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2023: Mali nach den Militärputschen: “Eure Demokratie wollen wir nicht”

 

20. Juni 2023, DLF Das politische Feature

Im westafrikanischen Mali hat das Militär 2020 und 2021 geputscht. Die Bevölkerung applaudierte, dabei galt das Land lange als afrikanische „Musterdemokratie“. Sind die Malierinnen und Malier der Demokratie wirklich müde?

Licht aus riesigen Scheinwerfern durchschneidet den nächtlichen Himmel über Bamako, der malischen Hauptstadt. In einer Nacht im Mai 2023 drängen sich tausende junge Menschen vor einer Konzertbühne, der Moderator des Abends kündigt den nächsten Live-Act an: „Ich wünsche Ihnen einen guten Abend, meine Damen und Herren, mit einem revolutionären Künstler: Master Soumy!“ Die Menge jubelt, Master Soumy – die langen Rasta-Locken zum Pferdeschwanz gebunden -steigt gleich voll ein mit einem der Texte, für die seine Fans ihn lieben:

„Vollmundige Versprechen, nichts wird gehalten – es reicht! Viele werden misshandelt – es reicht! Ihr seid frustriert? – Wehrt Euch, rebelliert! Es reicht! Man kann ein Land nicht auf Lügen bauen, die Demokratie ist bei uns nie angekommen.“

Die Konzertbühne steht neben dem Stadion des 26. März. Der Umsturz vom 26. März 1991 beendete die Militärdiktatur in Mali und brachte die Mehrparteiendemokratie. Gut 30 Jahre später jubelt das Publikum Master Soumy zu. Der rappt vom Frust über die Folgen der real existierenden Demokratie und der überbordenden Korruption: der Staat zugrunde gerichtet, das Volk verarmt, das Establishment reich geworden.

„Wir haben keine Straßen, selbst die Toten möchten zum Mikro greifen. Die Anwälte halten große Reden, aber es herrscht Straflosigkeit. Die Gesellschaft ist verbittert – es reicht!“

 

Massendemos im Jahr 2020

Von Juni 2020 an gingen in Bamako Zehntausende regelmäßig auf die Straße. Das Militär kam dazu, putschte im August 2020 und noch einmal im Mai 2021. Bis heute steht die Bevölkerung mehrheitlich hinter der Militärregierung. Dabei ist die malische Armee nicht irgendeine Armee. Sie wurde in den vergangenen Jahren immer wieder schwerer Menschenrechtsverletzungen beschuldigt: von den Vereinten Nationen, von Menschenrechtsorganisationen, von Überlebenden, mit denen ich gesprochen habe. Einer von ihnen ist Boukary Bila Tamboura. „An dem Tag, als sie uns verhaftet haben, wurden zwei Menschen zu Tode geprügelt“, berichtete er Monate nach dem brutalen Vorgehen der Soldaten. „Wir wissen, dass sie durch die Schläge gestorben sind.“ Zwar hätten die Soldaten den Dorfbewohner n die Augen verbunden, „aber wenn derjenige geschlagen wird, der neben dir sitzt, dann hörst du ja die Schreie und die Schläge und erkennst, wenn er stirbt.“ Einer sei noch vor Ort gestorben, der andere später im Krankenhaus.

 

Warum gilt die Armee als Hoffnungsträger?

Wie kann es sein, dass ausgerechnet diese Armee in Mali jetzt als Hoffnungsträger gilt? Was mögen die Menschen in Mali mit der Demokratie erlebt haben, dass ihnen eine Militärregierung als die bessere Wahl erscheint? Und für welche Staatsform kämpft das Volk jetzt? Um das herauszufinden, bin ich zwei Mal nach Mali gefahren, einmal im März 2022 und noch einmal im April 2023.

Im März 2022 stehe ich in einer Geschäftsstraße in Bamako. In kleinen Läden wird vor allem Baubedarf verkauft: Zement, Fliesen, Sanitäreinrichtungen. Nur wenige Kunden sind unterwegs. Einer ist bereit, ein paar Sätze ins Mikrofon zu sagen – aber bitte nur ohne Namen. „Die Wirtschaft steht still“, beklagt der Zementkäufer. „Auch die jungen Leute sieht man nur rumsitzen und Tee trinken.“ Normalerweise hätten sie ihr Geld auf dem Markt verdient, sich hier und da nützlich gemacht. „Aber jetzt gibt es ja keine Waren mehr, abgesehen von Medikamenten und Lebensmitteln.“

Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas hat nach dem letzten Militärputsch harte Sanktion gegen Mali verhängt. Die Nachbarländer fordern – wie Europa – möglichst bald demokratische Wahlen. Schon vorher war Mali eines der ärmsten Länder der Welt. Eine schwere Dürre, rund 400.000 Binnenflüchtlinge und die globalen Preissteigerungen infolge des Ukraine-Krieges verschärfen die Situation. „Ich habe Angst vor dem, was passiert, wenn die Sanktionen nicht bald aufgehoben werden“, gibt der Zementverkäufer zu. „Dann wird es hier Unruhen geben, aber das traut sich ja niemand zu sagen.“
Trauen sich die Menschen noch, zu reden?

Obwohl die Sanktionen noch monatelang andauern, behält der Passant mit seiner Vorhersage Unrecht: Es gibt keine Brotrevolten, keine Aufstände. Schließlich gibt die Militärregierung dem internationalen Druck nach und kündigt für den Februar 2024 Wahlen an. Daraufhin hebt die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas die meisten Sanktionen auf.

Nach Umfragen der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung stehen mehr als 90 Prozent der Bevölkerung hinter der Militärregierung. Aber ist das wirklich so, oder traut sich kaum einer mehr, etwas anderes zu sagen? Manches deutet darauf hin, dass die Menschen vorsichtig sein müssen: Prominente Kritiker der Militärregierung wurden verhaftet. Arbeitsgenehmigungen für ausländische Journalistinnen und Journalisten ausgesetzt, die französischen Sender RFI und France24 verboten.

 

Die Perspektive der Bauern

Im März 2022 zeigt mir der 28-jährige Mamadou Traoré auf seinem Handy ein Video, aufgenommen im Dezember 2021. Für unser Gespräch ist Traoré mit einem Kollegen aus seinem Dorf im Binnendelta des Niger extra nach Bamako gekommen – für mich als Weiße wäre die Gefahr groß, dort von islamistischen Milizionären entführt zu werden.
Auf dem Video sind verbrannte Reisfelder und verbrannte Erntemaschinen zu sehen. Die Aufnahmen sind verwackelt, Traoré hat vom fahrenden Motorrad aus gefilmt, alles andere wäre noch gefährlicher gewesen. „Wir hatten den ganzen Reis auf unseren Feldern geerntet und wollten am nächsten Tag mit dem Dreschen anfangen“, erzählt Traoré. „Diesen Moment haben die Islamisten abgepasst. Sie sind gekommen, haben unsere Ernte mit Benzin übergossen und alles verbrannt.“

Die Islamisten hätten im Dezember 2021 nicht nur seine komplette Reisernte zerstört, sondern die Lebensmittelreserven der Menschen in drei Kommunen, insgesamt 12 Hektar. Das Binnendelta des Niger wird vor allem für den Reisanbau genutzt und ist die Kornkammer des Landes – oder besser gesagt: könnte es sein, wenn Frieden wäre. Sein Kollege Karamoko Coulibaly ergänzt: „Ich weiß nicht, was die Islamisten damit erreichen wollen, dass sie unsere Felder abbrennen und unsere Ernten vernichten.“ Er hat nur eine mögliche Erklärung: „Vielleicht wollen sie uns aushungern, damit wir uns ihnen unterwerfen.“

 

Bauern fühlen sich besser geschützt

Bei unserem Gespräch im März 2022 sehen die beiden deutliche Fortschritte durch die neue Militärregierung. Seit einigen Monaten seien in ihren Dörfern viel mehr Soldaten präsent, die Armee gebe ihnen jetzt Sicherheit vor Übergriffen der Islamisten. Traoré erzählt, er sei Präsident der Jugendorganisation unseres Dorfes. „Wir unterstützen die Armee mit Informationen, so gut wir können“, erzählt er. „Es hilft uns ja, dass die Soldaten in der Nähe sind. Sie arbeiten auch mit den Dorfchefs und anderen Vertretern der Bevölkerung zusammen.“

In Djelibougou, einem Wohnviertel am Rande von Bamako, treffe ich im März 2022 auch den Aktivisten Alassane Dicko. Er ist Mitglied im internationalen Netzwerk Afrique-Europe Interact und dort für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, außerdem hält er Plädoyers zum Thema soziale Gerechtigkeit. Der ausgebildete Informatiker ist Anfang 50 – ein quirliger, wacher Mensch, der sich mit Leidenschaft an politischen Debatten beteiligt. Dicko ist davon überzeugt, dass die Menschen tatsächlich hinter der Militärregierung stehen, weil das wichtigste Anliegen der Bevölkerung die Wiederherstellung von Sicherheit sei. „Die Menschen wollen wieder reisen können, ohne Blockaden, ohne auf den Straßen bedroht zu werden“, fasst er die Bedürfnisse der Mehrheit zusammen. „Sie wollen ungestört ihre Felder bestellen und abends nach Hause zurückkehren, oder ihr Vieh weiden lassen, ohne dabei angegriffen oder ausgeraubt zu werden. Weder von Militärs, noch von Banditen.”

 

Schwere politische Krise in Mali

Mali, eins der ärmsten Länder der Welt, macht seit 2012 eine schwere politische Krise durch. Der Staat schafft es in den meisten Landesteilen nicht, das Leben und den Besitz der Bevölkerung zu sichern. Islamistische Gruppen mit Verbindungen zum Al-Kaida Netzwerk und zum so genannten Islamischen Staat sowie kriminelle Banden kämpfen gegen die Regierung und terrorisieren die Bevölkerung. Hunderte Zivilisten wurden bereits Opfer der Gewalt, hunderttausende sind innerhalb des Landes auf der Flucht. Im Kampf gegen den Terror werden allerdings auch von den Regierungstruppen ganze Dörfer ausgelöscht. Das bislang brutalste Beispiel: Das Massaker im Ort Moura im März 2022.

 

Was ein Überlebender des Massakers von Moura berichtet

Ein Überlebender des Massakers erzählt, als die Soldaten ins Dorf kamen, habe er es zunächst geschafft, sich im Haus seines Onkels zu verstecken. Die Malier waren in Begleitung von „Weißen, die kein Französisch sprachen“ – es ist bekannt, dass die malische Armeeführung mit Russland kooperiert. Die Bewaffneten seien an einem Sonntag ins Dorf gekommen, er sei erst einmal in seinem Versteck geblieben. „Am Dienstag haben die Bewaffneten angeordnet, dass alle Männer zum Fluss kommen, ich bin auch gegangen.“ Nach seiner Schätzung trafen sich dort etwa 4000 Männer. Je ein oder zwei malische Soldaten hätten eine Gruppe von Gefangenen bewacht. „Wer zu fliehen versuchte, kam nicht weit“, berichtet der Überlebende. „Die Malier haben uns bewacht, die Russen haben die Opfer ausgesucht und getötet, das habe ich selbst gesehen.“ Die weißen Soldaten seien von Gruppe zu Gruppe gegangen. „Sie haben jeweils bis zu 15 oder 10 Männer mitgenommen, um sie zu erschießen. Sie haben die Leute nicht vor unseren Augen erschossen, sondern sind mit ihnen hinter eine Hütte gegangen.“

Zusammen mit russischen Bewaffneten, mutmaßlich Söldnern der Wagner-Gruppe, töten malische Soldaten mehr als 500 Menschen – laut einem UN-Untersuchungsbericht auch Frauen und Kinder. Grausame Ereignisse wie dieses sind auch in Mali bekannt. Warum ist die Bevölkerung vom brutalen Vorgehen ihrer Armee nicht schockiert?

 

Alles Lüge?

In einem Hinterhof in Bamako werden Stühle gerückt. Nach und nach treffen Männer und Frauen ein, Mitglieder der Bewegung „Yerewolo Debout sur les remparts“, „Würdige Männer auf den Zinnen“. Deren Präsident Adama Diarra gilt als einer der einflussreichsten Aktivisten in Mali. Natürlich kennt Diarra die vielen Vorwürfe gegen die malische Armee und ihre russischen Partner. Er hält nicht viel davon. “Das ist die alte Leier, für uns sind diese Vorwürfe des Westens nicht neu“, sagt er in fast spöttischem Ton. „Überall da, wo der Westen nicht am Drücker ist, spricht er von Übergriffen der Armee gegen die Zivilbevölkerung.“ Seine Bewegung habe das seit einem Jahr vorausgesagt: Sobald die malische Armee ihre Stärke zeige, würden solche Vorwürfe erhoben werden. „Einfach nur, weil die Russen nun unsere Partner sind und Frankreich das nicht passt“, meint Diarra. „Die Vorwürfe sind aus der Luft gegriffen.“

Auch der Rapper Master Soumy unterstützt den Übergangsprozess, steht hinter dem Militär. 2022 hat er ein entsprechendes Lied geschrieben: Die Armee sei das Rückgrat der Nation, Garant der Einheit des Landes. „Jeder von uns hat einen Bruder, eine Schwester, einen Vater oder einen Onkel in der Armee“, meint der Rapper. „Ich kenne niemanden, der das Land mehr liebt als der Soldat, der an die Front geht. Er sieht den Tod, er stellt sich dem Tod, damit wir zu Hause ruhig schlafen können.“ Diese Menschen verdienten Respekt und unsere Unterstützung, meint Master Soumy. „Das diskutiere ich mit niemandem.“

 

Kritik an der Korruption

Als Treffpunkt hat mir der Musiker ein Hotel namens „Orpheus Traumstadt“ genannt, etwas außerhalb von Bamako am Ufer des Niger. Eine riesige, fast menschenleere Anlage. Über die Rasenflächen schlendert grasend eine Pferdefamilie, der Hengst schnuppert neugierig an den verwaisten Tischen. Im großen Swimmingpool stehen ein paar junge Leute, hoffen auf Kühlung. Master Soumy hat Jura studiert. In seiner wöchentlichen Nachrichtensendung rappt er über alles, was die Menschen im Alltag beschäftigt und bedrückt. Sein wichtigstes Thema: Die überbordende Korruption in Mali. „Unser Land wurde von Korruption regelrecht durchsetzt“, kritisiert er. „Ich habe diesen organisieren Diebstahl im Herzen unserer Institutionen immer wieder angeprangert.“ Jedes Mal, wenn er einen Vertreter des Staates getroffen habe, habe er gewarnt: „Seien Sie vorsichtig! Finanzskandale breiten sich in einem Staat wie Krebsgeschwüre aus. Je mehr es davon gibt, desto weniger Unterstützung hat eine Regierung. Stattdessen wächst im Volk die Frustration.“ Das sei sehr gefährlich für eine Regierung.

Und vielleicht auch der Grund für das Scheitern der Demokratie, meint Master Soumy. Für die Bevölkerungsmehrheit sind Korruption und Veruntreuung keine abstrakten Themen, sie berühren Überlebensfragen. In den vergangenen Jahren wurden auch Gelder aus dem Militäretat veruntreut. Durch schlechte Ausstattung zusätzlich geschwächt, hat die Armee kaum Chancen gegen die islamistischen Gruppen, kann die Bevölkerung kaum schützen. Die Militärregierung verspricht, gegen Korruption, Veruntreuung und auch gegen Landgrabbing zu kämpfen, also die Aneignung von Land durch Privatpersonen oder durch – meist ausländische – Konzerne. Sie trifft mit diesen Themen einen Nerv der Bevölkerung.

 

Bauern werden Opfer von Landgrabbing

Im Marktviertel von Bamako bin ich mit Bauern aus den Dörfern Sanamadougou und Sahou verabredet. Benké Diarra handelt mit Zwiebeln und Reis. Der Anfang 60Jährige ist eigentlich Landwirt, aber seine Felder hat er schon vor 13 Jahren an einen malischen Großunternehmer verloren. „Von diesem Landgrabbing war ich nicht alleine betroffen, sondern 158 Familien allein in unserem Dorf“, sagt der Bauer.

Der Großunternehmer namens Modibo Keïta sei 2010 in ihr Dorf gekommen. Er habe den Dorfbewohnern noch nicht einmal einen Kaufpreis angeboten, sondern nur gesagt, sie bekämen dann Arbeit in seiner Fabrik. Ihr Dorfchef lehnte ab. Trotzdem pachtete Keïta das Land von der Regierung, obwohl der das Land gar nicht gehörte. Die Bewohner wurden von ihren Feldern vertrieben. Genauso im Nachbardorf Sahou. Die Flächen liegen in einer der fruchtbarsten Regionen von Mali, dem Binnendelta des Niger-Flusses. Die Bewohner der beiden Dörfer bewirtschafteten sie seit Jahrhunderten. Die Dorfbewohner hätten sich an die Regierung und an die Justiz gewandt. „Einmal kam sogar eine Delegation, das war noch zu Zeiten des letzten zivilen Präsidenten.“ Die Mitglieder der Delegation hätten die Fläche vermessen und den Dorfbewohnern schließlich versichert, sie würden ihre Felder wiederbekommen. „Aber bei diesem Versprechen ist es bis heute geblieben“, sagt der Bauer Diarra.

Er und die anderen Dorfbewohner sind davon überzeugt, dass der Unternehmer die Vertreter der damals noch demokratisch gewählten Regierung bestochen hat. Wer kein Geld hat, bekommt kein Recht, diese Erfahrung ist weit verbreitet. Das erklärt zu einem guten Teil, warum nun viele Menschen den Machtwechsel begrüßen. Diarra und die anderen Dorfbewohner hoffen, dass sie mit Hilfe der Militärregierung ihre Felder bald zurückbekommen.

 

Warum wuchert die Korruption?

Aber warum haben sich Korruption und Veruntreuung staatlicher Mittel überhaupt derart verbreitet? Ousmane Sy ist malischer Wirtschaftswissenschaftler und Agrarökonom, war Minister für Territorialverwaltung. Sy ist als Berater international gefragt und viel unterwegs. Zunächst einmal ordnet der das Phänomen ein: Korruption sei nicht neu, es gebe sie seit der malischen Unabhängigkeit. Wenn die Gesellschaft dieses Problem effektiv bekämpfen wolle, müsse sie zunächst verstehen, warum es in der Wahrnehmung der Menschen kein Fehler sei sich an öffentlichen Geldern zu bereichern. Und Sy hat eine Antwort: „Der Staat wird von der Gesellschaft als Fremdkörper empfunden. Das führt dazu, dass korrupte Menschen bei uns nicht sozial verurteilt werden.“ Ganz im Gegenteil werde Korruption vielleicht sogar als eine Form der Gerechtigkeit angesehen. „Wenn jemand öffentliche Gelder zweckentfremdet, um sich selbst, seiner Familie, seinem Clan oder seinen Freunden zu helfen, wird er fast wie ein Held gefeiert.“

Der Staat – ein Fremdkörper. Die Gründe sind nachvollziehbar. Ein Beispiel: Die Amtssprache in Mali ist nach der gültigen Verfassung Französisch. Aber mehr als zwei Drittel der Bevölkerung sind Analphabeten, verstehen kein Französisch, kommunizieren in den Landessprachen. Sie können die Gesetze ihres Landes nicht lesen, die Debatten ihres Parlaments nicht verstehen – und sich an der politischen Willensbildung nicht beteiligen. Sie verstehen die Regierungen buchstäblich nicht. Das, was einen demokratischen Staat im Kern ausmachen sollte, fehlte also in der so genannten malischen Demokratie von Anfang an.
Ganz anders als mit staatlichen Geldern gehen die Gemeinschaften mit traditionellem Allgemeingut um. Im ländlichen Raum wird der gemeinschaftliche Besitz laut Sy von den lokalen Autoritäten verwaltet. „Niemand würde auf die Idee kommen, diesen gemeinschaftlichen Besitz zu stehlen.“ Es geht dabei um Ackerland und Weideflächen. „Niemand darf sich dieses Land aneignen. Es wird von Generation zu Generation weitergegeben. Wer versuchen würde, sich diese Flächen anzueignen, würde aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden.“

 

Die real existierende Demokratie – eine Enttäuschung

Dem malischen Volk blieb die real existierende Demokratie also fremd. Dabei ging der Umsturz, der im März 1991 aus der malischen Militärdiktatur eine Mehrparteiendemokratie machte, auf den Druck der Straße zurück. Das Militär reagierte auf die massiven Demonstrationen zunächst mit Gewalt, bis zu 300 Menschen sollen gestorben sein – doch schließlich musste Diktator Moussa Traoré weichen. Auch international hatte sich der Wind gedreht. Bis zum Ende des Kalten Krieges und den weltpolitischen Umwälzungen von 1989 bis 1991 hatte die ehemalige Kolonialmacht Frankreich ohne Berührungsängste eng mit afrikanischen Despoten kooperiert. Dann, im Sommer 1991, rief der damalige Präsident François Mitterand Vertreter seiner ehemaligen Kolonien im westfranzösischen Badeort La Baule zusammen. Und predigte ihnen auf einmal die Tugenden des demokratischen Wandels: Die afrikanischen Staatschefs sollten Vertrauen haben in Demokratie und Mehrparteiensystem. Mitterrand verband seine Ermutigung mit einer klaren Drohung:
„Diese traditionelle, seit langem bestehende Unterstützung wird sich abkühlen gegenüber Regimen, die sich weiter autoritär verhalten und die Entwicklung hin zur Demokratie nicht akzeptieren. Sie wird für diejenigen umso engagierter sein, die diesen Schritt so mutig wie nur möglich wagen.“

„Das sieht schon so aus, als sei die Form einer parlamentarischen Demokratie und eines Rechtsstaates insofern aufgezwungen worden, als auch die Entwicklungszusammenarbeit bzw. Budgethilfe für diese Staaten an solche Bedingungen geknüpft worden sind“, meint der Ethnologe Georg Klute. Er forscht seit Jahrzehnten zum und im Sahel. Eine aufgezwungene westliche Form der Demokratie – auch viele Menschen in Mali scheinen das heute so zu empfinden. Obwohl tatsächlich viele ihr Leben riskierten, als sie 1991 für die Demokratie demonstrierten. Aber damals gab es nur ein gängiges Modell: die repräsentative Demokratie westlicher Prägung. Ein Modell, das zur Kultur und den Besonderheiten afrikanischer Staaten vielleicht nicht passte.

 

Neoliberale Reformen zeitgleich mit Einführung der Demokratie

Es gibt aber noch einen weiteren Umstand, der die Mehrparteiendemokratie in Verruf gebracht haben könnte. Sie wurde zufällig zu gleichen Zeit eingeführt, wie eine Reihe neoliberaler Reformen. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank setzten diese so genannten „Strukturanpassungsprogramme“ in den 1980er und 1990er Jahren durch, um überschuldete Staaten im globalen Süden finanziell zu sanieren. Der Soziologe und Aktivist Olaf Bernau – er ist – ebenso wie Alassane Dicko – Mitglied des internationalen Netzwerkes Afrique-Europe-Interact, hat die Auswirkungen der damaligen Reformmaßnahmen untersucht. Zu den Maßnahmen habe gehört, dass das Budget auf die Kernaufgaben zusammengestrichen wurde, Schulbesuche waren plötzlich wieder kostenpflichtig, Gesundheitsdienstleistungen wurden reduziert, Subventionen für Grundnahrungsmittel wurden ebenso gestrichen, wie Subventionen für kleinbäuerliche Betriebe. Die Privatisierung von Staatsunternehmen sei durchgesetzt und die Märkte erzwungener Maßen geöffnet worden. „Plötzlich gab es Konkurrenz von außen“, fasst Bernau zusammen. „Dadurch ist ganz viel Industrie ist zusammengebrochen, die ganze Textilindustrie und so weiter.“

Bei der Bevölkerung setzte sich dadurch der Eindruck fest, dass die Demokratie nach westlichem Vorbild ein System ist, in dem das Recht des Stärkeren gilt. Vor allem die politische Elite nutzte die neuen ökonomischen Freiheiten, um sich auch unternehmerisch zu betätigen. Und war auch deshalb ungemein erfolgreich, weil sie Regeln und Gesetze manipulieren konnte – praktisch ungehindert von den staatlichen Institutionen. „Wir haben Institutionen, die nicht funktionieren“, bilanziert der Wirtschaftswissenschaftler Sy. „Auch dann nicht, wenn sie demokratisch eingesetzt wurden.“

Zur effektiven Strafverfolgung seien sie kaum in der Lage. Der Abstand zwischen Arm und Reich wurde immer größer, die Bevölkerungsmehrheit wirtschaftlich abgehängt. Diese krasse soziale Ungleichheit dauert bis heute an. Die Werte, die eine Demokratie attraktiv machen, seien durch den malischen Staat selbst nicht geachtet und nicht umgesetzt worden. „Deshalb sagen jetzt alle: Die Demokratie war eine Enttäuschung, weil sie zu Straflosigkeit und Korruption geführt hat.“

 

Demokratur statt Demokratie

Statt der erhofften Demokratie hatte die malische Bevölkerung eine Demokratur bekommen: die gewählten Volksvertreter vertraten das Volk in Wirklichkeit nicht. Stattdessen nutzten sie ihre Position zum eigenen Vorteil. Dass westliche Staaten dieses System und seine Herrschenden verteidigen, hat viele Menschen in Mali und anderen afrikanischen Staaten der Demokratie entfremdet. Hinzu kommt: Enttäuschung, fast Verzweiflung darüber, dass sich die Sicherheitslage trotz tausender französischer Soldaten im Land und einer großen UN-Mission Jahr für Jahr weiter verschlechterte.
Nun begehrt die Bevölkerung in Mali gegen die Bevormundung auf. „Der Westen, also Europa und vor allem Frankreich müssen zunächst einmal verstehen, dass wir ein souveräner Staat sind“, fordert Master Soumy, der Rapper. „Als souveräner Staat müssen wir über unsere Zukunft und unser Schicksal selbst entscheiden dürfen.“ Stattdessen versuche Frankreich immer noch, afrikanischen Führern seinen Willen aufzuzwingen.

Weg zu einer wirklichen Demokratie?

Im Dezember 2021 haben auf Wunsch der militärischen Übergangsregierung unter Oberst Assimi Goïta die so genannten „Assises Nationales pour la Refondation“ begonnen, die „Nationalen Versammlungen für die Neugründung des Staates“. Präsident Goïta hatte die landesweiten Versammlungen zur Voraussetzung für spätere Wahlen erklärt. Das Volk zieht mit: In Dörfern und Stadtvierteln diskutieren die Menschen darüber, was sie von der Militärregierung erwarten, ob die malische Verfassung geändert werden soll, was aus ihrer Sicht in ihrem Staat verbessert werden müsste. Innerhalb von zwei Wochen finden landesweit hunderte solcher Versammlungen statt, bis zu 90.000 Menschen nehmen teil: Junge und Alte, Frauen und Männer. Zehntausende hören stundenlang zu, gehen an die Saalmikrofone, machen Vorschläge, stellen Forderungen. „Diese Versammlungen waren pluralistisch und fanden im ganzen Land und auf Ebene der verschiedenen Verwaltungseinheiten statt“, betont Alassane Dicko vom Netzwerk Afrique-Europe-Interact, „sie wurden von Vertretern der Bevölkerung organisiert“. Während der Zusammenkünfte habe jede und jeder sprechen können, betont Alassane Dicko vom Netzwerk Afrique-Europe-Interact. Allerdings boykottierten viele Vertreter der bisherigen politischen Klasse die Versammlungen, auch die politischen Parteien.

 

Historisches Vorbild für Demokratie

Am letzten Tag des Jahres 2021 stellten Abgesandte der Versammlungen deren Empfehlungen vor, insgesamt 534. Auch der malische Übergangspräsident Oberst Assimi Goïta hörte zu. Einer der Vorschläge: Die Übergangsphase bis zu den nächsten Wahlen solle zwischen sechs Monaten und fünf Jahren dauern. Außerdem: Mali solle ein einheitlicher und dezentralisierter, auf jeden Fall demokratischer Staat bleiben. „Der wichtigste Punkt ist die Frage, wer uns künftig regiert“, meint Dicko. „Die Bevölkerung möchte, dass die kulturellen und traditionellen Autoritäten des Landes berücksichtigt werden, also die religiösen Führer, die Dorfvorsteher, die Gemeindevorsteher und die Repräsentanten aller anderen traditionellen, kulturellen und sozialen Einheiten.“ Sie sollen, so die Empfehlung, eine institutionell verankerte Rolle bekommen. Dafür muss die bislang gültige Verfassung von 1992 geändert werden. Wie diese neue Verfassung aussehen soll, war während der Versammlungen im Dezember ebenfalls Thema. Nötig sei ein Vertrag, der das Zusammenleben regelt, meint Dicko. Bei ihren Überlegungen habe sich die Bevölkerung vom Kurukan Fuga inspirieren lassen, der Charta des alten Mandé-Königreichs aus dem Jahr 1200. „Sie spricht uns immer noch an und bietet uns ein Grundgerüst an Werten, die wir in die Moderne übertragen wollen.“

 

Gründungsvertrag des historischen Mali

Die Kurukan Fuga war der Gründungsvertrag des historischen Mali, des größten westafrikanischen Reichs der Geschichte. Es reichte weit über die Grenzen des heutigen Staates hinaus. Die Kurukan Fuga ist damit eine der ältesten Verfassungen der Welt, wurde aber nur mündlich überliefert. Sie betonte unter anderem die Bedeutung des sozialen Friedens, die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, den Wert von Bildung, Meinungs- und Unternehmensfreiheit. 2009 wurde die Charta von der UNESCO in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. „Es geht nicht darum, in eine alte Fantasiewelt zurückzukehren, die wir längst verloren haben“, betont Dicko. „Es geht darum, das zurückzubringen, was unsere Identität prägt.“ Und so eine malische Demokratie zu entwickeln, in Abgrenzung zu dem, was als „westlich“ und fremd empfunden wird.

 

Bruch mit Frankreich

Im Frühjahr 2023 wird im staatlichen Fernsehsender ORTM 1 ein Kommuniqué des Generalstabs verlesen. Es ist eine Auflistung von Erfolgen der malischen Armee gegen islamistische Kämpfer. Ähnliche Meldungen sind in den Medien jetzt häufig.
Seit meinem letzten Besuch in Mali ist viel passiert: Im August 2022 hat Frankreich seine letzten Soldatinnen und Soldaten aus dem Krisenstaat abgezogen, es hatte seit 2013 mit bis zu 4500 Militärs islamistische Terrorgruppen bekämpft. Das Verhältnis zwischen Mali und Frankreich ist zerrüttet. Auch Deutschland wird seine Truppen bis 2024 abziehen. Stattdessen hat Mali seine militärische Zusammenarbeit mit Russland vertieft.

Malische und internationale Medien berichten seit Monaten regelmäßig über neue Lieferungen von Kriegsgerät aus Russland: Hubschrauber, Kampfjets, gepanzerte Fahrzeuge, Waffen. Es häufen sich Berichte über schwerer Menschenrechtsverletzungen durch die malische Armee und ihre russischen Partner, mutmaßlich Kämpfer der berüchtigten Wagner-Truppe. Ich bin im April 2023 noch einmal nach Mali gereist, um Antworten auf drei Fragen zu finden: Hat sich die Sicherheitslage verbessert? Auf welchem Weg ist die malische Demokratie? Und schließlich: Wie steht es mit der Meinungsfreiheit und anderen Grundrechten unter der militärischen Übergangsregierung?

 

Ein Weg nach vorne?

In einem Hotel am Nigerufer in der Stadt Ségou treffe ich die Bauern aus dem Binnendelta des Niger wieder. Seit unserem letzten Gespräch habe sich die Lage rund um ihr Dorf weiter verbessert, meint Karamoko Coulibaly. Sie hätten ihre Felder in der letzten Saison deshalb ungestört bestellen können. Coulibaly ist Präsident einer Basisgewerkschaft von Bauern namens Copon, die vom Netzwerk Afrique-Europe-Interact unterstützt wird. „Wir waren ja letztes Mal zuversichtlich, dass wir in der nächsten Saison eine gute Ernte einfahren würden“, sagt Coulibaly. „Das Gegenteil war der Fall, wir hatten viele Probleme. Uns fehlten die landwirtschaftlichen Produktionsmittel, zum Beispiel Dünger. Alles ist teurer geworden, auch Dünger. Hinzu kommt, dass wir auf dem Markt keinen finden, es gibt einfach zu wenig.“

Obwohl es schon früher Nachmittag ist, kommen die beiden jetzt erst zum Frühstücken, es gibt Rührei und Brot. Sie mussten sich in ihrem Dorf bei Tagesanbruch auf den Weg machen, um es mit verschiedenen Verkehrsmitteln bis nach Ségou zu schaffen. Ein beschwerlicher Weg, und Coulibaly ist mit Ende 60 nicht mehr der Jüngste. Trotzdem haben die beiden die Mühe auf sich genommen, um von ihrer schwierigen Lage zu berichten. Er selbst bewirtschafte drei Hektar, sagt Coulibaly. „Früher habe ich 70 bis 75 Sack Reis pro Hektar geerntet. In diesem Jahr waren es nur 30.“ Normalerweise wird Kunstdünger vom malischen Staat subventioniert, aber die Übergangsregierung stellt diese Subventionen nicht im gewohnten Umfang bereit. Obwohl sie enttäuscht sind, haben die beiden eine klare Meinung: „Dass wir den Machtwechsel hatten, hat uns sehr geholfen“, meint Traoré. „Die Militärs tun was sie können, um die Situation zu verbessern. Wir unterstützen sie zu 100 Prozent.“

 

Gibt es wirklich mehr Sicherheit?

Etwas ratlos fahre ich zurück nach Bamako. Wie passt es zusammen, dass sich viele Menschen sicherer fühlen, die Bauern im Nigerdelta ihre Felder wieder bestellen können – aber für Weiße mittlerweile nur noch die Hauptstadt und Ségou als halbwegs sicher gelten?

„Ich halte das Reden davon, dass die Armee jetzt militärisch viel stärker wäre, für irreführend“, meint dazu der Jurist Boubacar Ba. Er leitet das „Zentrum für die Analyse von Regierungsführung und Sicherheitsfragen“ in Bamako und forscht seit vielen Jahren zu den Konflikten im Zentrum des Landes. Der Eindruck neuer militärischer Stärke geht aus seiner Sicht auf die Informationsabteilung der Armee zurück, die in regelmäßigen Abständen Meldungen über militärische Operationen herausgibt. Allerdings bestätigt Ba, dass die Armee zwischen Januar und Juni 2022 in die Offensive gegangen sei. „Mit der Ankunft der Russen, die man Wagner nennt, haben sie das Land in Sicherheitszonen aufgeteilt.“ Dabei hätten sie sich vor allem auf die Landesmitte konzentriert.“ Nach meinen Informationen hat es die Armee geschafft, die Basen der islamistischen Gruppen dort zu zerstören.“

Dabei seien viele Zivilisten, aber auch islamistische Kämpfer getötet worden. Die übrigen hätten sich in unzugängliches Buschland und Wälder zurückgezogen. Sie hätten jetzt nicht mehr ganze Regionen, sondern nur noch einen Flickenteppich von Gebieten unter Kontrolle.
Aber die islamistischen Kämpfer seien sehr mobil und hinderten die Armee mit ihren Angriffen daran, die befreiten Gebiete zu besetzen. „Ein wichtiger Gradmesser für die Stabilisierung wäre, dass die Verwaltung zurückkehrt“, meint Ba. „Dass die Schuldirektoren zurückkommen, die Schulen wieder geöffnet werden, die Gesundheitszentren wieder funktionieren. Nichts davon ist passiert, in den letzten fünf oder sechs Jahren hat sich in diesem Sinne gar nichts verändert.“ Die Armee erobere Gebiete vor allem durch die Luftwaffe, „auf dem Boden marschiert sie selten vor, nur manchmal mit den Russen“.

Im Rahmen einer Sondersendung verliest Regierungssprecher Abdoulaye Maiga Mai 2023 im staatlichen Fernsehen ein Dekret: Am 18. Juni soll das Volk in einem Referendum über die neue Verfassung abstimmen, drei Monate später, als ursprünglich geplant. Mit dem Referendum will die Übergangsregierung, so sagt sie, den Weg für demokratische Wahlen ebnen, die hat sie den Nachbarstaaten der Ecowas für Februar 2024 versprochen.

 

Entwurf einer neuen Verfassung

Der Soziologe Ely Dicko lehrt an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Bamako und ist Mitglied der 25köpfigen Kommission, die den Entwurf der neuen Verfassung geschrieben hat. Laut Dickos stützte sich die Kommission auf die gültige Verfassung von 1992 und zog außerdem alle Änderungsentwürfe heran, die im Laufe der Jahre diskutiert, aber letztlich nie umgesetzt wurden. Die Verfassungskommission habe außerdem eine Internetseite eingerichtet, auf der die Malierinnen und Malier Vorschläge einreichen konnten. Allein darüber haben seien 3727 Vorschläge eingegangen. Was außerdem einfloss: Empfehlungen der so genannten „Versammlungen zur Neugründung des Staates“, die im Dezember 2021 stattfanden. Im Verfassungsentwurf bekommt der Präsident deutlich mehr Macht. Er würde künftig den Ministerpräsidenten und die Minister ernennen, er könnte sie auch entlassen. Außerdem wichtig: Mali bekäme eine zweite Parlamentskammer in Form eines Senats. Dessen Vertreter würden in den Regionen gewählt, aber nur zu einem Teil. Ein Drittel würde über religiöse Persönlichkeiten und kulturelle Würdenträger besetzt. Künftig würde Französisch von der Amtssprache zu einer Arbeitssprache herabgestuft, während alle malischen Idiome als Nationalsprachen anerkannt würden. Mali bliebe ein laizistischer Staat, Religion und staatliche Institutionen blieben also voneinander getrennt – obwohl sich rund 90 Prozent der Bevölkerung zum sunnitischen Islam bekennen. Und: Erstmals bekäme Mali einen Rechnungshof. Staatliche Funktionsträger sollen demnach nicht nur beim Amtsantritt ihr Vermögen offenlegen, sondern jährlich – und müssten erklären, woher eventuelle Zuwächse stammen. Christian Klatt, der das Büro der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako leitet, hat durchaus auch Lob für den Verfassungsentwurf. « Es gibt positive wie negative Aspekte in dieser Verfassung“, meint Klatt. Er hält ihn für „grundsätzlich relativ solide.“ Wichtig wäre allerdings die Frage, wie er umgesetzt wird. Mali habe auf dem Papier schon viele gute Gesetze und viele gute Prozesse auf den Weg gebracht. „Es ist immer die Umsetzung, an der es scheitert.“

 

Widersprüchliche Eindrücke

Bewegt sich Mali also doch in Richtung einer Demokratie, ist es tatsächlich dabei, sein eigenes Modell zu entwickeln? Ich frage Alassane Dicko, den Aktivisten vom Netzwerk Afrique-Europe-Interact, der ganz am Anfang der Übergangsphase an den landesweiten Versammlungen teilgenommen hat. Er hält sich seit einigen Wochen außerhalb Malis auf und antwortet mir mit einer Sprachnachricht: „Das Glas ist halb leer und halb voll. Das Gesamtbild ist in sich sehr widersprüchlich. Die große Mehrheit der Menschen schätzt die Arbeit der Übergangsregierung sehr, das ist jedenfalls mein Eindruck.“ Weiterhin fänden viele Workshops und Versammlungen statt, um die Bevölkerung über die verschiedenen Schritte zu informieren. Die religiösen und traditionelle Autoritäten seien in die Abläufe eingebunden. „Gesellschaftlich ist viel in Bewegung. Andererseits kann ich nicht sagen, dass alles gut ist. An welche Stelle können sich beispielsweise diejenigen wenden, die mit den Entwicklungen nicht einverstanden sind? Diejenigen, die anderer Meinung sind oder den Finger in bestimmte Wunden legen, werden stigmatisiert. Es ist also nicht einfach.“

Vielleicht sind die Militärs ja tatsächlich bereit, die Macht im Frühjahr 2024 an eine gewählte Regierung zu übergeben. Oder lassen sich womöglich selber wählen und machen dann weiter wie gehabt. Aber kann man einer Militärregierung trauen, die derart rücksichtslos gegen die Bevölkerung vorgeht und hunderte Menschen töten lässt?

 

Für das Volk hat sich kaum etwas verändert

Auf dem Markt von Ségou höre ich mich um, was die Menschen hier über die Militärregierung denken. Die Marktfrau Fatumata Diallo ist an dem politischen Thema wenig interessiert. „Ich kann Ihnen nur von Armut berichten“, sagt sie. Diallo sitzt auf einem Schemel zwischen ihren Waren: Gurken, Zucchinis, Tomaten und weiteres Gemüse. In einem Plastikteller hat sie eine Avocado zerkleinert, die teilen sich gerade ihr Sohn und ihre Tochter, die beiden sind fünf und sieben Jahre alt. Alles sei teuer geworden, sagt die Händlerin, das Brot, der Reis, der Treibstoff – einfach alles. Sofern die Regierung irgendetwas subventioniere, käme das jedenfalls bei den Verbrauchern nicht an. „Die Regierung macht gar nichts für uns“, ist ihr Eindruck. „Jeder schlägt sich durch, so gut er kann. Wir hatten geglaubt, dass unser Leben mit der Übergangsregierung leichter wird, aber das Gegenteil ist der Fall. Darüber sind wir natürlich enttäuscht. Für das Volk hat sich kaum etwas verändert.
Ihr Mann, der Architektur studierte, könne bei der Ernährung ihrer Kinder auch nicht viel helfen: Weil er aus einer armen Familie stammt, fand er keinen Job – es fehlten die Beziehungen. Jetzt versucht er, in Sikasso ganz im Süden von Mali mit dem Verkauf von Handyhüllen als Straßenhändler etwas Geld zu verdienen. Für Wahlen interessiere sie sich nicht, bekräftigt Diallo. „Was mich interessiert, sind meine Arbeit und der Preis der Produkte.“ Zu einem anderen Thema hat sie aber durchaus eine Meinung: „Es gibt keine Sicherheit in Mali, ständig werden Menschen überfallen“, kritisiert sie. „Die Übergangsregierung behauptet vielleicht etwas anderes, aber die sagen was ihnen gefällt, bloß um uns zu beruhigen.“

 

 

 

 

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Grenzenlose EU: Das spanisch-französische Krankenhaus Hospital de Cerdanya

 
 

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2015: Offene Wunden – drei Jahre nach dem Massaker von Marikana in Südafrika

 

Im August 2012 endete ein Bergarbeiterstreik in Südafrika tödlich. Der Polizeieinsatz erinnerte viele Bürger*innen an die Apartheid. Doch das “Massaker von Marikana” hatte kaum Konsequenzen, berichtete Weltreporterin Leonie March drei Jahre später nach einer Recherche vor Ort.

Leonie March für Deutschlandfunk Hintergrund 16.8.2015

Kameras haben alles aufgezeichnet: Es ist der 16. August 2012, kurz vor vier, als die Polizei das Feuer eröffnet. Staub wirbelt auf. Als er sich wieder legt, liegen dutzende Bergleute auf dem Boden. Zuerst scheint es, sie seien alle tot, bis sich ein Verwundeter mühsam aufrappelt. Schock und Ungläubigkeit in den Augen. Keiner hilft ihm. Erst nach einer Stunde lässt die Polizei Notärzte auf das Gelände. 34 Menschen sterben, mehr als doppelt so viele werden teils lebensbedrohlich verletzt.
Heute erinnern nur noch ein paar windschiefe weiße Kreuze an die Ereignisse von damals. Genau dort, wo sich das sogenannte Massaker von Marikana ereignet hat. Vor zwei Felshügeln mitten in der trostlosen Landschaft. In unmittelbarer Nähe der Platinmine des Lonmin-Konzerns und der Blechhütten, in denen die Bergleute wohnen. Mzoxolo Magidiwana kommt fast jeden Tag an den Kreuzen vorbei. Der 26-Jährige humpelt leicht.
„I am dead man.“
Toter Mann, nennen sie ihn hier. Denn es grenzt an ein Wunder, dass der junge Bergmann noch lebt. Er ist derjenige, der sich damals unter seinen toten Kollegen noch regte. Ein Dutzend Kugeln trafen ihn bei der blutigen Niederschlagung des Streiks. Sie machten ihn zeugungs- und bis heute arbeitsunfähig.

„Die meisten hier sind müde und frustriert, so wie ich auch. Denn seit dem Massaker hat sich hier in Marikana kaum etwas verändert. Die Bergbaukonzerne haben zwar versprochen, dass sie hier richtige Häuser bauen wollen und dass sich unsere Lebensbedingungen verbessern sollen. Aber schauen sie sich mal um: Wir leben immer noch im Dreck. Den Arbeitgebern trauen wir ebenso wenig wie unserer Regierung. Sie hat sich noch nicht einmal dafür entschuldigt, was damals hier passiert ist. Solange das nicht geschieht, wird Marikana für uns immer eine offene Wunde bleiben. Das Vertrauen der Arbeiter in die Regierung ist zerbrochen. Um es wiederzugewinnen, müsste sie uns wenigstens entgegenkommen.“

Überlebender des Massakers von Marikana

Mzoxolo Magidiwana hat schwerverletzt überlebt (Foto: Leonie March)

Marikana bleibt für die Bergleute eine offene Wunde
Doch das ist nicht zu erwarten. Es beginne bei der Wortwahl, erklärt Politikwissenschaftler Zakhele Ndlovu.

„Die Regierung lehnt es ab, die Verantwortung zu übernehmen. Statt von einem Massaker spricht sie von einer Tragödie. Es war das erste Mal seit dem Ende der Apartheid, dass so viele Menschen von der Polizei getötet wurden. Es war das erste Mal, dass unsere demokratisch gewählte Regierung maximale Gewalt anwendete. Viele Südafrikaner erinnerten diese Bilder an die Vergangenheit: An das Sharpeville-Massaker oder die blutige Niederschlagung des Schüleraufstands von Soweto 1976.“

Wie es in der jungen Demokratie zu einem solchen Blutbad kommen konnte, sollte eine Untersuchungskommission klären, die Südafrikas Präsident Jacob Zuma eingesetzt hatte. Ursprünglich sollten die Anhörungen nur ein paar Monate dauern. Doch letztendlich tagte das Gremium über zwei Jahre lang. Auch diese Anhörungen erinnerten viele Südafrikaner an die Vergangenheit – an die Wahrheits- und Versöhnungskommission, bei der sich Täter und Opfer der Gräueltaten während der Apartheid gegenüberstanden. Für die Angehörigen sei es ein schmerzhafter, aber sehr wichtiger Prozess gewesen, betont Opferanwältin Nomzamo Zondo.

„Für die Familien war es von Beginn an wichtig, der Polizei vergeben zu können. Sie wollten nicht, dass Wut und Schmerz ihr weiteres Leben bestimmen. Sie wollten mit dem Trauma abschließen können. Zu Beginn der Anhörungen waren sie gebrochene Leute. In der Öffentlichkeit waren ihre Männer, Söhne und Väter wie gewalttätige Wilde dargestellt worden, die die Polizei angegriffen hatten. Die Beamten gaben an, in Notwehr gehandelt zu haben. Doch diese Version wurde im Laufe der Anhörungen wiederlegt. Bereits Stunden vor der Eskalation waren mehrere Leichenwagen angefordert worden. Etliche der Bergleute wurden von Schüssen in den Rücken getötet. Es wurde sogar klar, dass die Polizei Beweise manipuliert hatte. Das war der wohl wichtigste Moment für die Angehörigen. Sie konnten die Würde und den Ruf der Opfer wiederherstellen.
Schmerzhafter Prozess für die Angehörigen
Konkrete Erwartungen der Angehörigen und der Überlebenden wurden jedoch enttäuscht. Der Abschlussbericht der Untersuchungskommission sieht keine Entschädigung vor. Beobachter rechnen mit einer Klagewelle. Zwar wird in dem über 600 Seiten umfassenden Dokument scharfe Kritik geübt: Sowohl am Konfliktmanagement des Lonmin-Konzerns als auch der teils unverhältnismäßigen Gewalt der Polizei und der schlechten Planung des Einsatzes. Doch statt konkreten Konsequenzen empfiehlt das Gremium lediglich weitere Ermittlungen. Sogar die Polizeibeamten, die damals geschossen haben, sind bis heute im Dienst, bemerkt Mzoxolo Magidiwana bitter.
„Bergleute wie ich, die damals an dem Streik teilgenommen haben, wurden von der Kommission monatelang befragt und ins Kreuzverhör genommen. Im Gegensatz zur anderen Seite: Die Polizisten haben nicht einmal alle ausgesagt. Ihre Befehlshaber aus Polizei und Politik mussten nur ein paar Tage erscheinen. Unseren Anwälten blieb nicht genug Zeit für die Befragung. Das war ernüchternd, wenn auch nicht unbedingt überraschend. Denn die Kommission war von vornherein nicht unabhängig. Sie ist von Präsident Jacob Zuma beauftragt worden. Er schützt die Interessen der Bergbauindustrie ebenso wie die seiner Regierung. Es ist eine Farce, dass er jetzt auch über die Empfehlungen der Kommission entscheidet. Ihr Bericht geht zurück in die Hände, die dafür verantwortlich sind, dass viele von uns damals getötet wurden.“
Die fehlenden politischen und personellen Konsequenzen aus dem Blutbad sind tatsächlich ernüchternd. Bis heute gab es weder Rücktritte noch Verurteilungen. Am härtesten ging die Untersuchungskommission mit Südafrikas Polizeichefin Riah Phiyega ins Gericht. Ihr droht eine Amtseignungsprüfung. Bis dahin aber bleibt sie auf ihrem Posten. Der damalige Polizeiminister Nathi Mthethwa ist heute Kulturminister und sitzt damit weiterhin am Kabinettstisch. Im Zentrum der Kritik steht jedoch ein anderer: Südafrikas heutiger Vize-Präsident Cyril Ramaphosa. Ausgerechnet ein ehemaliger Gewerkschaftsführer, der während der Apartheid für die Rechte der Bergleute gekämpft hatte. Zum Zeitpunkt des Streiks war er nicht nur Mitglied des ANC-Parteipräsidiums, sondern saß auch im Aufsichtsrat des Lonmin-Konzerns. Ein Schriftwechsel belegt, dass er seine Kontakte spielen ließ, um für ein schnelles Ende des Streiks zu werben. Für die Untersuchungskommission war dies kein ausreichendes Argument für eine politische Mitverantwortung an dem Blutbad. Ein schaler Beigeschmack bleibe jedoch, betont Politikwissenschaftler Zakhele Ndlovu.
„Nachdem Cyril Ramaphosa öffentlich eine Konspiration mit der Polizei vorgeworfen wurde, wurde er regelrecht belohnt. Nur wenige Monate später wurde er zum stellvertretenden Präsidenten der Regierungspartei ANC gewählt und letztes Jahr dann auch zum Vize-Präsidenten Südafrikas. Für mich ist das mehr als ironisch. Ich hätte mir gewünscht, dass die Verantwortlichen für dieses Desaster zur Rechenschaft gezogen worden wären. Denn momentan stellt es einen gefährlichen Präzedenzfall dar. In Zukunft könnten wieder Menschen getötet werden, ohne dass das Konsequenzen nach sich zieht. Im Untersuchungsbericht ist zwar von weiteren Ermittlungen die Rede, aber wir wissen alle, dass sie im Sande verlaufen werden. Gar nichts wird passieren.“
Keine Konsequenzen für die Verantwortlichen
Präsident Zuma liegt offensichtlich wenig an einer Aufklärung. Er ist ein Machtpolitiker, der schon viele Skandale ausgesessen hat: Korruptionsvorwürfe, die Verschwendung öffentlicher Gelder für den Ausbau seiner Privatresidenz oder die ungehinderte Abreise von Sudans Präsident al-Bashir aus Südafrika Ende Juni, trotz eines Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs. Es ist kein Zufall, dass Zuma den Marikana-Untersuchungsbericht inmitten dieser Kontroverse veröffentlicht hat.
„Die Regierung wollte verhindern, dass der Bericht die volle Aufmerksamkeit bekommt. Die Debatte um al-Bashirs Ausreise hat diesen eigentlich sehr wichtigen Moment in der Geschichte unseres Landes überschattet. Kurzfristig ist es also gelungen ihn herunterzuspielen. Langfristig wird er jedoch sicherlich noch eine Rolle spielen. Denn es ist eine sehr ernsthafte Angelegenheit, wenn Menschen, die protestieren, einfach erschossen werden. Es stimmt, dass einige von ihnen gewalttätig waren, aber diesen Tod haben sie deshalb nicht verdient.“
Sechs Tage vor der blutigen Eskalation waren rund dreitausend Arbeiter des Lonmin-Konzerns in Marikana in einen Streik getreten. Viele von ihnen trugen traditionelle Waffen wie Speere, einzelne aber auch Schusswaffen. Die Stimmung war aufgeheizt. Zu lange waren diese Arbeiter mit ihren Forderungen nach höheren Löhnen, besseren Arbeits- und Lebensbedingungen bei der nationalen Bergbaugewerkschaft, NUM, auf taube Ohren gestoßen. Deshalb hatten sie sich der neuen radikaleren Arbeitnehmervertretung AMCU angeschlossen. 12.500 Rand, umgerechnet knapp 900 Euro Mindestlohn lautete ihre Kernforderung. Mehr als das Doppelte des bisherigen Lohnniveaus.
Doch Arbeitgeber Lonmin erkannte AMCU nicht als Tarifpartner an und verweigerte jedes Gespräch. Von Tag zu Tag spitzte sich die Lage weiter zu – zwischen Mitgliedern der beiden rivalisierenden Gewerkschaften, dem Sicherheitspersonal der Platinmine, der Polizei und den streikenden Bergleuten. Zehn Menschen kamen in den Tagen vor dem sogenannten Massaker ums Leben, darunter auch Polizisten. Mehreren Bergleuten drohen nun Anklagen wegen Mordes. Südafrikas Regierungspartei ANC sei aber nicht nur wegen des Todes der Beamten unter Druck gewesen, erklärt Zakhele Ndlovu.
„Ein Grund, warum der ANC vermeiden möchte, dass Marikana zu viel öffentliche Aufmerksamkeit bekommt, ist seine Nähe zur NUM. Sie ist ein wichtiges Mitglied des Gewerkschaftsbunds COSATU, einem Bündnispartner des ANC. Der Staat war in diesem Streik also mitnichten neutral. Die Regierungspartei konnte es nicht zulassen, dass die neue Gewerkschaft AMCU ihrem Bündnispartner Mitglieder abwirbt und Arbeiter der NUM, die sich nicht am Streik beteiligt haben, sogar umgebracht werden. So wirkt es jedenfalls.“
Rivalisierende Gewerkschaften
In Südafrikas Platingürtel sind die Spannungen zwischen den beiden rivalisierenden Gewerkschaften bis heute deutlich zu spüren. Die NUM musste einen empfindlichen Mitgliederschwund hinnehmen und hat in den meisten Minen ihre Mehrheit verloren. AMCU sei nun die tonangebende Gewerkschaft, erzählt Makhanya Siphamandla stolz. Der junge Bergmann ist AMCU-Vertrauensmann in einer Platinmine des Branchenriesen „Anglo Platinum“ in Rustenburg.
„Unsere Väter, die Generation 55 plus, haben noch eine historische Verbindung zur NUM. Das war die Gewerkschaft, die mit ihnen gegen die Apartheid gekämpft hat. Diese Leute wollen nicht wahrhaben, dass ihre Gewerkschaft sie längst im Stich gelassen hat. Die jüngere Generation sieht dagegen klarer und kämpft heute für AMCU. Vielen steigt schon die Wut hoch, wenn sie jemanden in einem NUM T-Shirt sehen.“
Der Gewerkschafter selbst trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Gedenkt der Toten von Marikana“. Das blutige Ende des Arbeitskampfes von 2012 hat ihn tief geprägt und radikalisiert. So wie viele seiner Kollegen. Knapp anderthalb Jahre nach diesen traumatischen Ereignissen führte seine Gewerkschaft AMCU die Platinkumpel in einen neuen Arbeitskampf. Es sollte der Längste der Geschichte werden. Die Verhandlungen mit den Konzernen dauerten ganze fünf Monate lang. Der unbezahlte Ausstand habe die Arbeiter an ihre Grenzen gebracht, erinnert sich Makhanya Siphamandla. Familien mussten hungern, denn das Gehalt eines südafrikanischen Bergmanns ernährt im Durchschnitt zehn Verwandte.
Auch die Konzerne waren am Limit: Der monatelange Produktionsstopp kostete sie über 1,8 Milliarden Euro. Ein harter Schlag für die ohnehin kriselnde Platinindustrie: Der Preis für das Edelmetall sinkt seit Jahren, die südafrikanische Währung schwächelt, regelmäßige Stromausfälle erschweren den Alltag, die Löhne steigen schneller als die Produktivität. Werksschließungen und Entlassungen sind die Folge.
Blick auf eine Platinmine

Platinbergwerk in Südafrika (Foto: Leonie March)

Kriselnde Platinindustrie
Wie damals in Marikana forderte AMCU bei dem Marathonstreik einen Mindestlohn von 12.500 Rand. Mittlerweile eine fast magische Zahl, die für viel mehr steht als nur einen Gehaltsabschluss. Am Ende lag der Kompromiss etwas darunter. Aber der Kampf sei noch nicht zu Ende, betont der Gewerkschafter.
„Die Meisten denken so wie ich. Wir haben genug Energie, um bei Ablauf des Tarifvertrages im kommenden Jahr wieder für einen Mindestlohn von 12.500 Rand zu streiken. Wir können dieses Ziel erreichen. Und das nicht nur im Bergbau. Wir fordern für alle ein Gehalt, das zum Leben reicht, nicht nur zum Überleben. Die Leute müssen endlich aufwachen und begreifen, dass wir in Südafrika tiefgreifende Veränderungen brauchen. Für die ältere Generation war diese Regierung vielleicht in Ordnung, aber die junge braucht einen Wechsel.“
Noch sitzt der ANC zwar mit einer komfortablen Mehrheit fest im Sattel, aber die politische Landschaft ändert sich langsam. Bei der nächsten Wahl werden junge Wähler, die kurz vor oder nach der demokratischen Wende geboren wurden, in der Mehrheit sein. Sie verbindet keine historische Loyalität mit der ehemaligen Befreiungsbewegung. Die junge linke Oppositionspartei „Economic Freedom Fighters“ hat schon bei den letzten Wahlen auch im Platingürtel deutlich an Unterstützung gewonnen. Außerdem formiert sich dort eine neue Arbeiterbewegung unter der Führung der mächtigen Metallarbeitergewerkschaft NUMSA. Sie hatte scharfe Kritik an der Regierungsallianz aus ANC, kommunistischer Partei und dem Gewerkschaftsbund COSATU geübt. Unter anderem warf sie ihr Korruption, Vetternwirtschaft und Schönfärberei des Massakers von Marikana vor. Daraufhin wurde sie von COSATU ausgeschlossen. Nach der Einschätzung von Politikwissenschaftler Zakhele Ndlovu könnte das der Anfang des Endes der Regierungsallianz sein.
„Die Gewerkschaften werden sich mit der Zeit vom ANC distanzieren, weil die Regierungspartei aus ihrer Sicht nicht mehr die Interessen der Arbeiterschaft vertritt. Durch das Bündnis sind die Gewerkschaften unterwandert worden. Sie waren für viele nur ein Mittel, um eine politische Karriere zu machen. Der Kampf für die Rechte der Arbeiter machte sich einfach gut im Lebenslauf. Von den Top 6 der ANC-Führung hat schließlich jeder eine Gewerkschaftsvergangenheit. Das Bündnis zwischen dem ANC und COSATU wird also zerbrechen. Die ersten Risse zeigen sich ja bereits. Die regierungskritischen Stimmen werden lauter und weitere Gewerkschaften werden sich aus dieser politischen Allianz lösen.“
So etwas wie Aufbruchsstimmung ist in Marikana jedoch nicht zu spüren. Nach Schichtende überqueren Lonmin-Arbeiter in ihren dreckigen Overalls das karge Feld zwischen Werkgelände und ihren kleinen Blechhütten. Sie wirken müde und abgekämpft. Ihr verwundeter Kollege Mzoxolo Magidiwana schaut ihnen von seinem Stuhl aus zu. Irgendwann muss auch er wieder in den Schacht einfahren. Das wünscht er sich sogar. Die körperlichen Narben seien fast verheilt, meint er nach einer Weile. Aber gesellschaftlich werde Marikana noch lange eine offene Wunde bleiben.
„Wir wünschen uns, dass die Wahrheit darüber noch ans Licht kommt, was damals geschehen ist. Das ist nicht nur für uns Bergleute wichtig, sondern für unser ganzes Land. Die Leute, die wir selbst gewählt haben, sind für das Massaker ebenso verantwortlich wie für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Statt unserer Interessen verfolgen sie ihre eigenen. Darunter leiden nicht nur wir in Marikana, sondern ganz Südafrika. Unsere Kinder leben heute in den gleichen ärmlichen Verhältnissen wie wir. Sie laufen Gefahr ebenso wenig Bildung zu bekommen, sodass auch ihnen nichts anderes übrig bleiben wird, als in den Bergwerken zu schuften. So wie Generationen vor uns. Bei diesem Kampf geht es also um die Zukunft und die Würde unserer Kinder. Dafür lohnt es sich weiterzukämpfen.“
 

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2005: Das Ende der Toleranzgesellschaft: Die Niederlande im Umbruch

 

Von Kerstin Schweighöfer, 5. März 2005, Deutschlandfunk

Dieser Mord hat die Niederlande in eine tiefe Krise gestürzt. Und doch erinnert 2005 nichts mehr an dieses Verbrechen vom 2. November 2004 in der Linnäusstraat von Amsterdam, das den Gesetzen eines archaischen Racherituals folgte – mit Todeschüssen, aufgeschlitzter Kehle und einem islamistischen Brandbrief.

Das Opfer: Theo van Gogh. Künstler. Regisseur. Provokateur. Seine verletzenden, oft schockierenden Verbalattacken richteten sich gegen Politiker und Kirchenleute gleichermaßen. Und immer öfter: gegen Muslime. Gemeinsam mit der aus Somalia stammenden niederländischen Abgeordneten Ayaan Hirsi Ali hatte er in einem Film die Unterdrückung der Frauen in der islamischen Welt angeprangert und damit eine erregte Debatte ausgelöst.

Der Täter: Mohamed B., 26 Jahre alt. In Amsterdam geboren und zur Schule gegangen. Mitarbeiter einer Stadtteilzeitung. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001, die auch in den Niederlanden zu heftigen Anfeindungen von Muslimen führten, entwickelte Mohamed B. immer radikalere Ideen. Der Mord an dem rechtspopulistischen Politiker Pim Fortuyn mag ihm als Vorbild gedient haben: Fortuyn war mit derben Sprüchen gegen Multikulturalismus und Toleranz zu Felde gezogen und im Mai 2002 von einem Niederländer ermordet worden.

Die Stimmung ist umgeschlagen. Von Multikulti will niemand mehr etwas wissen. Nicht in den bürgerlichen Stadtvierteln der Einheimischen. Und nicht in den sogenannten schwarzen Vierteln, wo die Zuwanderer längst in der Mehrheit sind. Kerstin Schweighofer ist durch das Land gereist.

zum Manuskript der Sendung

 

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Dürre: Wie Katalonien die Wasserversorgung sichern will

 
 

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Opulent statt karg: Neue Perspektiven fürs Restaurantdesign

 
 

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Unschön, aber praktisch: Hommage an den Einkaufstrolley

 
 

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Barcelona: Das Wasser wird knapp

 
 

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Küstenerosion am spanischen Mittelmeer – Wie Katalonien um seine Strände kämpft

 
„Die Entwicklung hier ist brutal. Ich arbeite seit sieben Jahren an dieser Segelschule.
Als ich angefangen habe, war der Strand noch doppelt so groß und doppelt
so lang: Es gab bestimmt 60, 70 Meter mehr.“ Xavi Ferrer steht auf dem
schmalen Stück Strand, das das Meer übriggelassen hat: ein zwanzig Meter
breiter Streifen Sand in Masnou, einem Küstenstädtchen in der Provinz
Barcelona. Ein paar Meter hinter ihm ragt das Stahlbetonskelett einer
Treppe zur Promenade in die Luft: Brandung, Wind und Stürme haben sie
stückchenweise mitgerissen.
Das Wasser rückt jedes Jahr ein Stückchen näher. Weil der Meeresspiegel
steigt. Weil Unwetter an der Küste nagen. Weil der dicht bebaute Strand
sich nicht mehr erholen kann. In den Nachbarorten sieht es ähnlich aus.
Nach einer Studie des katalanischen Instituts für Klimaresilienz könnten
bis 2034 neun Prozent der katalanischen Strände komplett verschwunden
sein. 54 Prozent wären dann so schmal, dass kaum noch Platz für
Badetücher und Sonnenschirme bleiben würde.
„Das Problem hier in Maresme ist, dass die Strände künstlich angelegt sind:
Wir haben überall Häfen und Molen gebaut, um den Sand zu fixieren. Aber
sie bringen das natürliche Gleichgewicht durcheinander.“ Das ist ein
Teil des Problems. Der andere: Der Nachschub an Sand fehlt. 90 Prozent
des Sandes an der Küste werden von den Flüssen angespült. Doch Staudämme
im Landesinneren verhindern, dass Sedimente, dass Sand, Mineralien,
Partikel von Pflanzen, ins Meer gelangen. Das kann in der Klimakrise
dramatische Folgen haben.

Strände schützen Straßen, Häuser, Landwirtschaft und Industrie

Sandstrände haben eine wichtige Funktion beim Küstenschutz: Sie bilden eine
natürliche Grenze zum Meeresspiegel, der aufgrund der Erderwärmung,
schmelzender Pole und Gletscher steigt. Strände schützen Straßen,
Häuser, Landwirtschaft und Industrie. Wenn sie verschwinden und der
Meeresspiegel steigt, dann wird das vor allem am Mittelmeer zur
Bedrohung. Denn während am Atlantik die Gezeiten seit jeher die Menschen
dazu gezwungen haben, mehr Abstand zum Wasser zu wahren, sind weite
Teile der Mittelmeerküste bebaut.Der Biologe Carles Ibañez spricht von einem „Tsunami im Zeitlupentempo“. Er leitet das
katalanische Institut für Klimaresilienz. Es hat seinen Sitz im Delta
des Ebro, 200 Kilometer südwestlich von Barcelona. Hier, an der Mündung
eines der längsten Ströme der iberischen Halbinsel, wird das zerstörte
Gleichgewicht zwischen Fluss und Meer und die Verschärfung des Problems
durch die Klimakrise, besonders deutlich.

„Deltas sind dynamische Systeme. Die Sedimente, die der Fluss an die Küste spült, werden mit
der Zeit zusammengepresst, der Boden sinkt. Früher wurde das
ausgeglichen, weil der Fluss über die Ufer trat und immer wieder neue
Sedimente ins Delta spülte. Ein steigender Meeresspiegel wäre damals
kein Problem gewesen, der Nachschub hätte Kompression und Erosion
ausgeglichen. Aber jetzt kommen keine Sedimente mehr, der Meeresspiegel
steigt und nichts gleicht die Senkung aus. Die Küste weicht zurück.“

Seit den 1950er-Jahren wird der Ebro aufgestaut – um Strom zu erzeugen, zur
Speicherung von Trinkwasser und um die Landwirtschaft mit Wasser zu
versorgen. Dadurch fehlen laut Berechnungen der Polytechnischen
Universität Katalonien jedes Jahr 300.000 Tonnen Sand. Das Delta ist vom
Verschwinden bedroht. „Wir haben einfach zu spät reagiert. Der Strand
ist so fragil, dass jeder Sturm ihn zerstören kann, die Reisfelder
überspült und Infrastrukturen geschädigt werden können.“

Als im Januar 2020 das Sturmtief Gloria über das Delta zog, floss das Wasser
drei Kilometer über die Landzunge. Häuser, Landwirtschaftsbetriebe,
Küstenwege, Äcker wurden überflutet: Von einer „Katastrophe historischen
Ausmaßes“ sprachen Wissenschaftler.

Auch Juan Carlos Cirera hat die Folgen damals gespürt. Er ist Direktor der
Finca Riet Vell, eines Landwirtschaftsprojekts der
Umweltschutzorganisation SEO Birdlife. Auf den Feldern wird seit etwa 20
Jahren ökologischer Reis angebaut, an einer Lagune können Ornithologen
Flamingos und Kommodore beobachten. Cirera führt zu einem Messpunkt,
über den Satelliten die Absenkung des Bodens ermitteln. Drei bis vier
Millimeter sind es jährlich, dazu kommt ein steigender Meeresspiegel von
vier Millimetern.

„Das ist fast ein Zentimeter pro Jahr! Und wir sind hier gerade einmal einen knappen Meter über dem Meeresspiegel.
Das bedeutet, dass wir in 10, 15, 20 Jahren dem Meer ein Drittel näher
sind – mit allem, was das mit sich bringt: salzigere Böden, Wasser, das
von den Stürmen auf unser Land gedrängt wird. Das ist eine astronomische
Geschwindigkeit.“

Wird die Entwicklung nicht gestoppt, könnte in 50 Jahren in der fruchtbaren Ebene keine Landwirtschaft mehr möglich sein.

„Wir brauchen mehr Sedimente, wir brauchen ausreichend organische Materie,
damit sich neuer Boden bilden kann und so natürliche Barrieren gegen das
Meer geschaffen werden. Dem kann man nur mit langfristigen Lösungen
begegnen. Eine riesige Staumauer zu bauen, bringt nichts. Das ist nicht
nur teuer und wegen des Untergrunds technisch unmöglich, sondern
zerstört auch die Landschaft, die Feuchtgebiete und mindert den Wert
dieser Landschaft.“

Talsperren werden weltweit von Sedimenten verlandet

In einem Pilotprojekt will die katalanische Regionalregierung 40 Millionen
Kubikmeter Sand zurücktransportieren, die das Sturmtief Gloria mit sich
gerissen hat. So soll eine natürliche Barriere gebaut werden. Eine
Reparaturmaßnahme, die nur kurzfristig Abhilfe schaffen soll.
Langfristig gelöst werden soll das Problem Hunderte Kilometer weiter
westlich, im Landesinneren.Über 100 Stauseen gibt es entlang des Ebro. Viele von ihnen sind Prestigeprojekte aus der Franco-Zeit und
hatten einst ein enormes Fassungsvolumen. Jahrzehntelang war es kein
Problem, dass sich Pflanzenreste, Erde, Sand auf dem Grund der Becken
absetzten. Es war ja Platz genug. Doch inzwischen hat sich das
Fassungsvolumen so verringert, dass die Wirtschaftlichkeit auch für die
Betreiber gesunken ist, sagt Alberto Gonzalo Carracedo von der
spanischen Kommission für Talsperren Spancold.

„Wie viele Sedimente tatsächlich in den Stauseen liegen, weiß niemand so genau.
Laut dem Studienzentrum für öffentliche Infrastrukturen haben wir zwölf
Prozent der Wasserspeicherkapazität verloren. Aber das ist regional sehr
unterschiedlich: In Südspanien geht man von 30 Prozent aus, beim Ebro,
einem der wichtigsten Flüsse, ist es ein Viertel. Das Problem ist aber,
dass die Messmethoden nicht genau sind.“

Der Stausee La Baells in Katalonien (Spanien) hat nur noch 56 Prozent seines Fassungsvermögens. (picture alliance / abaca)
Die Verlandung großer Talsperren ist weltweit ein Problem: Laut Studien der
technisch-naturwissenschaftlichen Hochschule ETH in Lausanne geht pro
Jahr ein Prozent an Stauraumvolumen verloren. Auch hier verschärft der
Klimawandel die Lage. Wenn Gletscher schmelzen, die Erde austrocknet,
gelangen mehr Sedimente in die Stauseen. Das gefährdet die
Trinkwasserversorgung, die nachhaltige Nutzung von Wasserkraft – und die
Strände an den Küsten. Die Weltbank zählt Verlandung daher zu den
größten globalen Herausforderungen. Nach Jahrzehnten des Laissez-faire
versprechen die spanischen Betreiber nun einen Paradigmenwechsel.„Über sehr lange Zeit hat man die Sedimente einfach als Dreck betrachtet, als
Abfallprodukt, das in den Talsperren hängen bleibt. Wir haben zwar
versucht, den Sedimenten einen Nutzwert zu geben und daraus Düngemittel
hergestellt – aber am wertvollsten sind sie eben an der Küste. Außerdem
war das Ausleiten von Sedimenten sehr teuer, aber inzwischen haben wir
Methoden entwickelt, die die Kosten massiv senken.“

Der schwierige Weg der Sedimente aus den Talsperren

Bisher wurden die Sedimente mit Diesel-betriebenen Motorpumpen an die
Oberfläche gefördert. Ein energie-aufwendiges und havarieanfälliges
Verfahren, denn größere Pflanzenteile wie Zweige oder Baumstämme können
die Mechanik beschädigen. Jetzt will man die Sedimente über ein mit
druckluftbetriebenes Schlauchsystem nach oben treiben, dann über ein
Siphonsystem oder Öffnungen in der Staumauer ausleihen. Das System
komme, so Gonzalo Carracedo von der spanischen Kommission für
Talsperren, mit einem Sechstel der Energie aus. Nach Modellversuchen
soll die Methode jetzt im großen Stil eingesetzt werden.Auch die Politik will sich des Themas Verlandung annehmen. Das spanische
Klimaschutzgesetz schreibt zwar „effektive Maßnahmen“ vor, die
gewährleisen sollen, dass die Sedimente ihren Weg von den Talsperren an
die Küste finden. Doch die Vorschriften seien zu schwammig, klagen
Umweltschützer – und die Talsperren-Betreiber sprechen von gesetzlichen
Lücken. Alberto Gonzalo Carracedo:

„Das Problem ist, dass bei Ausleitungen oft Umweltschützer protestieren oder eine Gruppe von
Fischern, weil das Wasser ja „schmutzig“ ist. Uns fehlt es einfach an
einer ganzheitlichen Vision – und an einem klaren gesetzlichen Rahmen.
Bei einem Hochwasser protestiert niemand, wenn das Wasser braun ist.
Aber wehe es kommt aus einem Staudamm. Solange ein Fischer einen
Talsperrenbetreiber verklagen kann, weil das Wasser braun ist, wird der
seine Abflüsse nicht öffnen.“

Lokaler Umweltschutz versus globaler Küstenschutz

Lokaler Umweltschutz stößt auf globalen Küstenschutz: Auch Carles Ibañez vom
katalanischen Zentrum für Klimaresilienz hält das für ein Problem. Im
Lauf der Zeit sind rings um die Stauseen Feuchtgebiete entstanden.
Seltene Vogel- und Pflanzenarten haben sich angesiedelt, viele von ihnen
stehen unter Naturschutz.„Wir schaffen rings um die Stauseen künstliche Deltas und zerstören die natürlichen an der Küste. Im
Szenario des Klimawandels, in dem wir den Strand als natürliche
Verteidigungslinie brauchen, ist das eine echte Katastrophe. Die
Verwaltung müsste Sedimentmanagement in den Einzugsgebieten der Flüsse
zur obersten Priorität erklären. Denn wenn künstliche Feuchtgebiete
wegen der dort lebenden Vogel- und Pflanzenarten zu Naturschutzgebieten
erklärt werden, können Sedimente von dort nicht mehr abgeführt werden.
Das macht einfach keinen Sinn.“

Solche Interessenskonflikte erschweren den Kampf gegen Erosion auch an der katalanischen Küste.
Knapp 60 Prozent des Küstenstreifens sind auf den ersten hundert Metern
bebaut. Dabei hat auch dort das Sturmtief Gloria im Januar 2020 gezeigt,
wie fragil die Infrastrukturen an der katalanischen Küste sind. Die
Wellen zerstörten Hafenanlagen und unterspülten die Strandpromenaden.
Die Folgen der Klimakrise so hautnah zu erleben, war für die
Lokalpolitik ein Schock. In der Provinz Tarragona schlossen sich 18
Gemeinden zusammen, um gemeinsam Lösungen zu entwickeln.

Sturmtief Gloria offenbarte Folgen der Kimakrise – und Lösungen

Aron Marcos ist einer der Initiatoren. Er ist Stadtrat für urbane Ökologie
und Sicherheit im Küstenort Calafell. Die Gemeinde hat 30.000 Einwohner,
im Sommer können es schon einmal 120.000 werden. Calafell lebt vom
Tourismus und von Großstädtern, die hier ihre Zweit- oder Sommerresidenz
haben. Am Meer ziehen sich achtstöckige Neubauten entlang.„Gloria war eine Lehrstunde für uns. Das Sturmtief hat uns gezeigt, welche
Folgen die Klimakrise haben kann. Gloria hat uns aber auch Lösungen
aufgezeigt. Denn dort, wo es noch Dünen gibt, war das Ausmaß der
Zerstörung sehr viel geringer als dort, wo sie verschwunden sind.“

Aron Marcos führt zum Stadtstrand. Bereits 2018 hat die Gemeinde an der
Promenade eine künstliche Düne angelegt: zwei mit Pfosten und Seilen
abgegrenzte Parzellen, zwischen acht und zehn Metern breit. Vor zwei
Wochen wurde die Anlage erweitert, Paravents aus Stroh schützen die
frisch angepflanzten Gräser vor Winden, bis sie selbst stark genug sind,
um das Terrain zu stabilisieren. Finanziert hat das Pilotprojekt das
spanische Umweltministerium. In den nächsten Jahren soll es über die
gesamte, knapp fünf Kilometer lange Küstenlinie der Gemeinde ausgeweitet
werden. Zwei künstliche Molen wurden im Gegenzug entfernt.„Solche Molen sind teuer, sowohl beim Bau wie auch bei der Herstellung. Und vor
allem: Sie lösen das Problem nicht, reduzieren es allenfalls, aber auf
Kosten der Nachbarn, die weniger Sand bekommen. Außerdem mindern Molen
auf lange Sicht den Sauerstoffgehalt im Wasser und zerstören so den
Lebensraum der Unterwasser-Fauna. Wenn wir aber Dünen anlegen, dann
respektieren wir die natürlichen Verläufe und helfen so, das natürliche
Gleichgewicht wieder herzustellen.“

Aron Marcos hofft, dass die Dünen den Strand nachhaltig sichern. Nicht nur aus Gründen des
Klimaschutzes, sondern auch aus wirtschaftlichen Interessen.

„Wenn wir den Strand verlieren, verliert Calafell eine wichtige
Einnahmequelle: Das gesamte Dorf lebt vom Tourismus. Und der Rohstoff
des Tourismus ist nun einmal der Sand. Wir haben in den letzten zehn
Jahren zwar die Hälfte der Oberfläche eingebüßt, aber das war ein
Strand, den wir in den 1990er-Jahren künstlich aufgeschüttet haben.
Jetzt ist er Strand wieder in seinem natürlichen Zustand. Den können wir
erhalten, wenn wir bestimmte Maßnahmen einhalten.“

Dass sich die Nutzfläche ihres Stadtstrands nicht nur durch die Erosion, sondern
auch durch die Renaturierung verkleinert hat, stört – so sagt Aron
Marcos – weder Besucher noch Touristen. Ein paar Anwohner hätten zwar
über die Kunstdünen mitten im Ort gemurrt, insgesamt aber hielten sich
die Klagen in Grenzen.

„Wir haben weniger Beschwerden bekommen,
als wir erwartet haben, aber mehr als wir uns wünschen. Aber tatsächlich
beeinflussen solchen Maßnahmen ja nur einen Teil des Strandes,
schränken also seine Verwendung nicht ein. Alle wollen so nah wie
möglich ans Wasser. Außerdem hat es uns geholfen, dass die
Nachbargemeinden ähnliche Strategien befolgen: Wir entfernen
beispielsweise alle nicht mehr die Algen und Tangreste, die im Winter
angespült werden. Denn auch sie helfen, das Gleichgewicht zu bewahren.
Wenn der Strand des Nachbarn genauso aussieht wie deiner, beschwert sich
auch niemand.“

Infrastruktur zurückbauen – um Strand als Schutzwall zu erhalten

Das hat die Stadtverwaltung ermutigt, noch einen Schritt weiter zu gehen und
nicht nur am Strand, sondern auch an der Bebauung selbst Hand
anzulegen. Im Ortskern von Calafell schlägt die Promenade einen Bogen
über den Strand. Doch die Erosion hat die Promenade unterspült. Will man
den Strand als Schutzwall vor dem steigenden Meeresspiegel erhalten,
muss abgerissen werden.„Wir haben hier einen Bürgersteig, einen Parkstreifen, zwei Fahrbahnen, noch einen Bürgersteig – und die
Promenade. Das ist alles Strand. Wenn wir einen Kanal reparieren, stoßen
wir auf Sand. Das ist gut, denn es zeigt, dass wir – unter der
Infrastruktur – noch Strand haben, der uns vor dem steigenden
Meeresspiegel schützt. Und Straßen und Promenaden sind ja rückbaubar.
Problematischer wäre es, wenn es Häuser wären.  Das Meer stellt uns vor
die Wahl: Entweder Wasser oder Strand. Und wir wollen Strand.“

Die Promenade in Calafell ist nur ein kleines Beispiel für die
Herausforderungen, die auf Anwohner und Verwaltung in den nächsten
Jahren zurollen. Im Maresme, nördlich von Barcelona, fährt die
Regionalbahn direkt neben der Küste. Angelegt im Jahr 1848 ist sie die
älteste Spaniens und noch heute mit mehr als 100.000 Nutzern eine der
meist befahrenen Strecken. Aber jetzt schlagen hier bei Stürmen die
Wellen über die Gleise, der Boden erodiert. Es ist nur eine Frage der
Zeit, bis die Gleise ins Hinterland verlegt werden müssen. Anfang des
Jahrtausends wurde erstmals über eine Verlegung diskutiert, aber das
Projekt verschwand in der Schublade: zu teuer, ergo unpopulär.

Für Carles Ibañez vom Zentrum für Klimaresilienz ist es an der Zeit, diese
Pläne wiederhervorzuholen. „Es ist es sowohl politisch wie auch
wirtschaftlich absurd, jetzt nicht zu handeln. Denn nichts zu tun, macht
alles nur noch teurer. Wenn wir nicht jetzt in den Umbau investieren,
werden wir für Reparationen und Entschädigungen aufkommen und dann
trotzdem neu bauen, trotzdem investieren müssen.“

Der Wissenschaftler fordert einen parteiübergreifenden Pakt für Küstenschutz
in ganz Spanien – und zwar für die nächsten 30 bis 40 Jahre

 

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Sag mir, wo die Demokraten sind!

 

Eine Rezension für “Andruck” beim Deutschlandfunk

Moderation:

Im Jahr 2002 schrieben die beiden amerikanischen Politologen Ruy Teixeira [sprich „Rai Tejschera”] und John Judis ein viel beachtetes Buch mit dem Titel The Emerging Democratic Majority, „Die bevorstehende demokratische Mehrheit“. Aufgrund demografischer Veränderungen in den USA stünde der Demokratischen Partei eine solide und dauerhafte politische Mehrheit bevor. Es kam anders, wie wir alle wissen. Nach 21 Jahren haben die beiden ein neues Buch über die Partei herausgebracht: Where Have All The Democrats Gone, zu Deutsch vielleicht: „Sag mir, wo die Demokraten sind“. Christoph Drösser hat es gelesen.

Sprecher:

Natürlich müssen sich Teixeira und Judis immer wieder für ihre Fehlprognose von 2002 rechtfertigen. Dabei sah es zunächst ganz gut aus, erzählte John Judis kürzlich bei einer Lesung im Politics and Prose Bookstore in Washington.

O-Ton John Judis:
In 2006, when Democrats take back the Congress, and then in 2008, when Obama wins, we were heralded as prophets and seers …

Sprecher darüber:

Ab 2006 erzielen die Demokraten eindrucksvolle Wahlsiege, Obama zieht ins Weiße Haus ein, und die beiden werden als Propheten gefeiert. Aber schon bei den Kongresswahlen 2010 gab es einen herben Rückschlag.

O-Ton Judis:

… and then lo and behold, in 2010, doom! The Republicans take back the House, and it suddenly starts to become apparent to us that our majority was not as solid as we thought it was.

Sprecher: 

Die Autoren hatten vorhergesagt, dass neue, wachsende Wählerschichten – vor allem berufstätige Frauen, Schwarze und Latinos – für eine solide demokratische Mehrheit sorgen würden, solange etwa 40 Prozent der weißen Arbeiterschaft der Partei treu blieben. Aber diese Arbeiter, vor allem in den Staaten im mittleren Westen, liefen in Scharen zu den Republikanern über, was schließlich zur Präsidentschaft von Donald Trump führte.

Die Autoren verhehlen nicht, dass sie selbst links stehen, im Sinne einer sozialdemokratischen oder gewerkschaftlichen Tradition, und sie werfen den Demokraten zunächst einmal vor, dass sie sich zu sehr an die Eliten der Finanzwirtschaft herangeschmissen hätten, an Silicon Valley und Hollywood, an die Gewinner der Globalisierung – und dass sie dabei die Menschen in den ehemaligen Industriezentren aus dem Blick verloren hätten.

Zitator:

„Viele Menschen in den deindustrialisierten Städten und Kleinstädten in der Mitte Amerikas sind wesentlicher Elemente ihrer Identität beraubt worden. Früher hatten sie eine lebenslange Beschäftigung in einem großen Unternehmen, von dem sie erwarteten, dass auch ihre Kinder dort arbeiten könnten. Sie gingen nach der Arbeit in dieselben Bars und spielten an den Wochenenden in Softball- oder Bowling-Ligen, die oft mit ihren Jobs verbunden waren … Vieles von diesem gemeinsamen Leben ist verschwunden. Sie wurden auf die grundlegendsten Elemente ihrer Identität zurückgeworfen: Nation, Familie und Glaube, die Autos, die sie fahren, oder die Waffen, die sie besitzen und die ihr Heim und ihre Familie schützen.”

Sprecher:

Der schlimmste Ausdruck dieser Ignoranz, ja Verachtung gegenüber diesen Menschen sei Hillary Clintons Ausspruch bei einer Wahlveranstaltung 2016 gewesen, sagt Ruy Teixeira.

O-Ton Ruy Teixeira:
She refers to Trump supporters as a basket of deplorables, boy that was like, she was already in trouble with these voters, but that kind of sealed the deal.

Sprecher:

Die Hälfte von Trumps Wählern gehöre in einen „Korb der Bedauernswerten”, a basket of deplorables. Die seien rassistisch, sexistisch, homophob, xenophob und islamophob. Das besiegelte den Wahlsieg Donald Trumps.

Auch in anderen Ländern sind die Wähler von den etablierten Parteien weg in die Arme populistischer Parteien gelaufen. Aber die Autoren benennen eine US-amerikanische Besonderheit, die zur extremen politischen Spaltung des Landes geführt habe.

Zitator:

„Die amerikanischen politischen Parteien unterscheiden sich von den europäischen Parlamentsparteien. Sie haben keine Programme, die ihre Mitglieder binden. Sie werden auch von Spendern, Lobbyisten, Wirtschaftsverbänden, Stiftungen und Gewerkschaften, politischen Gruppen und Think Tanks, Aktivistenorganisationen, privaten und sozialen Medien und mächtigen Einzelpersonen beeinflusst. Wir nennen das die Schattenpartei.“

Sprecher:

Bis in die 90er Jahre war das eine übersichtliche Menge von Interessen- und Lobbygruppen, bei den Demokraten vor allem die Gewerkschaften. Nun aber bestehe die Schattenpartei vor allem aus Aktivistengruppen, die sich für Frauenrechte und sexuelle Minderheiten einsetzen, der Black-Lives-Matter-Bewegung, Klimaschutzinitiativen.

Die Autoren nehmen an keiner Stelle das Wort woke in den Mund, aber sie machen klar, wen sie für den Niedergang der Demokraten verantwortlich machen: die Eliten an den Küsten, gebildet und oft wohlhabend, die mit ihren Minderheitenthemen große Wählerschichten abstoßen.

Zitator:

„Die neue Bewegung und ihre Verbündeten haben die einfache Forderung nach Frauen- oder Homosexuellenrechten durch eine Buchstabensuppe sexueller Bezeichnungen wie LGBTQIA+ ersetzt. Für die meisten Amerikaner, einschließlich derer, die die Demokraten repräsentieren und anziehen sollten, sind diese Begriffe unverständlich und in einigen Fällen, wie etwa beim Begriff ‚schwangere Menschen‘, schlicht beleidigend.“

Sprecher:

Man könnte boshaft sagen: Hier ziehen zwei altlinke weiße Männer mal so richtig vom Leder gegen alles, was sie an der politischen Korrektheit der jüngeren Generation stört, die lieber über gendergerechte Sprache diskutiert, als Machtverhältnisse infrage zu stellen. Diese Minderheit mache sechs bis acht Prozent der US-Gesellschaft aus, habe aber die Demokratische Partei fest im Griff. Und bei den Republikanern sei es nicht viel anders: Beide Lager würden von ihren Schattenparteien ins linke und rechte Extrem gedrängt, während die meisten Wählerinnen und Wähler politisch in der Mitte stünden.

Daran habe auch der gemäßigte Präsident Joe Biden nichts ändern können.

Biden versucht sich – eigentlich im Sinn des Buchs – als Präsident für die einfachen Leute zu präsentieren, er will neue Industrien an die alten Standorte bringen und lässt sich mit streikenden Arbeitern fotografieren. Genützt hat das der Partei bisher wenig, Biden ist so unbeliebt wie selten ein Präsident zuvor.

Das Buch von Teixeira und Judis ist denn auch kein Rezeptbuch für die Demokratische Partei, das betonen sie selbst. Aber es analysiert den Zustand der Demokraten auf scharfsinnige und teilweise unterhaltsame Weise. Und einiges davon könnte auch Politiker europäischer Linksparteien nachdenklich stimmen.

 

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