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2006: In die Seele leuchten

Vereinzelt, verloren, in sich versunken – Seelenzustände unserer Zeit. GREGORY CREWDSON, Untitled, 2003-2008, Digital pigment print, image size: 57 x 88 in. ©Gregory Crewdson

Gregory Crewdsons Bilder sind Selbstporträts eines genialen Tiefenpsychologen

Silvia Feist für DIE ZEIT 32/2006

Da lag er dann, das Ohr fest auf den Boden gepresst. Unten im Souterrain hatte der Vater das Büro, ein Psychoanalytiker in Brooklyn, oben lauschte der Sohn. „Ich habe nie etwas gehört“, sagt Gregory Crewdson. Aber seine Fantasie hat diese Momente aufgesogen.

Heute gilt der 43-Jährige als Chronist von Entfremdung und Neurosen, und nur zu gern inszeniert er sie in den Vorstädten des ländlichen Amerika. Heute ist er in Pittsfield, Massachusetts, irgendwo draußen an einer Ausfallstraße, ein schlaglochübersäter Parkplatz mit rostenden Laternen. Pittsfield, das war einmal General Electric, 13000 Arbeitsplätze – übrig sind davon 700. Und so sieht es hier draußen auch aus, die Stadt löst sich auf, die „Sports Bar & Grill“ hat zugemacht, das Kino ebenfalls. Nur Gregory Crewdson ist da, die Haare halblang zerzaust, in karierten Bermudas, er hat seine Großbildkamera mitgebracht und eine Gruppe von Teenagern. Er stellt sie in die Abenddämmerung, ein Mädchen abseits, in der Hocke beim Pinkeln.

Sittengemälde einer untergehenden Gesellschaft?

Sittengemälde einer untergehenden Gesellschaft? So sieht er das nicht, nie wollte er ein Ankläger, ein Dokumentar sein. „Es geht mir weder um eine Zustandsbeschreibung der Vorstadt noch der Kultur oder Politik, meine Bilder sind viel privater.“ Die Psyche des Künstlers im Fokus vielleicht erklärt das, warum sich die unzähligen Menschen in seinen Bildern gespenstisch ähnlich sehen.

Männer, Frauen, Jugendliche, meist Unbekannte, aber auch Oscar-Preisträger wie Philip Seymour Hoffman oder Julianne Moore – sie alle werden zu ferngesteuerten Crewdson-Geschöpfen. Der Fotograf ist dabei nicht auf der Spur des Wesens seiner Porträtierten. Vielmehr porträtieren die Fotografierten unausgelebte Seelenlagen des Fotografen. Der gibt dazu Regieanweisungen.

So sitzen, stehen, liegen und knien sie in seinen Bildern: in sich versunken, vereinzelt, verloren. Erstarrt in einem Moment des Grübelns oder der Scham. Wie herausgerissen aus Träumen oder häufiger aus Albträumen. Eine Frau im Unterrock treibt rücklings in einem überfluteten Wohnzimmer. Eine Tote nach einer Naturkatastrophe? Nach einem Wasserrohrbruch? Oder verraten die leuchtenden Stehlampen im Wasser: Alles nur geträumt? Crewdson weiß es auch nicht. „Ich kann es selbst nicht genau fassen“, sagt er. So wie Edward Hopper, in dessen Tradition er sich sieht, mal gesagt haben soll: „Wenn du es benennen könntest, gäbe es keinen Grund, es zu malen.“

Crewdsons Maßstab: „Es muss mir entsprechen.“ Diese kompromisslose Selbstbezogenheit seiner Inszenierungen unterscheidet ihn von Fotografen wie Cindy Sherman und Jeff Wall, mit denen er oft verglichen wird. Für ihn sind das zwei Wegbereiter, die aus der Fotografie eine Kunstform gemacht haben. Doch ebenso fühlt er sich beeinflusst von den Realisten Walker Evans und William Eggleston oder Lee Friedlander. Auch bei ihm halten sich das Reale und das Imaginäre die Waage. Crewdson ist kein Narziss. Er gehört zu einer Generation von Künstlern, die durch Selbsterkundung die Gefühle unserer Zeit katalysieren und doch darauf bestehen, nur Aussagen über sich selbst zu treffen.

Durch Selbsterkundung die Gefühle unserer Zeit katalysieren

Ausgerechnet sein märchenhaft verrätselter zweiter Bilderzyklus Natural Wonder (1992-97) enthält die konkretesten Spuren dafür, dass Crewdson auch immer von sich erzählt. Neben unerwartet lustigen Bildern, wie dem der ausgestopften Vögel, die um einen Eierkreis sitzen, als hätte der Rotkehlchen-Älteste an den runden Tisch gerufen, gibt es Bilder, in denen so unvermittelt Gewalt ausbricht wie in einem Film von David Lynch. Vor einem Schuppen, der in Flammen zu stehen scheint, liegt etwas, das sich bei genauem Hinsehen als herrenloser Unterschenkel entpuppt, durchwachsen von schlangenartigen Ästen, deren rote Dornen aus der Haut brechen. Das Bein ist eine Nachbildung von Crewdsons eigenem Bein, eine surrealistisch-tiefenpsychologische Selbstbetrachtung, die am Ende seiner ersten Ehe mit einer Kommilitonin entstand, die er beim Studium in Yale kennen gelernt hatte. Seit 1993 unterrichtet Crewdson selbst in Yale. Momentan ruht sein Lehrauftrag jedoch, was ihm ermöglicht, zwei bis drei große Fotoproduktionen im Jahr zu machen. Seit dem Zyklus Dream House (2002) sind die Preise für seine Arbeit in die Höhe geschnellt. Bis zu 75000 Dollar kostet ein Crewdson heute.

„Anfangs habe ich mehr oder weniger umsonst gearbeitet“, sagt er. Inzwischen werden die Projekte von ihm und seinen drei Galerien finanziert. Neben dem Kameramann, einer Managerin für die Produktion, einer für die Koordination der Locations gehören Casting- und Lichtcrew zum Team. Seit Beneath the Roses auch Computergrafiker, die fünf bis sechs Negative kombinieren. Nur so lässt sich bei einem Format von 1,63 x 2,39 Meter noch die gleichmäßig brillante Tiefenschärfe erreichen, die Teil seines Stils geworden ist.

Es ist wie an einem Filmset: Fast dreißig Mitarbeiter und etliche Pittsfielder, die für die zehn bis zwölf geplanten Bilder gecastet wurden, beteiligen sich diesen Sommer an der Ausleuchtung der Crewdson’schen Psyche. Vierzig, fünfzig Locations hatte er im Vorfeld der Produktion geprüft. Die bis ins Detail geplanten Bilder werden von manchen als „Film in einer Einstellung“ bezeichnet, weil sie mit einer Ästhetik, die an Hollywood erinnert, und mit ihrem Facettenreichtum ganze Geschichten evozieren.

„Das Großartige an Fotografien ist, dass sie immer Rätsel bleiben“

Für Crewdson sind seine Bilder jedoch gerade anders als im Kino. „Das Großartige an Fotografien ist, dass sie immer Rätsel bleiben.“ Was geschah davor? Was kommt danach? „Ich bin nur daran interessiert, den Moment einzufrieren und ihn so schön und hintergründig wie möglich zu machen. Deshalb wäre ich auch kein guter Filmregisseur geworden.“

Momentan will er mehr draußen fotografieren. An Bahngleisen und in verlassenen Höfen, an Orten, wo Jugendliche sich treffen. Diese Sujets erwecken ein Gefühl von sommerlichem Abenteuer, von erwachender Sexualität und heimlicher Erwartung. Ist die Hinwendung zum Thema Adoleszenz das erste Zeichen einer Midlife-Crisis? „Ja“, sagt der 43-Jährige, der seit zwei Jahren Vater ist, „ich glaube, meine neuen Bilder haben viel damit zu tun, dass ich ein bestimmtes Alter erreicht habe.“ Wird das verstörende Zwielicht seiner Werke jetzt einem harmlosen Sommerlicht weichen? „Aus meiner Sicht verströmen schon die aktuellen Bilder ein ganz anderes Licht als meine früheren. Ein Künstler kann sich selbst nie ganz entkommen. Man klebt doch immer an sich fest.“

UPDATE: Die ALBERTINA in Wien wird vom 29. Mai bis 8. September 2024 eine Retrospektive zu neun Werkzyklen von Gregory Crewdson zeigen. www.albertina.at

Kein Dinner zu dritt: Fotograf Gregory Crewdson (l.) gibt letzte exakte Regieanweisungen auf dem Foto-Set von “Beneath the Roses” (Courtesy of Crewdson Studio)

 

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Von Eseln und Büchern: Die Welt von Cornelia Funke

Termin mit Bestsellerautorin Cornelia Funke: Ich will sie über den von ihr mitfinanzierten Book Truck interviewen. Dieser bringt nagelneue Young Adult Literatur zu Teenagern in Los Angeles, die noch nie ein Buch gelesen haben. Der Weg führt entlang am Pazifik, später über eine gewundene Straße und ein ausgetrocknetes Flussbett bis zu einem Holzgatter. Kein Mensch in Sicht, dafür riesige Eukalyptus-Bäume, Palmen, hohes Gras, eine Scheune mit Dach aus Wellblech. Ich schiebe das Gatter beiseite, fahre noch ein paar Meter bis zu einem Bungalow mit rot-grün-blau bemalter Pergola und Gummistiefeln vor der Tür. Bevor ich klingele, geht sie auf und zwei enthusiastisch-wilde Welpen springen mir entgegen. „Ich habe auch ein paar Enten und zwei Esel“, sagt die weltbekannte Jugendbuchautorin. „Ich kann mir nichts Besseres vorstellen, als bei den Tieren zu sein, wenn ich eine Pause vom Schreiben brauche.“ Neben dem Besuch in ihrem Privatzoo haben wir natürlich auch noch darüber gesprochen, wie wichtig Bücher für junge Leute sind. Und ich bekam ein paar Enteneier mit nach Hause.

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Aufgerüttelt – Die Bewegung für soziale Gerechtigkeit unter Trump

Ich weiß nicht, ob ich mich jemals daran gewöhnen werde diese Worte zu schreiben: US-Präsident Donald Trump. Egal, in wenigen Tagen ist es soweit. Und es gibt viele Gründe, sich große Sorgen nicht nur um die USA zu machen.

Ich erlebe die direkten Konsequenzen unter anderem, wenn ich in einer Schule jungen Autoren als Tutorin helfe und wir einen Großteil unserer Zeit damit verbringen, auf Ängste von Jugendlichen einzugehen. Sie befürchten, dass sie selbst oder ihre Eltern bald abgeschoben werden, weil sie keine Papiere haben. Diese Ängste sind hervorragendes Material für Geschichten, die Mitgefühl, Wut und Verständnis auslösen. Sie sind keine gute Grundlage für konzentriertes Lernen und produktive Pläne.

Was mir Mut macht: Kalifornien wird ein Bollwerk gegen eine Regierung sein, die Umweltschutz-Regulierungen und universelle Krankenversicherung abschaffen will, die ankündigt, Millionen von Menschen abzuschieben, auszugrenzen und eine Mauer zu bauen.

Zwei Geschichten, die ich in den vergangenen Wochen innerhalb und außerhalb des Westküstenstaates recherchierte, haben außerdem meinen Optimismus geschürt.

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Da war zuerst mein Besuch im Standing Rock Camp von North Dakota. Aus einer kleinen Ansammlung von Zelten und Tipis wurde ein Lager, in dem zeitweise mehr als 7000 Menschen friedlich gegen die Dakota Access Pipeline demonstrierten. Bis heute kommen an der Flussmündung von Missouri und Cannonball River Jung und Alt zu Gebeten, Zeremonien und Gesängen zusammen. Hier haben erstmals US-Kriegsveteranen die ersten Völker der USA um Vergebung für Zerstörung ihrer heiligen Stätte und ihrer Kultur.

Der Chef der Pipeline Firma Energy Transfer Partners hat angekündigt, weiter zu bauen. Er rechnet damit, dass er die Genehmigung zur Vollendung seines Projekts bekommt, sobald Trump das Amt übernimmt.  Gegendemonstranten bezeichnet Kelcy Warren lachend als naiv. Der Milliardär aus Texas hat mehr als 100 tausend Dollar in Trumps Wahlkampf investiert, der will die Förderung von fossilen Brennstoffen verstärken, der ehemalige Exxon-Chef wird vermutlich Außenminister und Rick Perry, ehemaliger Gouverneur von Texas, wird Energieminister. Perry ist im Vorstand von Energy Transfer Partners.

Und warum genau macht mich das optimistisch?

Weil trotz alledem – oder genauer gesagt: gerade deshalb – die Bewegung zusammenhält, weiter Zulauf bekommt, die Unterstützung für das Standing Rock Camp nicht nachlässt und weil Menschen aus aller Welt in das eiskalte North Dakota kommen, auch um von dem Vorbild für gewaltlosen Widerstand zu lernen. Mir sagte einer der Älteren, Lakota Johnnie Aseron, dass wir alle Gesprächskreise gründen sollten, um gemeinsam zu überlegen, wie wir am besten mit verschwindenden Rohstoffen und wachsender Bevölkerung umgehen. Ich habe viele junge Leute getroffen, die genau das tun wollen, die füreinander einstehen, über gemeinsame Werte diskutieren und nach ihnen handeln. Sie sind entschlossen, die Veränderungen herbeizuführen, die ihnen keine Wahl und keine der bestehenden Parteien gebracht hat. Das macht mich optimistisch.

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Dann kam vergangenes Wochenende: nicht nur protestierten im ganzen Land Tausende gegen die Abschaffung der Krankenversicherung und gegen Diskriminierung, für soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und Pressefreiheit. Ich interviewte eine Woche vor der Amtseinführung von Donald Trump Drehbuchautor, Regisseur, Schauspieler und Theaterdirektor Tim Robbins über die Aufgabe von Kunst in Zeiten von tiefer gesellschaftlicher Spaltung und einem Präsident Trump. Der Bernie-Sanders-Anhänger startete an seinem Theater eine Serie von Foren zur Stärkung zivilen Diskurses. Robbins plädiert für Bescheidenheit und dafür, nicht anderen die Schuld am Ausgang der Wahl zu geben. “Etwas hat nicht gestimmt, etwas war krank in unserer Gesellschaft und die Antwort auf die Frage, was das war, liegt bei uns.” Für den Umgang mit dem neuen Präsidenten warnt er vor Provokationen. Er vergleicht die Situation mit der Konfrontation einer Klapperschlange: wenn man sie provoziert, beißt sie zurück, wird noch größer und strahlt mehr Macht aus. “Wir brauchen einen Dialog, eine Bewegung, die diese Klapperschlange umgeht und nicht die provoziert, mit denen wir nicht einer Meinung sind.”

Dieser Dialog ist noch sehr chaotisch. Aber er findet statt auf vielen Ebenen und die Wahl von Donald Trump hat ihn paradoxerweise gestärkt. Und das macht mich sehr optimistisch.

 

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Adventston 3. 12. – Klinsmann-Fans

Kerstin Zilm, Los AngelesIMG_3866

Kerstin Zilm hat für den WELTREPORTER-Adventskalender diese begeisterten Klinsmann-Fans in Los Angeles bei einem Freundschaftsspiel des US-Teams gegen Korea aufgenommen:

“Ich bin großer Klinsi-Fan und hab mich sehr gefreut, wie die Fans am Rand des Trainingscamps den deutschen Trainer gefeiert haben. Ich habe einige Male über das US-Team berichtet und bin dabei selbst zum Fan der US-Mannschaft geworden. Zu den Spielen reisen inzwischen tausende von Fans an. Sie nennen sich die “American Outlaws” weil Fußball in den USA ja noch immer ein wenig eine Außenseiterrolle spielt.

IMG_3850IMG_3836Als Deutschland gegen die USA gespielt hat, hab ich gemerkt, dass die Liebe zum Team meiner Wahlheimat doch lange nicht an meine Begeisterumng für die Deutschen herankommt. Ich hab das Spiel in einer Kneipe mit deutschen und US Fans gesehen und hab nur den Deutschen die Daumen gedrückt. Das Finale hab ich in einer überfüllten Kneipe geschaut und hinterher mit Freunden die Meisterschaft riesig gefeiert.”

Meine Töne von den Fans sind unter anderem in ein Feature für die Sendung ‘Nachspiel’ vom Deutschlandradio eingeflossen.

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