilft er nun überall, wo es nötig ist.

„In Calama wäre ich um diese Uhrzeit bereits in der Kneipe“, sagt der ehemalige Bergarbeiter, „hier macht meine Beschäftigung Sinn“. Er habe davon gehört, dass in einer benachbarten Siedlung, die auf einem besetzten Grundstück liegt, erste Häuser wieder aufgebaut werden. „Ich gehe bald dorthin und werde beim Wiederaufbau helfen“, sagt Estay zum Abschluss. „Ich kehre erst zurück nach Calama, wenn ich mitgeholfen habe, mindestens zwei Häuser aufzubauen.“

Im Straßenzug von Lidia Huilipan gießt derweil ihr Nachbar Luis Castillo die Pflanzen auf einem kleinen Weg, der ihre Häuser mit dem Rest des Viertels verbindet. Wie durch ein Wunder haben die meisten Pflanzen das Feuer überlebt. Er, seine Frau und eine Tochter sind in einer Wohnung für Staatsbeamte im Zentrum der Stadt untergekommen. Doch sie nehmen jeden zweiten Tag den langen Weg in die Vorstadt auf sich, um sich um ihre Hausruine und die Pflanzen dort zu kümmern.

Die Ehefrau von Castillo, Susana Ponce, zeigt auf ihrem Handy Fotos ihres Gartens und der Pflanzen, die sie dort hatte. Vor kurzem kauften sie sich eine größere Wohnung im gleichen Straßenzug, sie begannen zu renovieren und wollten bald umziehen. Doch das Feuer hat alles vernichtet. Eine ihrer Töchter, die seit ein paar Jahren in Duisburg lebt, sammelt nun Spenden, um den Eltern beim Wiederaufbau zu helfen. Doch es wird noch lange dauern, bis sie wieder ein eigenes Zuhause haben.

Auch Lidia Huilipan wird bald in eine Wohnung ziehen. Nach langer Suche hat ihre Familie eine bezahlbare Unterkunft weiter außerhalb gefunden. „Es war sehr schwierig etwas bezahlbares zu finden“, sagt Huilipan etwas grimmig: „Die Eigentümer nutzen unsere Not aus, um Geld zu verdienen“.

Wie sie ihr Leben zukünftig finanzieren wird, weiß Huilipan noch nicht. Vor dem Feuer schneiderte sie von zu Hause aus Kleidungsstücke, doch alle ihre Maschinen und Teile des Ersparten sind verbrannt. „Ich habe davon gehört, dass das Sozialministerium Unterstützungsgelder für den Kauf neuer Maschinen gibt“, sagt Huilipan. In den nächsten Tagen will sie dorthin gehen und nachfragen.

Huilipan hofft, in ein bis zwei Jahren wieder in ihre Straße zurückzuziehen. So lange wird es voraussichtlich dauern, bis zumindest die physischen Schäden der Brände repariert sind.

 

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Transportwende mit chinesischer Hilfe

Santiago de Chile (epd). Große Show am Hauptbahnhof von Chiles Hauptstadt Santiago: Zur Einweihung des neuen Schnellzugs in Richtung Süden ist auch Transportminister Juan Carlos Muñoz erschienen. „Der neueste und schnellste Zug Südamerikas“, sagt er sichtlich zufrieden. Die chilenische Regierung braucht gute Schlagzeilen – und die lieferten das Bauwerk des chinesischen Eisenbahnherstellers CRRC und die freudigen ersten Fahrgäste am vergangenen Wochenende.

Chile baut seinen elektrischen Nah- und Fernverkehr aus. Auch in der Smog-gebeutelten Hauptstadt tue sich viel, sagt Regierungssprecherin Camila Vallejo dem Evangelischen Pressedienst (epd) während der Einweihungsfahrt des Schnellzugs. „Mittlerweile haben wir in Santiago die größte elektrische Busflotte außerhalb Chinas.“

Fahrgästin Carmen Garcés zeigt sich glücklich über diese Entwicklung. „Meine Eltern arbeiteten ihr ganzes Leben bei den Staatsbahnen.“ Einst verband die Eisenbahn das ganze Land, das sich über mehr als 4.200 Kilometer an der südamerikanischen Pazifikküste erstreckt. Fast jedes Tal erreichte man mit dem Zug. Bis die Diktatur (1973 – 1990) der Bahn die Mittel entzog und stattdessen den Einsatz von Bussen und Lkw förderte.

Nun soll das Rad der Geschichte umgedreht werden, „nicht nur aus Nostalgie, sondern mit Blick in die Zukunft“, sagt Regierungssprecherin Vallejo. Der neue Zug fährt mit maximal 160 Kilometern pro Stunde bis ins 200 Kilometer entfernte Curicó. Ziel ist es, den Zug weitere 200 Kilometer bis nach Chillán fahren zu lassen, doch Stürme im chilenischen Winter zerstörten Teile der Infrastruktur, die derzeit wieder aufgebaut wird.

Chiles engster Partner bei der Transportwende ist China: Seit 2012 gewinnen fast nur chinesische Anbieter die Ausschreibungen für Bahnen und elektrische Busse. Angesichts der allgemeinen Wirtschaftszahlen sei dies nicht erstaunlich, meint der Wirtschaftswissenschaftler Santiago Rosselot. „In den vergangenen 20 Jahren hat China die EU als einen der wichtigsten Handelspartner abgelöst.“ 2002 nahm die EU demnach 20 Prozent des Handelsvolumens der chilenischen Wirtschaft ein und China sieben Prozent. Inzwischen komme die EU nur noch auf sieben Prozent und China auf 39 Prozent, sagt Rosselot, der Teil des gewerkschaftsnahen Think-Tanks Fundación Sol ist und für die Heinrich-Böll-Stiftung die Rolle Chinas in Chile untersuchte.

Für den Ausbau der Beziehungen reiste im Oktober 2023 eine mehrköpfige Regierungsdelegation nach China und besuchte dort Unternehmen und staatliche Akteure, darunter Transportminister Muñoz. Er besichtigte die Fabrik des staatlichen und weltweit größten Zugproduzenten CRRC.

Die europäische Industrie läuft derweil Sturm gegen die Konkurrenz aus China. Ende September legte das spanische Unternehmen CAF eine Beschwerde beim chilenischen Gerichtshof für freien Wettbewerb ein. Grund war eine Ausschreibung für 32 neue Regionalzüge für den Großraum Santiago, bei der CAF gegen CRRC unterlag. CAF zufolge hat CRRC auf Basis unlauterer Subventionen ein über 40 Prozent günstigeres Angebot eingereicht, was die allgemeinen Marktregeln unterwandere. Das chilenische Eisenbahnunternehmen verneinte, das Urteil des Gerichts steht noch aus. „In Chile herrscht Technologiefreiheit, wir schreiben Aufträge aus und alle können sich bewerben“, sagt Regierungssprecherin Vallejo.

Rosselot beurteilt diese Entwicklung weniger kritisch. Es lasse sich zwar feststellen, dass staatliche chinesische Unternehmen versuchten, in gewissen Bereichen eine Monopolstellung zu erhalten. Doch sie agierten dabei kaum anders als europäische oder US-amerikanische Konzerne. „Das Problem bleibt das Gleiche“, schlussfolgert Rosselot. „Chile verkauft Rohstoffe und kauft fertige Produkte, wobei kaum Wissenstransfer stattfindet.“

Auch unter den Fahrgästen im Schnellzug ist die Herkunft des Zuges Thema. Lina Hartmann und Benjamín Valleres, die sich in Deutschland kennengelernt haben, zeigen Verständnis dafür, dass Chile den günstigsten Anbieter wählte. Doch man müsse aufpassen, dass daraus keine Abhängigkeit entstehe. „Wir dürfen keine Schulden bei China aufnehmen, wie dies etwa Argentinien, Venezuela oder zentralamerikanische Staaten bereits gemacht haben“, sagt Valleres.

 

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Superblocks: Selbst für Barcelona zu radikal?

 

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Cannabisclubs: Kiffen, bis die Polizei kommt

Zufällig findet niemand den Weg zu La Kalada. Das Vereinslokal des Cannabisclubs liegt in einer ruhigen Seitenstraße am Hang von Barcelonas Hausberg Montjuïc. Ein schlichter zweistöckiger grauer Bau, am garagenähnlichen Eingangstor ist nur eine namenlose Klingel. Wer darauf drückt, muss zunächst dem Pförtner seinen Mitgliedsausweis vorzeigen. Wer keinen hat: Die Ausstellung erfolgt nach Vorlage von Pass oder Personalausweis in ein paar Minuten. Erst danach geht es durch eine schwere Brandschutztür in den eigentlichen Club: ein weitläufiger, etwa 100 Quadratmeter großer Raum, die Wände mit großflächigen Graffiti bemalt. Ein paar ausladende Sitzgruppen, ein Tresen mit Zubehör für Joints, in der Ecke eine kleine Bar.

Am frühen Nachmittag ist noch nicht viel los. Ein schwacher Geruch von Reinigungsmitteln und süßlich-würzigem Marihuana hängt in der Luft. Zwei Frauen Mitte 40 unterhalten sich leise. Vereinspräsident Alessio Mondini grüßt sie mit einem Kopfnicken. Die beiden winken freundlich zurück. Man kennt sich.

La Kalada, zu Deutsch “Der Zug” (aus Zigarette oder Joint), ist einer von Barcelonas bekanntesten Cannabisclubs. Internetrezensionen rühmen das künstlerische Ambiente und die frei verfügbaren Videospiele. Und natürlich die verschiedenen Marihuanasorten, die bei Verkostungen diverse Preise gewonnen haben.

Ähnliche Clubs soll es bald auch in Deutschland geben: private Vereine Gleichgesinnter, in denen sich Cannabisliebhaber nach Einlasskontrolle in begrenzten Mengen mit gemeinschaftlich angebautem Marihuana zumindest versorgen können. Das sieht ein Entwurf vor, den Gesundheitsminister Karl Lauterbach jüngst vorgestellt hat. Vom “spanischen Modell” ist die Rede. Dabei existiert dieses Modell streng genommen gar nicht. Und gemeinschaftlichen Konsum sieht Lauterbachs Plan auch gar nicht vor.

 

Bereits 1.500 Clubs landesweit

 

Es gibt in Spanien kein Gesetz, das die Cannabisclubs explizit gestattet. Anbau, Handel und Transport von sind in Spanien weiterhin verboten, lediglich der Konsum in privaten Räumen ist erlaubt. Die Cannabisclubs haben ihre Organisationsform aus spanischen Gerichtsurteilen aus den Neunzigerjahren abgeleitet, die den gemeinschaftlichen Anbau von Cannabis für den Privatkonsum und den gemeinsamen Drogengebrauch für straffrei erklären.

Laut der Wissenschaftszeitschrift The Lancet ist das Land mit dem EU-weit dritthöchsten Cannabiskonsum. Und Growshops, also Läden mit Zubehör für den Eigenanbau, fehlen in keiner Fußgängerzone. Auch wenn Kiffen in Spanien weit verbreitet ist, bewegen sich die Cannabisclubs in einer rechtlichen Grauzone. Dabei gibt es sie bereits seit über 30 Jahren. Die ersten entstanden in Katalonien und im Baskenland. Inzwischen sind es nach einer Schätzung des überregionalen Zusammenschlusses ConFac etwa 1.500 im ganzen Land.

Alessandro Mondini lässt sich auf eines der breiten roten Sofas fallen und bröselt etwas Marihuana aufs Drehpapier. Mondini ist Musiker. Künstlername: Jahki Revi; Stilrichtung: Reggae. Kiffen sei Teil seines Lebensstils, sagt er. Nach Barcelona kam er, weil die Rechtsprechung beim Cannabiskonsum hier im Vergleich zu seinem Geburtsland Italien liberaler schien. 2012 gründete er gemeinsam mit befreundeten Musikern den Club La Kalada, laut Vereinsregister als Kulturverein. Damals gründeten sich in der Mittelmeerstadt ganz viele solcher Clubs – Barcelona ist seitdem das Amsterdam des Südens.

Vier Jahre später schuf die linksalternative Stadtverwaltung sogar eine spezifische Regulierungsrichtlinie für Cannabisclubs, mit Vorgaben für Filteranlagen und Mindestabständen zu Schulen. Nach mehreren Urteilen des spanischen Verfassungsgerichts musste die Stadt diese Richtlinie allerdings inzwischen zurückziehen.

 

“Die Lage ist verzwickt”, sagt Mondini und nimmt einen tiefen Zug. Ende des Jahres habe er nach einer Razzia drei Tage in einer Gefängniszelle verbringen müssen, “wegen der üblichen Vorwürfe”. Mehr sagt er nicht. Sein Anwalt habe ihm empfohlen, sich nicht zum laufenden Verfahren zu äußern. “Ich bin es jedenfalls satt, morgens nicht zu wissen, ob ich abends zu Hause oder auf einer Polizeistation schlafen werde.”

Die Anwältin Gabriela Sierra Fontecilla hat sich auf das Thema Cannabis spezialisiert. “Der Druck auf die Cannabisclubs ist größer als je zuvor”, bestätigt sie. Klienten gibt es genug: Etwa 70 Prozent der Clubs haben oder hatten Probleme mit der Justiz, heißt es von ConFac, einem überregionalen Zusammenschluss von Cannabisclubs. Illegaler Anbau oder Handel mit Cannabis können in Spanien mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden.

2016 ließ das oberste Gericht mehrere Cannabisclubs schließen, wegen Verstößen gegen die öffentliche Gesundheit und Bildung einer illegalen Vereinigung. Seither geht die Justiz immer restriktiver gegen die Vereine vor. In der spanischen Presse häufen sich Berichte über Gewächshäuser in leer stehenden Fabrikanlagen oder abgelegene Felder, die für illegalen Anbau benutzt wurden. Allein in Katalonien beschlagnahmte die Polizei im letzten Jahr 26 Tonnen Marihuana, 2.130 Menschen wurden im Zusammenhang damit verhaftet.

 

Die Szene gibt sich bedeckt. Kaum ein Cannabisclub verrät, woher er sein Gras bezieht. Kaum einer spricht über Grammpreise. Offiziell verwahren die Vereine lediglich kommissarisch das  arihuana, das ihre Mitglieder zu Hause anbauen. Die Mitgliedsgebühren, bei La Kalada 20 Euro im Jahr, sind die einzigen Einnahmen, die die Vereine offiziell erwirtschaften dürfen. Dabei ist es
ein offenes Geheimnis, dass auch gehandelt wird. In vielen Clubs liegen Preislisten aus, inklusive genauer Beschreibung der psychoaktiven Wirkungen und der Geschmacksnuancen.

“Bei uns hat jedes Mitglied ein eigenes Schließfach mit Namen”, beteuert Vereinspräsident Mondini. Etwa 300 kämen regelmäßig einmal die Woche. Wie viele Mitglieder der Club insgesamt hat,  öchte er nicht sagen. Im spanischen Modell ist die Abgabe, abgeleitet aus Rechtsprechung, auf zwischen 60 und 100 Gramm pro Mitglied im Monat begrenzt – Deutschland plant eine Obergrenze von 50 Gramm. Allerdings sind in Spanien Mehrfachmitgliedschaften nicht ausgeschlossen. Auch Mondini hat mehrere Ausweise “von befreundeten Clubs”.

Das wacklige Konstrukt ist auch ein Einfallstor für Organisierte Kriminalität. Laut spanischer Polizei mischen zunehmend “Banden aus Osteuropa, Marokko und Spanien” mit. Deren Gewinnmargen sind enorm: “Mit einer Investition von 6.000 Euro lassen sich 240.000 Euro verdienen”, sagte der Richter Josep Perarnau im spanischen Fernsehen. Das Geschäft sei straff
durchorganisiert: von der Suche nach leer stehenden Fabrikanlagen über das illegale Abzapfen von Elektrizität für die UV-Lampen für den Indooranbau bis zum Verkauf an den Meistbietenden. Das bekommen auch die Cannabisclubs zu spüren. Immer wieder brechen bewaffnete Kriminelle ein, auch ins La Kalada. “Die meisten Clubs bringen das gar nicht erst zur Anzeige, um sich nicht noch ein zusätzliches Problem mit der Polizei aufzuhalsen”, sagt Mondini.

Dabei wäre die Lösung des Problems einfach: “Wir brauchen endlich einen gesetzlichen Rahmen – sowohl für die Clubs als auch für den Anbau und den Handel”, fordert Anwältin Sierra Fontecilla. Drei parlamentarische Vorstöße für eine Legalisierung gab es in Spanien bisher, unter anderem von Unidas Podemos, dem kleineren Koalitionspartner der spanischen Linksregierung. Doch bisher ließen die regierenden Sozialisten lediglich über medizinisches Cannabis mit sich reden. Eine Freigabe als Genussmittel lehnten sie mit Blick auf die europäische Rechtslage und die Gesetze in den europäischen Nachbarländern ab.

Sierra, die sich als Aktivistin auch in der Procannabispartei Luz Verde engagiert, setzt daher große Hoffnungen in den Entwurf der Bundesregierung. “Wenn in einem so wichtigen EU-Land wie Deutschland Cannabiskonsum erlaubt wird, ziehen früher oder später alle anderen Länder nach.” Die notwendige gesellschaftliche Unterstützung gebe es längst. Laut einer Befragung des staatlichen Meinungsforschungsinstitut CIS von 2021 befürworten 90 Prozent der Spanierinnen und Spanier die medizinische Therapie mittels Cannabis und Marihuana – wie sie in Deutschland bereits möglich ist. Und knapp 50 Prozent haben keine Einwände gegen einen Joint zur Entspannung. Bis auch der Handel mit Freizeitcannabis in der EU und im Schengenraum möglich werden, sei dann nur noch eine Frage der Zeit.

Die Gründer von La Kalada wollen so lang nicht mehr warten. Mondinis Partner ist derzeit in Thailand, wo die Regierung den Handel mit Cannabis Anfang des Jahres freigegeben hat.
Auf der Insel Ko Samui eröffnet demnächst das Ferienresort La Kalada, ein eigenständiges Unternehmen, aber unter dem Namen der Dachmarke aus Barcelona. Mit zehn Apartments, einem italienischen Restaurant, einer Bar und einem Marihuanashop. Und alles ganz legal.

 

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Krank wegen Schweizer Feinstaub

Weisser Staub liegt auf den Strassen, Dächern und Fensterbalken der Häuser in Las Mercedes, einem kleinen Viertel in der Vorstadt Virrey del Pino am Rand der Metropole Buenos Aires. Jorge Sosa, ein Anwohner, greift zum Boden und nimmt sich eine Handvoll. Das Pulver bleibt an seinen Händen hängen. Es ist fein wie Mörtel, kurz bevor man ihn mit Wasser mischt, um beispielsweise Fliesen zu befestigen.

„Dieser Staub macht uns krank“, sagt Sosa. Verantwortlich dafür sei die anliegende Fabrik des Zuger Chemiekonzerns Sika. Seit 2009 protestieren Anwohner*innen gegen die Präsenz der Fabrik: Sie sind überzeugt, das Unternehmen sei verantwortlich für eine Reihe von Krankheiten, die überdurchschnittlich viele Menschen in den Strassenzügen rundum die Fabrik betreffen.

Zusammen mit der argentinischen Zeitung El Diario AR hat das Lamm während zwei Jahren zur Frage recherchiert, ob die Vorwürfe der Anwohner*innen gegen die Zuger Firma berechtigt sind. Auch die Koalition für Konzernverantwortung und der Tages-Anzeiger beschäftigten sich mit den Aktivitäten der Fabrik. Die Rechercheergebnisse erscheinen heute gleichzeitig.

Das Lamm hat unzählige Interviews geführt, Gerichtsunterlagen gesichtet, Anfragen per Öffentlichkeitsgesetz verschickt und medizinische Untersuchungen analysiert. Das Resultat ist die Geschichte eines Schweizer Konzerns, der lokale Gegebenheiten und tiefe Umweltstandards ausnutzt und so die Anwohner*innen in Panik versetzt. Und davon, wie die Justiz sich erst dann darum scherte, als sich Journalist*innen einschalteten.

Eine Explosion in der Fabrik

„Unsere Industrieanlage in Virrey del Pino […] ist ein weltweiter Referent für Flexibilität, Automatisierung und Produktionskapazitäten“, heisst es auf der argentinischen Webseite der Zuger Firma Sika. Ein Bild der Anlage, die seit 1972 am gleichen Ort steht, ergänzt die Beschreibung. Im rötlichen Sonnenuntergang erkennt man Schornsteine und dahinter einen vollkommen rauchfreien Himmel.

Doch die Realität ist weniger malerisch. „Ich spüre sofort, wenn die Fabrik läuft“, erzählt Jorge Sosa. Seine Augen brennen, das Atmen fällt ihm schwer und hin und wieder bekommt er Juckreiz auf der Haut. Ausserdem hat er Asthma – eine Krankheit, die laut einer Ärztin vermutlich mit der Präsenz des Pulvers in der Luft zusammenhängt.

Das Fenster von Sosas Schlafzimmer im ersten Stock seines selbst gebauten Hauses liefert einen direkten Blick auf die Fabrik. Regelmässig wacht Sosa wegen Atemproblemen in der Nacht auf, blickt auf die Fabrik, sieht Rauchschwaden von den Schornsteinen emporsteigen und nimmt die nächtlichen Erlebnisse mit seiner Handykamera auf. Das Lamm hat mehrere dieser Videos gesichtet.

Die Anwohner*innen liessen den Staub, den Juckreiz auf der Haut und die Atembeschwerden über Jahrzehnte hinweg über sich ergehen, bis es im Jahr 2009 zu einer Explosion auf dem Gelände kam – so erzählen es jedenfalls die Anwohner*innen selbst. Das Unternehmen seinerseits leugnet den Vorfall. Tagelang soll es weissen Staub geregnet und das Atmen noch mehr erschwert haben. In den Tagen darauf verteilte das Unternehmen Putzmittel, industrielle Staubsauger und Geld – im Gegenzug sollten die Anwohner*innen einen Vertrag unterschreiben, der eine zukünftige Klage gegen das Unternehmen aufgrund von Erkrankungen unterbindet, so die Erzählung. Aufbewahrt haben sie den Vertrag nicht.

Mehrere Nachbar*innen fanden die Klausel des Vertrags verdächtig. Sie schlossen sich zusammen und protestierten, mal vor dem Fabrikgelände, mal vor dem Rathaus oder der französischen Botschaft – als das Unternehmen noch zum französischen Zementhersteller Lafarge gehörte. Doch bewirken konnten die Proteste wenig.

In den Stimmen der weiterhin aktiven Anwohnenden ist Frustration zu hören. Seit 2009 machen sie den Staub der Fabrik für eine Reihe von Krankheiten verantwortlich, die im Viertel anzutreffen sind.

Asthmamedikamente

Überall im Viertel Las Mercedes liegt der weisse Staub, nach nur wenigen Stunden sammelt er sich auf parkierten Autos an. Im Wohnzimmer von Susana Ardiles und Jorge Crespo sind die Fenster trotz der Sommerhitze geschlossen. „Wir müssen regelmässig das Haus putzen, um den Staub loszuwerden“, meint Ardiles. Das Ehepaar besitzt einen kleinen Laden im Vordergarten des Hauses.

Auch sie erzählen von ständigen Beschwerden in den Augen und Atemwegen. Besonders besorgt sind sie über ihre Enkelkinder, die regelmässig einen Asthmaspray verwenden müssen.

Der Spray, ein Bronchodilatator, wird normalerweise bei Asthmapatient*innen eingesetzt und dient zur Entspannung der Bronchienmuskeln, was wiederum das Atmen erleichtert. Hausbesuche lassen darauf schliessen, dass im Viertel Las Mercedes fast jede zweite Person einen Inhalator benutzt. Pro Monat verbrauchen die Enkelkinder von Crespo und Ardiles bis zu drei davon. Doch aufgrund der Inflation und dem Wertverfall des argentinischen Pesos ist der Preis dafür enorm angestiegen. Zwischen 10 und 15 Franken kostet ein Bronchodilatator, etwa ein 14tel des argentinischen Mindestlohns.

Wegziehen ist für Ardiles und Crespo aber unmöglich. „Wohin?“, fragen sie. Sie haben hier ihr relativ grossräumiges Haus – die Alternative wäre ein Umzug in die engen Armenviertel der Hauptstadt, wo neben Platzmangel auch Drogen- und Gewaltprobleme herrschen.

Träge Umweltbehörden

Das Viertel Las Mercedes liegt am meistverschmutzten Fluss in Argentinien, dem Riachuelo Matanza. Eigentlich ist seit 2009 die eigens für den Flusslauf gegründete Umweltbehörde Autoridad de Cuenca Matanza Riachuelo (ACUMAR) für die Verbesserung der Umweltbedingungen im Gebiet zuständig. Doch in Bezug auf Las Mercedes und den Konflikt mit der Sika wurde die Behörde erst spät aktiv und ging selbst dann lange Zeit nicht auf die Luftprobleme ein.

2014 führte ACUMAR als Reaktion auf die Proteste zusammen mit weiteren Gesundheitsbehörden eine erste medizinische Untersuchung der Bevölkerung durch, um die Zusammenhänge zwischen der Umgebung und gesundheitlichen Problemen der Anwohner*innen festzustellen. Der Abschlussbericht liegt das Lamm vor: Obwohl die Behörden schon damals feststellten, dass viele Bewohner*innen von Atemwegs‑, Haut- oder Erkrankungen der Schleimhäute sprachen, haben sie weder weiterführende Untersuchungen durchgeführt, noch die Verschmutzung in der Luft gemessen.

Im Jahresbericht von 2016 kündigte die gleiche Umweltbehörde an, man wolle fürs kommende Jahr daran arbeiten, eine konstante Messung der Luftqualität an den Schornsteinen der Fabrik durchzuführen. Doch geschehen ist diesbezüglich bis heute nichts.

Ein Jahr später, 2017, wurden ein weiteres Mal 518 Anwohner*innen von der lokalen Umweltbehörde medizinisch untersucht. Gemäss dem Abschlussbericht, der das Lamm vorliegt, wurden in 110 Fällen Atemwegs- oder Hauterkrankungen festgestellt. Doch wieder: Konkrete Massnahmen zur Verbesserung der Umweltstandards blieben grösstenteils aus.

Man installierte einzig eine Messanlage in unmittelbarer Nähe zur Fabrik, um die Feinstaubwerte zu messen. Die öffentlich zugänglichen Messwerte zeigen fast konstant über 30 µg/m3 Feinstaub einer Partikelgrösse von kleiner als Zehn Tausendstel-Millimeter an. An manchen Tagen steigen die Werte auf knapp 300 µg/m3. Die Höchstwerte stimmen zum Teil zeitlich mit den Videos von Jorge Sosa und anderen Nachbar*innen überein, die einen besonders hohen Ausstoss von Abgasen aus der Fabrik zeigen.

Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt derweil, dass das Jahresmittel nicht über 15 µg/m3 liegen soll. Das Problem: Die argentinische Gesetzgebung kennt nur einen zulässigen Tageshöchstwert, der deutlich höher bei 150 µg/m3 liegt.

So eine hohe und konstante Feinstaubbelastung ist laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) gesundheitsschädlich und kann zu Atemwegs‑, Kreislaufsystems- und Nervenerkrankungen führen. Die Luftverschmutzung bewirke schlussendlich eine Verkürzung der Lebenserwartung der ihr ausgesetzten Personen, so das BAG.

Von Sika gekaufte Probleme

Sika strebt seit einigen Jahren einen aggressiven Expansionskurs an. Dafür kaufte es im Jahr 2019 das Unternehmen Parex, das nur wenige Jahre zuvor aus der französischen Lafarge-Gruppe ausgegliedert wurde. Lafarge ist allgemein wegen seiner schlechten Umweltstandards und dubiosen Geschäftspraktiken bekannt: Im Jahr 2022 verurteilte ein US-amerikanisches Gericht Lafarge zu einer Geldbusse aufgrund von Geschäften mit dem sogenannten Islamischen Staat in den Jahren 2013 und 2014.

Zu Parex gehörte auch der argentinische Mörtelhersteller Klaukol und die Fabrik im Viertel Las Mercedes in Buenos Aires.

Die Fabrik gehört laut argentinischem Gesetz zur umweltschädlichsten Kategorie und müsste fernab jeglicher Wohnviertel stehen. Doch als sie Anfang der 70er Jahre gebaut wurde, existierte diese Bestimmung noch nicht – und das heutige Gesetz gilt nur für Neubauten.

Konfrontiert mit den Vorwürfen wiegelt das Schweizer Unternehmen Sika ab. Im Februar 2022 sagte der Mediensprecher, in der Fabrik neben Las Mercedes würden in einem reinen Mischprozess ausschliesslich Baustoffe hergestellt und diese Tätigkeit setze keinerlei gesundheitsgefährdende Stoffe frei: „Die Behörden haben in den letzten Jahren mehrere Audits durchgeführt. Bei keinem der Audits wurde ein Mangel festgestellt. Auch das letzte Audit hat keinerlei Verschmutzungen oder Staubpartikel aufgezeigt.“

Weitere Kontaktversuche per Mail wurden vom Mediensprecher nicht beantwortet. In Argentinien reagiert gegenüber El Diario AR mittlerweile ein Kommunikationsunternehmen, das ebenfalls alle Vorwürfe bestreitet.

Die Umweltbehörde ACUMAR widerspricht der Darstellung von Sika. Im April 2020 mahnte sie das erste Mal das Unternehmen ab. Die Messstation gleich neben der Fabrik hatte in den Tagen zuvor weit über die ohnehin schon lasche Norm schreitende Feinstaubwerte gemessen. Das Lamm hat die Dokumente des Strafverfahrens per argentinischem Öffentlichkeitsgesetz sichten können. In ihrer Stellungnahme versuchte die Zuger Firma anhand eigener Messdaten aufzuzeigen, dass die Feinstaubwerte der Schornsteine sehr gering gewesen seien und unmöglich die Ursache der hohen Messwerte sein konnten.

Auch das Umweltministerium der Provinz von Buenos Aires sprach im März 2023 eine Busse aus, da Sika die Normwerte für Staubemissionen überschritten hatte.

Das Kommunikationsunternehmen bestreitet im Auftrag von Sika die Rechtmässigkeit der Busse durch das Umweltministerium. Diese sei ohne ausreichende wissenschaftliche Basis verhängt worden und deshalb sei in zweiter Instanz die Busse aufgehoben worden. Der Tenor: Hier wird ein Unternehmen für allgemeine Probleme im Viertel verantwortlich gemacht.

Ein aussergerichtliche Einigung

Trägt das Unternehmen also keine Schuld an der Luftverschmutzung? Einen Vorfall lesen Bewohner*innen als Schuldeingeständnis.

Im November 2020 kam die damals 28-jährige Nadia Carabajal, Bewohnerin von Las Mercedes, in die Notaufnahme. Ihr ging es sehr schlecht, die Studentin konnte kaum mehr atmen. Die Diagnose: Ihre 23 Jahre zuvor implantierte Niere funktionierte nicht mehr.

Carabajal lebte damals gleich gegenüber der Fabrik. Sie kam mit einer defekten Niere auf die Welt, die mit drei Jahren ersetzt werden musste. Während Carabajal auf eine neue Niere wartete, sollte sie auf ärztliche Anordnung hin möglichst wenig Staub ausgesetzt sein. Ein enormer Aufwand für die Familie, die das Zimmer des Mädchens total isolieren musste. Im Garten oder auf der Strasse mit anderen Kindern spielen war für Carabajal in dieser Zeit unmöglich.

Nach der Einlieferung der 28-Jährigen in die Notaufnahme begann für sie alles von vorne. Carabajals Mutter Siria Rodríguez beginnt zu schluchzen, als sie ihre Geschichte erzählt. Zusammen mit ihren Anwält*innen, die gratis für sie arbeiteten, verklagten sie Sika, da sie die Fabrik für das erneute Nierenversagen verantwortlich machen.

Aussergerichtlich einigen sie sich darauf, dass Sika die Mietkosten für ein Haus ausserhalb des Viertels und der Staubwolke bezahlt. Für viele ein Etappensieg, den sie im Viertel gleichzeitig auch als erstes Schuldeingeständnis von Sika interpretieren. Das Unternehmen behauptet hingegen, man trage die Kosten aus „humanitären Gründen“.

Nach Carabajals Umzug in ein Viertel, weit entfernt von der Industrie, verbessert sich ihr Gesundheitszustand merkbar. Bei einem Besuch im April 2022 erzählt Carabajal, dass sie weiterhin auf eine neue Niere warte, doch dass allein die neue Luft ihr Leben deutlich verbessert habe. Vorher lag sie fast dauernd im Bett, fühlte sich krank und hatte kaum Energie. Im neuen Haus fühle sie sich wohl und sie bewege sich sehr viel mehr, erzählt sie. Carabajal konnte sogar ihr Studium wieder aufnehmen, das sie kurz nach ihrem Rückfall unterbrechen musste. „Es ist wie ein neues Leben“, resümiert sie.

Doch der Kampf ist noch nicht gewonnen. Aufgrund der Inflation in Argentinien, die über 120 Prozent jährlich beträgt, werden die Mietpreise ständig erhöht. Jede Mietpreiserhöhung bedeutet aber auch, dass sie mit Sika über die Mietsubvention streiten müssen. Es ist ein ständiges ringen um ein Leben in Würde. Die Familie erzählt, dass Sika derzeit nur noch einen Teil der Miete übernimmt.

Der Staub kommt aus der Fabrik

Seit Januar 2022 recherchiert das Lamm gemeinsam mit El Diario AR zu den Geschehnissen im Viertel Las Mercedes. Dabei wurde schon früh die Umweltbehörde ACUMAR kontaktiert und die Zuger Firma Sika zu den Vorwürfen befragt.

Im Interview verteidigt Daniel Larrache, der im Direktorium von ACUMAR sitzt, das bisherige Vorgehen der Behörde. Man habe zuerst versucht, anhand verschiedener Studien die Ursache der Luftverschmutzung im Viertel zu finden. ACUMAR gehe davon aus, dass ein beträchtlicher Teil durch die naheliegende Autobahn entstehe. „Die Fabrik stellt einen weiteren Faktor dar“, meint Larrache. Es gäbe weiterhin viele Fabriken im Umkreis des Viertels, doch nur eine arbeite mit Quartzfeinstaub und Mörtel, den man vor Ort im Viertel antrifft – jene der Schweizer Firma Sika.

„Wir hatten in den letzten Jahren eine konstante Verbesserung der Produktionsbedingungen“, erklärt Larrache das Vorgehen gegenüber Sika. Die Fabrik erfülle, mit Ausnahme kleinerer Probleme, die allgemeinen Umweltstandards. Doch ein Bericht, den ACUMAR im Jahr 2022 in Auftrag gegeben hat, zeigt das Gegenteil.

Der Bericht, der das Lamm vorliegt, belegt ein erstes Mal deutlich, dass ein grosser Teil der Staubbelastung in Las Mercedes aus der Fabrik von Sika stammt. Chemische Analysen ergaben, dass 7 bis 17 Prozent der Staubemissionen, die kleiner als zehn Tausendstel Millimeter gross sind, aus der Fabrik stammen. Bei grösseren Staubpartikeln, die sich nach einiger Zeit in der Luft am Boden absetzen, sind es sogar 60 Prozent.

Im Bericht angehängte Bilder zeigen eine Fabrik in einem lausigen Zustand: Dächer voller Staub, der sich mit der Zeit verhärtet hat; Rohre, die nur improvisiert repariert wurde; und eine grosse Staubentwicklung innerhalb der Produktionshalle.

Ausgeführt wurde die Studie vom Chemiker und Professor für Umweltwissenschaften an der Universität von La Plata, Andrés Porta. Im Gespräch mit das Lamm erzählt der Wissenschaftler, dass die Fabrik teilweise seine Arbeit boykottiert habe. Bei angekündigten Besuchen seien mehrmals die Maschinen ausgestellt worden, was eine Momentaufnahme verunmöglichte.

Sein Bericht fordert vor allem eine Erhöhung der Schornsteine, sowie die Verbesserung mehrerer Produktionsprozesse, bei denen unnötig viel Staubentwicklung stattfindet. Gerne würde er mehr verlangen, doch das Problem sei, dass die argentinischen Normen weit unter dem liegen, was die WHO verlangt.

Zudem seien die Kontrollbehörden überlastet und ständigem politischen Druck ausgesetzt. „Studien wie diese sollten eigentlich durch die Umweltbehörden selbst ausgeführt werden, doch häufig fehlt das Personal dazu. Deswegen helfen wir als öffentliche Universität gerne aus“, erklärt Porta. Er findet, dass zu häufig politischer Druck von oben käme, um Mängel in Fabriken zu ignorieren.

Allgemein kritisiert Porta die Rolle von Firmen wie Sika in Argentinien: „Es ist furchtbar, dass Unternehmen aus Europa oder den USA sich hier installieren und nicht einmal die argentinischen Mindeststandards einhalten, obwohl in ihren Herkunftsländern deutlich mehr verlangt wird.“

Nach dem Erscheinen von Portas Bericht verhängte die Umweltbehörde ACUMAR eine kurzfristige Suspension der Produktion und verlangte Massnahmen, um die Staubemissionen zu mindern. Sika widersprach, gab selbst eine Studie in Auftrag und erreichte die Aufhebung der Suspension. Man führe nun “freiwillig” gewisse Verbesserungen durch, heisst es auf Anfrage.

Las Mercedes, ein gesundheitsgefährdender Ort

Das Lamm, El Diario AR und die Koalition für Konzernverantwortung kontaktierten für diese Recherche auch die argentinische Expertin für Lungenkrankheiten Vanina Martín.

Martin arbeitet am Institut Vacarezza, angegliedert an die Universität von Buenos Aires. Sie willigte ein, mehrere Anwohner*innen medizinisch zu untersuchen. Dafür fertigte sie Röntgen- und Tomografische Aufnahmen der Lungen an und untersuchte die Lungenkapazität der Anwohner*innen.

Kurz nachdem die Umweltbehörde ACUMAR von den Untersuchungen im Auftrag von das Lamm, El Diario AR und der Koalition für Konzernverantwortung erfuhr, beauftragte sie Martin mit weiteren Untersuchungen. Insgesamt wurden 48 Personen an die Ärztin weitergeleitet. Bei allen Personen, die von Martín untersucht wurden, konnte sie Symptome in den Lungen und weitere Beschwerden feststellen, die aufgrund des Staubes in der Luft entstehen.

Die Probleme, die Martín feststellte, reichten von Asthma über Lungen- bis zu Augenbeschwerden. Im Gespräch mit das Lamm zeigt sich Martin einerseits erleichtert, dass bei von ihr untersuchten Fällen keine Krebserkrankungen festgestellt werden konnten. Doch sie möchte die Symptome nicht kleinreden. „Unter ständigen Haut‑, Augen- oder Lungenbeschwerden zu leiden verschlechtert die Lebensqualität der Menschen enorm“.

Martin fügt an: „Die Luftbedingungen im Viertel müssen sich unbedingt ändern. Ich würde allen Menschen dazu raten, die Exposition gegenüber dem Staub möglichst gering zu halten.“

Auf Basis von Martíns Bericht verfügte ein nationales Gericht im Oktober 2023 die Suspendierung der staubemittierenden Aktivitäten der Fabrik, bis diese einen Plan vorlege, um die Staubemissionen zu reduzieren.

Bei einem Besuch vor Ort Ende Oktober zeigen sich die Bewohner*innen erfreut. Ihre Lebensqualität habe sich deutlich verbessert, versichert die Anwohnerin Susana Ardiles. Die Fenster ihres Hauses sind wieder offen, eine seichte Brise weht. Die Menschen sind überzeugt, dass die Fabrik die Produktion nicht wieder aufnehmen wird.

Doch bereits im November legte die Sika Rekurs gegen den Beschluss des Gerichtes ein und erreichte eine temporäre Aufhebung der Suspendierung. Laut Sika aufgrund „fehlender rechtlicher Grundlage“ – laut Gericht, „um während 90 Tage die Kontamination bei laufender Produktion zu messen“. Das Ping-Pong nicht endgültig greifender Massnahmen, Ankündigungen und Rekursen von Seiten der Fabrik läuft weiter.

 

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Sie wollen die Mathematik lösen

Elon Musks neue Firma xAI gehört zu den geheimnisumwittertesten Start-ups im Silicon Valley. Im Juli kündigte die Website lediglich an: “Das Ziel von xAI ist es, die wahre Natur des Universums zu verstehen”, darunter die zwölf Köpfe der Gründungsmitarbeiter. Im November dann postete Musk ein paar Screenshots des neuen Chatbots Grok, die zu allerlei Spekulationen führten. Geht man heute auf die Seite, dann erfährt man, dass Grok “eine KI nach dem Vorbild von Per Anhalter durch die Galaxis” sei. Der Bot sei entwickelt worden, “um Fragen mit ein wenig Witz zu beantworten”, und habe “eine rebellische Ader”.

Viele sehen daher die Firma als eine weitere Musk-Peinlichkeit: Ein Bot, der mit gezwungen verkrampftem Humor den User politisch unkorrekt anpöbelt – das macht Musk ja schon persönlich auf seiner sinkenden Plattform X, ehemals Twitter. Aber man verkennt Elon Musk, wenn man nur seine schrille und provokante Persönlichkeit zur Kenntnis nimmt. Er hat ein ernsthaftes Interesse an Mathematik und Naturwissenschaften, und seine Absicht, die künstliche Intelligenz mithilfe von xAI in humane und verantwortungsvolle Bahnen zu lenken, ist wohl ernst gemeint. Das neue Start-up vereinigt einige kluge Köpfe, die dort offenbar mehr entwickeln wollen als einen pöbelnden Chatbot.

Zu ihnen zählen zwei der Mitgründer von xAI: Tony Wu und Christian Szegedy. In einem Edelcafé in Palo Alto erzählen sie ZEIT ONLINE von ihrem Projekt, das auf den ersten Blick vielleicht esoterisch erscheint: Sie wollen die Mathematik “lösen” – das heißt, eine künstliche Intelligenz programmieren, die intellektuell den schlauesten Mathematikern der Welt ebenbürtig oder überlegen ist, so wie Maschinen heute schon in Spielen wie Schach und Go Menschen schlagen. Eine solche formal korrekt denkende KI wäre auch ein wichtiger Schritt, um die Konversation mit den schwatzhaften und halluzinierenden Chatbots von heute, die auch mal Falsches behaupten, auf eine sicherere Grundlage zu stellen.

Noch “beweisen” Sprachmodelle falsche Behauptungen

Laien stellen sich die Arbeit von Mathematikerinnen und Mathematikern womöglich als einen sehr formale und streng den Gesetzen der Logik folgende Tätigkeit vor: Sie stellen neue Behauptungen über die Objekte auf, mit denen sie jonglieren, und beweisen oder widerlegen diese Vermutungen dann unanfechtbar Schritt für Schritt. Das kann manchmal 350 Jahre dauern wie im Fall des Großen Fermatschen Satzes – aber sobald etwas bewiesen ist, kann man sich fest darauf verlassen.

Aber mathematische Bücher und Zeitschriftenartikel sind nicht in puren Formeln verfasst – ein großer Teil ist in ganz gewöhnlicher Sprache geschrieben, nicht jeder kleinste logische Schritt wird ausformuliert. Da kann es durchaus vorkommen, dass ein allgemein akzeptiertes Ergebnis nach Jahren angezweifelt wird. Und manchmal versteht kein Kollege und keine Kollegin, was ein Gelehrter da aufgeschrieben hat.

Deshalb gibt es in den vergangenen Jahren verstärkt Bemühungen, solche Beweise in eine strenge Formelsprache zu übersetzen, die dann von einem Algorithmus auf ihre Korrektheit überprüft werden kann. Ein Netzwerk namens LEAN von Tausenden Mathematikern hat inzwischen große Mengen auch höherer mathematischer Sätze auf diese Weise verifiziert. Sogar der Bonner Mathematiker Peter Scholze, Träger der renommierten Fields-Medaille und unterwegs in recht einsamen Höhen der modernen Mathematik, hat mit den Beweisprüfern zusammengearbeitet (inzwischen sagt er aber in einer E-Mail, er sei “das ganze KI-Zeug leid”).

Aber solche “Proof-Checker” können nur bereits vorhandene Beweise überprüfen, sie kommen nicht selbst auf Ideen, wie man eine Vermutung beweisen könnte. Und da kommen die großen Sprachmodelle ins Spiel: Sie bleiben ja keine Antwort schuldig, und sie lösen auch einfache mathematische Probleme. Beim großen Mathematiktest der ZEIT im Oktober schnitt ChatGPT besser ab als 92 Prozent der Deutschen. Auch einfache Beweise kann der Bot führen. Allerdings “beweist” er auch manchmal falsche Behauptungen, sagt der LEAN-Begründer Leonardo de Moura. Etwa, dass es zwischen zwei ganzen Zahlen immer unendlich viele weitere ganze Zahlen gebe – was wirklich mathematischer Unsinn ist.

Tony Wu und Christian Szegedy haben seit 2015 bei Google an Systemen gearbeitet, die versuchen, Sprachmodellen formale Strenge beizubringen, dass sie sich also an die Fakten halten. Aber sie stießen dort an ihre Grenzen. “Wir haben unsere Vorgesetzten um mehr Ressourcen gebeten”, erzählt Szegedy. “Wir haben keine großen Forderungen gestellt – mehr Rechenkapazität und ein paar zusätzliche Leute.” Auch wenn der Umfang der mathematischen Literatur weitaus geringer ist als die Datenmengen, die große Sprachmodelle aufsaugen, sind doch sehr leistungsstarke Computer nötig, um die Modelle zu bauen. Als ihre Anfragen ignoriert wurden, nahmen sie das Angebot von Elon Musk gerne an.

“Einer meiner Brüder nennt es eine intellektuelle Atombombe”

Ihr System ist heute schon auf schulischem Oberstufen-Niveau, eine Erweiterung bis auf das Level von Mathematikstudierenden halten die beiden für wenig problematisch. Aber von da sind es noch einige Etagen bis zu den abstrakten Strukturen, mit denen sich Mathematikerinnen an der vordersten Forschungsfront beschäftigen. Trotzdem scheut sich Christian Szegedy nicht, eine kühne Prognose abzugeben: Schon im Jahr 2026 würden die Beweismaschinen den besten menschlichen Mathematikern ebenbürtig sein. “Vor ein paar Jahren lag meine Schätzung noch beim Jahr 2029, aber ich werde immer optimistischer”, sagt der aus Ungarn stammende Mathematiker, der seinen Abschluss an der Universität Bonn gemacht hat.

Das wäre natürlich eine größere Kränkung für den menschlichen Geist als die Niederlage in einem Spiel wie Schach oder Go. “Einer meiner Brüder, ein Mathematiker, nennt es eine intellektuelle Atombombe”, sagt Szegedy. Auch Tony Wu sagt: “Selbst die schwersten Probleme der Mathematik, etwa das P=NP-Problem – mit genügend Rechenkapazität sollte das System eine Antwort darauf finden.” Auf einen Zeithorizont für die Lösung dieser Jahrtausendprobleme der Mathematik will er sich nicht festlegen, aber auf jeden Fall würden die neuen Beweis-KI-Systeme “sehr gute Forschungsassistenten” sein.

Diese mathematischen Probleme sind vielleicht nicht die Fragen, die die meisten mit der modernen KI verbinden – aber ein Algorithmus, der umgangssprachlich gestellte mathematische Fragen formal präzise beantworten kann, hätte auch Anwendungen in der Praxis. Da ist zum Beispiel die Verifizierung von Software: Große Programme ähneln heute oft barocken Kathedralen, zusammengeschustert aus recyceltem Code der Vergangenheit. Eine formal denkende KI könnte diese Code-Gebäude auf ihre Verlässlichkeit überprüfen und Schwachstellen, aber auch eingeschmuggelten Schadcode identifizieren. Sicherheitsrelevante Systeme ließen sich besser vor Eindringlingen schützen. Und ganz allgemein: Eine KI, die nicht nur aufgrund statistischer Regeln daherschwätzt, sondern überprüfbare und verlässliche Informationen produziert, wäre für uns alle ein Gewinn.

Noch ist xAI mit weniger als 20 Mitarbeitern eine winzige Firma im Vergleich zu OpenAI oder Riesen wie Google und Microsoft, und ob sie wirklich einen Beitrag zur Entwicklung verantwortungsvoller KI leisten kann, muss sich noch zeigen. Vor allem, weil der Beitrag nicht nur positiv für uns ausfallen kann. “KI ist formbarer, als wir denken”, sagt Christian Szegedy, “und wenn wir die richtige KI entwickeln, kann das ein großer Segen für die Menschheit sein. Aber wir können es natürlich auch vermasseln – und das wäre eine große Katastrophe.”

 

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