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6. Indiens Geschenk an die Welt

 

advent_thumb_2sadhguruHier ist Indiens Geschenk an die Welt: Yoga und Meditation.

Unter dem folgenden Link lässt sich gratis eine Einführung und Anleitung in eine zwölfminütige Meditation (Isha Kriya) runterladen, die der bekannte Mystiker Sahdguru Jaggi Vasudev (mein Guru) entwickelt hat. Yoga wird heute oft als eine Art von sportlicher Verrenkung missverstanden. Traditionell ist es aber eine Methode, die Körper und Geist in Harmonie bringt. Einfach mal ausprobieren!

 

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24. Türchen: St. Johannes Nepomuk, Prag

 

sankt_johannes_nepomuk2-bEin bisschen versteckt liegt diese Kirche, die selbst für Prager Verhältnisse – und nicht umsonst wird Prag „die hunderttürmige Stadt“ genannt – ein Traum ist. Sankt Johannes Nepomuk heißt sie, und wie fast alle Prager Kirchen trägt sie einen Beinamen: „auf dem Felsen“ lautet der, denn tatsächlich steht die Kirche in der Nähe des Karlsplatzes (Karlovo námestí) hoch erhaben auf einem Felsblock. Warum ich hier gerne bin? Während draußen der Adventstrubel tobt, herrscht hier innen eine geradezu kontemplative Ruhe, die nur ab und zu von der vorbeirumpelnden Trambahn unterbrochen wird. Der Barockbaumeister Kilian Ignaz Dientzenhofer hat die Kirche entworfen, und sie ist ein Paradebeispiel für die verschwenderische Fülle des böhmischen Barock. Die Kirchen, so war damals die Überzeugung der Bauherren, sollen in ihrem Glanz schon die Freuden des Himmelreichs vorwegnehmen. In der Nepomuk-Kirche feiert heute die deutschsprachige Gemeinde Prags ihre Gottesdienste, immer sonntags um 11 Uhr.

 

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Von Kairo nach Schwäbisch Gmünd

 

Stadtbibliothek Schwäbisch Gmünd: Suleman Taufiq, Jürgen Stryjak, Jörg Armbruster

Mittendrin dann plötzlich die heikelste Frage von allen. Zuvor hatten wir den Umbruch in Ägypten diskutiert, die zunehmend repressiven Verhältnisse, die zerstörten Hoffnungen und den Wunsch vieler Ägypter nach Stabilität. Wir hatten versucht, etwas Klarheit in den Schlamassel zu bringen, so gut es eben ging. Wir beschäftigten uns mit Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt.

Aber länger überlegen musste ich erst, als der langjährige ARD-Korrespondent Jörg Armbruster von mir wissen wollte, ob ich mir vorstellen könnte, in Schwäbisch Gmünd zu leben. Was antwortet man auf solch eine Frage, wenn vor einem knapp hundert stolze Schwäbisch Gmünder sitzen, deren Stuhlreihen so angeordnet sind, dass sie den Fluchtweg versperren?

Natürlich kann ich mir vorstellen, dort zu leben. Schwäbisch Gmünd ist eine feine, mittelkleine Stadt mit herausgeputztem historischen Stadtkern, eine Idylle, die für jeden, der gerade aus Kairo kommt, einen Anblick bietet wie mit Photoshop bildbearbeitet. Außerdem hängt es ja von Tausendundeinem Grund ab, ob man an einem Ort zurechtkommt, allen voran von der Arbeit. (Und da ist Schwäbisch Gmünd für einen Nahostkorrespondenten leider eher weniger geeignet, auch wenn es in Nah-Ostwürttemberg liegt.)

Zusammen mit Jörg Armbruster und Suleman Taufiq, den Herausgebern des Stadtlesebuches »Mein Kairo – My Cairo«, war ich an einem Abend in der Stadtbibliothek des Ortes zu Gast und am darauffolgenden Abend dann im Buchhaus Wittwer in Stuttgart. Der großformatige, edel gestaltete Band mit Texten von rund 50 Autoren ist eine Liebeserklärung an die Millionenmetropole am Nil – der vermutlich einzige Kairo-Bildband, in dem die Pyramiden kein einziges Mal auftauchen, jedenfalls nicht in den 140 spannenden Photographien von Barbara Armbruster und Hala Elkoussy.

In meinem Text erzähle ich von meiner Zeit im ärmlichen, traditionellen Altstadtviertel Bab al-Shaariyya. Unter anderem berichte ich vom benachbarten Tischler, der mal ein geborstenes Wasserrohr in meiner Wohnung mit den Worten reparierte: »Wenn Gott will, dass dein Wasserrohr am Ende wieder ganz ist, dann kriege sogar ich das hin. Wenn Gott dies nicht will, dann schafft das auch kein richtiger Klempner.«

Besser kann man die Entspanntheit gar nicht beschreiben, mit der die Kairoer ihren Alltag am Ende doch immer irgendwie bewältigen. Gleichzeitig ist dieser Ansatz beunruhigend. Man stelle sich vor, der Tischler hätte mich mit denselben Worten am Blinddarm operiert: »Wenn Gott will, dass du den Eingriff überlebst, dann kriege sogar ich das hin. Wenn Gott dies nicht will, dann schafft das auch kein echter Chirurg.«

 

Infos zu dem dreisprachigen Stadtlesebuch/Bildband (deutsch, englisch, arabisch) auf der Webseite der edition esefeld & traub.  Und so fand die Lokalpresse unseren Abend in Schwäbisch Gmünd.

Stadtbibliothek Schwäbisch Gmünd

Stadtbibliothek Schwäbisch Gmünd

 

Lesung und Diskussion im Buchhaus Wittwer in Stuttgart: Jörg Armbruster, Jürgen Stryjak, Suleman Taufiq

Lesung und Diskussion im Buchhaus Wittwer in Stuttgart: Jörg Armbruster, Jürgen Stryjak, Suleman Taufiq

 

Buchhaus Wittwer Stuttgart

Buchhaus Wittwer Stuttgart

 

Einband des Stadtlesebuches "Mein Kairo - My Cairo - مدينتى القاهرة"

Einband des Stadtlesebuches „Mein Kairo – My Cairo – مدينتى القاهرة“

 

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Schüsse auf Kopenhagen und die Meinungsfreiheit

 

Kaum radelte ich heute Nachmittag am See entlang gen Westen jagten auf der anderen Seite des Wassers plötzlich Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene über die Straße. Das kommt hier ständig vor, in der Hinsicht hat man in Kopenhagen manchmal den Eindruck in New York zu leben. Etwas später stellte sich heraus: ein Anschlag! Die gen Osten fahrenden Fahrzeuge waren vermutlich auf dem Weg nach Østerbro.

Mit automatischen Waffen hatten dort kurz vor 16 Uhr zwei Attentäter einen Anschlag auf eine Veranstaltung zum Thema „Kunst, Blasphemie und Meinungsfreiheit“ verübt. Sie schossen auf den Veranstaltungsort, anwesende Polizisten erwiderten das Feuer und konnte so womöglich ein Blutbad verhindern. Ein Mann kam ums Leben, drei Polizisten sind verletzt. Im Jahr zehn nach den Mohammedkarikaturen ist der Terror in Kopenhagen angekommen. Oder soll man sagen nach Kopenhagen zurückgekommen, denn Anschlagversuche gab es hier schon zuvor, bisher aber ohne Tote.

Polizei und Politik sind bisher zurückhaltend Vorverurteilungen vorzunehmen, denn noch sind die Attentäter flüchtig. Doch weil Vilks an der Veranstaltung, auf die das Attentat verübt wurde, teilnahm, geht man vielfach wie in Frankreich vor einem Monat von einem islamistischen Hintergrund aus.

Den Stand der Dinge und erste Reaktionen habe ich hier für Die Welt zusammengefasst, hinweisen möchte ich auch auf dieses Interview, dass ich 2010 mit Lars Vilks für Focus führte.

Sie brauchen aktuelle Berichte aus Kopenhagen? bomsdorf@weltreporter.net

 

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Karikaturisten leben gefährlich – weltweit

 

Natürlich trifft Dänemark der Anschlag in Paris ganz besonders. Schließlich waren die berühmt-berüchtigten Mohammed-Karikaturen zuerst in einer dänischen Zeitung erschienen: am 30. September 2005 wurde diese in „Jyllands-Posten“ veröffentlicht. Seither gab es Debatten, Demonstrationen und Tote – zuletzt in Paris.

Bladtegnere i et globalt minefelt Gyldendal Verlag

Bladtegnere i et globalt minefelt Gyldendal Verlag

Ein Beitrag zur Meinungsfreiheits-Debatte, der ohne die Karikaturen wohl nicht entstanden wäre, ist das Buch “Karikaturisten im globalen Minenfeld” des dänischen Journalisten Anders Jerichow, Redakteur bei „Politiken“, der linksliberalen Zeitung, die im selben Verlag erscheint wie „Jyllands-Posten“.

Das Buch, 2012 auf Dänisch erschienen, gibt weltweite Beispiele von der gefährdeten Meinungsfreiheit der Karikaturisten. Neben der Karikaturen-Krisegeht es ebenso um ältere und aktuellere Fälle aus Südafrika, Dänemark, den USA, Indonesien und diversen anderen Ländern (Deutschland fehlt übrigens). In Frankreich war Jerichow bei Plantu, der für Le Monde zeichnet.

Für „Die Welt“ besuchte ich Jerichow nach Erscheinen des Buches in seinem Kopenhagener Büro. Alleine das Sicherheitsniveau, das dort herrschte und immer noch herrscht, zeigt als wie real die Anschlagsgefahr gesehen wurde und wird. Pläne den Verlag anzugreifen hat es gegeben – glücklicherweise hat die Polizei in Dänemark bisher Terror verhindern können. Hier der zugehörige Artikel in der Online-Version.

Über die Zeichnungen sprach ich vor einigen Jahren auch mit der aus dem Iran stammenden Künstlerin Shirin Neshat, die mir erläuterte, warum auch sie, in New York lebende Weltenbürgerin, sich durch die Zeichnungen gekränkt fühlte. Online zu lesen bei art.

 

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Die Nationen trauern vereint

 

Der Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo in Paris, kaum mehr als drei Zugstunden von Genf entfernt, hat im Völkerbundpalast Trauer und Entsetzen ausgelöst. Krisen, Krieg und Gewalt gehören für die UN und für die Korrespondenten hier zum Arbeitsalltag. Und trotzdem trifft das Attentat von Paris die Organisation, die UN-Menschenrechtskommissar Zeid al-Hussein bei einem Gedenken am Freitag als globale Familie bezeichnet, ins Herz.

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid al-Hussein, bei einer Schweigeminute am 9.1.15 im Genfer Palais des Nations

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid al-Hussein, bei einer Schweigeminute am 9.1.15 im Genfer Palais des Nations

Das liegt daran, dass nicht nur die Journalisten im Palais das Recht auf freie Meinungsäußerung für eines der unveräußerlichsten Menschenrechte überhaupt halten. „Dieses Recht muss deshalb vehement verteidigt werden, vor allem von den Vereinten Nationen, von mir wie von uns allen“, sagt al-Hussein.

Der gebürtige Jordanier mahnt nach dem Anschlag dazu, innezuhalten anstatt über Rache nachzusinnen. „Es wird noch viel Gewalt geben, und zwar bald, wenn wir uns jetzt nicht klar und menschlich verhalten“, sagt er. „Weder der Islam noch die Multikulturalität Europas sind für den blutigen Überfall vor zwei Tagen verantwortlich, wie es verschiedene rechte Politiker bereits behauptet haben“, betont er.

Al-Hussein, selbst Muslim, geht differenziert auf die umstrittenen Cartoons von Charlie Hebdo ein. „Als Muslim empfinde ich viele der Cartoons, die heute überall wiederveröffentlicht werden, als beleidigend, so wie alle Muslime in diesem Gebäude und überall auf der Welt, alle 1,6 Milliarden“, sagt er. „Aber die Antwort ist natürlich nicht, jemanden zu ermorden oder zu verletzen. Stattdessen müssen wir das gleiche Recht nutzen, dass die getöteten Redakteure von Charlie Hebdo so meisterlich genutzt haben: das Recht, frei zu schreiben, zu sprechen und zu zeichnen.“

Für den Menschenrechtskommissar ist längst erwiesen, dass das Wort mächtiger ist als das Schwert oder eine andere Waffe. „Wir müssen über die Notwendigkeit sprechen, mehr zu lieben, uns mehr zu kümmern, gütig zu sein, mehr Menschen zu intergrieren und besser integriert zu sein: Wenn wir irgendeine Lehre aus diesen teuflischen Morden ziehen können, dann ist es diese.“

Die UN kranken oft daran, keine klaren Positionen beziehen zu können. Wer 193 Staaten repräsentiert, spricht oft verklausuliert. Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo haben die UN klare Worte gesprochen, in Genf und in New York. Das lässt hoffen, dass sie im Kampf gegen Terror und Extremismus auf allen Seiten in den kommenden Wochen ihr ganzes Gewicht in die Wagschaale werfen wird.

 

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Zehn Jahre nach dem Tsunami: Traumabewältigung in Aceh

 

Am 26. Dezember 2004 war ich über Weihnachten in Berlin und hörte morgens im Radio die Nachricht, dass es vor Nordsumatra ein Seebeben gegeben hatte. Ich machte mir erst einmal nicht allzu viele Gedanken. Solche Nachrichten gibt es in Indonesien regelmäßig. Neun Tote im Osten der Insel wurden gemeldet, einige Brücken seien zerstört. Aus deutscher – und anfangs selbst aus indonesischer – Mediensicht also kein großes Ereignis, noch dazu am zweiten Weihnachtsfeiertag. Ich trank in Ruhe Kaffee.

Generatorschiff PTLP Apung 1, Banda Aceh

Tsunami-Gedenkstätte in Banda Aceh, Indonesien: ein 2.600 Tonnen schweres Generatorschiff, das vier Kilometer weit ins Landesinnere gespült wurde, Foto: Florian Kopp/Misereor

Doch die Nachrichten über das Seebeben verschlimmerten sich laufend: Erst kamen Berichte von tausenden Toten, die bei einem Tsunami im Süden Thailands gestorben waren, wenig später folgten ähnliche Meldungen aus Sri Lanka, Indien und von den Malediven. Der gesamte Indische Ozean schien rundherum über seinen Rand geschwappt zu sein, die Todeszahlen stiegen stündlich. Nur aus Aceh, der nördlichsten Provinz Sumatras hörte man gar nichts. Und das obwohl das Epizentrum des drittgrößten Bebens, das je gemessen wurde, nur 85 Kilometer vor der acehnesischen Küste lag. Mich beschlich ein dumpfes Gefühl. Ein Anruf bei Kollegen in Jakarta bestätigte die Vorahnung, dass die schlimmsten Nachrichten noch ausstanden. Gegen Abend fragte ein großes Nachrichtenmagazin an, ob ich für die Tsunami-Berichterstattung auf die Malediven fliegen wolle. Ich lehnte ab und schlug vor, stattdessen früher nach Indonesien zurückzufliegen. Die Redaktion hielt das nicht für nötig – dort sei ja nicht so viel passiert. Laut Nachrichten.

Es dauerte tatsächlich mehrere Tage, bis die Welt anfing zu verstehen, warum es kaum Nachrichten aus Aceh gab. Aufgrund eines fast dreißigjährigen Unabhängigkeitskriegs stand die indonesische Provinz zu jenem Zeitpunkt unter Kriegsrecht und war von der Außenwelt weitestgehend isoliert. Nichtregierungsorganisationen und Ausländer durften nur mit Sondergenehmigung einreisen. Knapp zwei Tage dauerte es, bis die ersten indonesischen Hilfs- und Reporterteams sich über die vom Erdbeben zerstörten Straßen und Militärblockaden bis zur Westküste der Provinz durchgekämpft hatten und berichten konnten. Das Schreckensszenario dort überstieg jede Vorstellung: Über Hunderte von Kilometern waren ganze Küstenstreifen einfach ausradiert. Häuser, Bäume, Straßen – alles weg. Nur die platten Fundamente erinnerten noch daran, dass hier einmal Menschen gelebt hatten. In manchen Orten hatten gerade einmal zehn Prozent der Bevölkerung überlebt, mit wenigen Ausnahmen diejenigen, die zum Zeitpunkt der Katastrophe nicht zu Hause waren. Die Überlebenden zogen sich unter Schock und zum Teil schwer verletzt in die Berge zurück. Strom- und Telefonnetz waren komplett zusammen gebrochen, es war unmöglich, Hilfe herbeizurufen. Viele mussten tagelange Fußmärsche auf sich nehmen, um Lebensmittel oder ärztliche Versorgung für zurückgebliebene Angehörige zu besorgen.

Heute wissen wir, dass der Tsunami allein in Aceh 170.000 Menschen in den Tod riss. Als ich genau eine Woche nach der Katastrophe am Flughafen von Jakarta landete, hatte ich ein Dutzend SMS auf dem Handy: alle von Redaktionen, die mich plötzlich schnellstmöglich auf dem Weg nach Aceh sehen wollten. Es war abzusehen, dass der größte Tsunami unserer Geschichte noch Wochen und Monate die globalen Nachrichten beherrschen würde. Denn was jetzt folgte, war die größte Spendenaktion aller Zeiten.

Seit meiner Ankunft in Banda Aceh weiß ich, wie Leichen riechen. Zehn Tage nach der Katastrophe lag über der ganzen Stadt der süßliche Gestank der Verwesung. Rund 2000 aufgedunsene Körper zogen die Bergungstrupps jeden Tag aus Flussmündungen, unter Trümmern und Schutt hervor und fuhren sie auf großen Lastwagen in Massengräber. Jeder Gesprächspartner hatte Verwandte und Freunde verloren. In den am schlimmsten betroffenen Orten waren manche Familien komplett ausgelöscht worden. Die Überlebenden quetschten sich in Schulen oder Zeltlager. Die meisten hatten noch gar nicht realisiert, was eigentlich passiert war. Wo sich die 12 bis 30 Meter hohen Wellen mit voller Wucht hinübergewalzt hatten, war nicht mehr viel zu sehen außer ein paar Kokospalmen und vereinzelten Hausskeletten. Der Grenzstreifen der Todeszone lag etwa fünf Kilometer stadteinwärts: Hier stapelten sich Hausrat, zerquetschte Autos und die Überreste derer, die sich nirgends mehr hatten festhalten können. Mittendrin, fast unversehrt, lagen riesige Schiffe, als hätte sie ein Riese beim Spielen aus Versehen dort fallen lassen.

„Ist das Deine erste Katastrophe?“ fragte mich ein krisenerfahrener Kollege, mit dem ich zusammenarbeitete, und fügte – nicht sehr aufmunternd – hinzu: „Na, dann hast Du es ja gleich richtig erwischt.“ Dank seiner Unterstützung habe ich meine Arbeit trotzdem irgendwie geschafft. Nach einer Woche konnte ich wieder nach Hause fliegen. Es fühlte sich an wie der erste tiefe Atemzug an der frischen Luft nach einem längeren Tauchgang. Zwar spukten manche Bilder und Gespräche noch eine Weile im Kopf herum, doch die Katastrophe rückte wieder weit genug weg, um ein Nachrichtenbild im Fernseher zu werden. In den kommenden anderthalb Jahren flog ich noch mehrmals nach Aceh. Die Bedingungen wurden besser und ich härtete ab. Ich absolvierte das ABC der Katastrophenberichterstattung und zugleich noch einen Schnellkurs in internationaler Nothilfe und Entwicklungsarbeit. Doch die Betroffenen selbst konnten nicht einfach wegfliegen und die Tür hinter sich zu machen. Wie haben sie ihre schrecklichen Erinnerungen verarbeitet?

Namen von Opfern des Tsunami 2004 im Museum Tsunami Aceh, Indonesien; Foto: Florian Kopp/Misereor

Namen von Opfern des Tsunami 2004 im Museum Tsunami Aceh, Indonesien; Foto: Florian Kopp/Misereor

Zehn Jahre nach dem großen Tsunami von 2004 fuhr ich noch einmal nach Aceh. Diesmal um über das heutige Leben dort zu berichten, über den längst abgeschlossenen Wiederaufbau und den Frieden, den die Katastrophe der umkämpften Provinz brachte. Aber auch über die Scharia, die in der autonomen Provinz immer schärfer eingeführt wurde. Natürlich kamen Erinnerungen hoch. Ein Dokumentarfilm im Tsunami-Museum von Banda Aceh versetzte eine ganze Besuchergruppe in hemmungsloses Schluchzen und eine Mutter erzählte mir mit Tränen in den Augen, dass sie bis heute das Gefühl hat, einer ihrer beim Tsunami verschwundenen Söhne würde noch irgendwo leben.

Ich fühlte mich nicht wohl, die Frau durch meine Fragen nach den schrecklichen Erinnerungen so aufzuwühlen. Der Helfer jedoch, der mir den Kontakt vermittelt hatte, sagte: „Mach Dir keine Sorgen, das macht sie oft – und danach geht’s ihr wieder besser. Dieses Mitteilen ist ihre Form von Selbsttherapie.“ Schon zehn Jahre zuvor war ich tief beeindruckt, wie offen und freundlich die Opfer auf die Fragen fremder Besucher antworteten. Selbst im Zeltlager bekam ich manchmal noch etwas zu Trinken angeboten.

Internationale Hilfsorganisationen gehen automatisch davon aus, dass Opfer einer großen Naturkatastrophe posttraumatische Stresssymptome zeigen müssen, und richten ihre Einsätze demzufolge aus. Bei der psychologischen Betreuung in Aceh sind sie mit diesem Denkansatz kläglich gescheitert. Der Umgang mit den traumatischen Erfahrungen in Indonesien ist anders als bei uns. Alles mit der Gemeinschaft teilen ist dabei ein wichtiger Punkt, Religion ein andere. Die meisten Acehnesen glauben, dass der Tsunami eine Strafe Gottes für das Blutvergießen im Bürgerkrieg war. Durch diesen Glauben an eine göttliche Vorbestimmung und durch ihren kollektiven Lebensstil haben sich viele auf ihre eigene Art von den traumatischen Erinnerungen befreit. Fast alle Interviewpartner sagten, dass die psychischen Nachwirkungen des Bürgerkriegs bis heute viel schlimmer seien als die des Tsunamis: Gegen die Naturkatastrophe seien sie völlig machtlos und alle gleichermaßen betroffen gewesen. Während des Konflikts jedoch haben sich Menschen gegenseitig gequält und umgebracht, ohne dass irgendein höherer Sinn dahinter erkenntlich gewesen sei. Der Friede sei somit auch ein Geschenk Gottes.

 

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Adventston 24.12. – Oude Kerk

 

Oude_KerkDie Glocken der Oude Kerk hat Kerstin Schweighöfer  für eine Reportage (Dlf, Europa Heute) über das berühmte Amsterdamer Rotlichtviertel aufgenommen. Vor kurzem hat Kerstin wieder darüber berichtet, diesmal für den Standard: „Amsterdam räumt sein Rotlichtviertel auf“. – Die Oude Kerk steht mittendrin und ist gesäumt von roterleuchteten Fenstern, hinter denen leichtbekleidete Frauen ihre Reize feilbieten. Und ja, John Irving-Leser kennen die Oude Kerk aus „Until I find you“ und in „A widow for one year“. Und so hört sie sich an.

 

 

 

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Adventston 20. 12. – Ikonenmaler

 

george kordis

«Kann man Farbe hören? Man kann», sagt der Heiligenmaler George Kordis. Er greift zu einem Pinsel und fährt behutsam über eine graugrün grundierte Leinwand. Ein leises Zirpen ist zu hören. «Das liegt an der Beschaffenheit der Farbe, dem Verdaccio», sagt Kordis und fährt zum Vergleich mit dem Pinsel über eine nicht grundierte Fläche. «So kann man auch kontrollieren, ob die Farbe gut ist.» Für ihre Sendung über die Kunst der Ikonenmalerei hat Alkyone Karamanolis nicht nur lange Interviews mit Ikonenmalern geführt, sondern eben auch alle Geräusche aufgenommen, die im Atelier zu hören waren. Nur den Kuchenduft – beim Vergolden kommt nämlich auch Eiweiß zum Einsatz – konnte ihr Mikrofon nicht einfangen.

 

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Adventston 17. 12. – Armenischer Gottesdienst in Istanbul

 

Susanne Güsten, IstanbulIn diesen Gottesdienst in einer kleinen armenischen Kirche im Istanbuler Stadtteil Kadiköy wanderte Susanne Güsten zufällig hinein, als sie auf der Suche nach einer anderen Kirche war – nach der Konzilskirche von Chalcedon, wo im Jahr 451 das vierte Ökumenische Konzil der Christenheit tagte: „Ich freute mich, eine orientalisch-orthodoxe Kirche an jenem Ort vorzufinden, wo diese sich seinerzeit von der übrigen Christenheit abspaltete. Den Ort der ursprünglichen Konzilskirche fand ich später auch noch, dort steht heute eine relativ neue griechisch-orthodoxe Kirche. Die Türkei mag ein moslemisches Land sein, doch die Wurzeln der Christenheit stecken tief in ihrer Erde und sind auch noch nicht abgestorben.“

Susanne Güsten, geboren 1963 in München, aufgewachsen in Westafrika, Schulabschluss in den USA, Studium der Politikwissenschaften in Deutschland, Absolventin der Deutschen Journalistenschule; Redakteurin, Reporterin und zuletzt stellvertretende Chefredakteurin der Nachrichtenagentur AFP in Deutschland; seit 1997 als freie Korrespondentin in Istanbul.

Susanne Güsten berichtet aus der Türkei und Nordzypern unter anderem für den Tagesspiegel und den Deutschlandfunk.

 Anhören: zum tönenden Adventskalender

 

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Adventston 8. 12. – Sufi-Sänger

 

… aus Nizamuddin in Neu Delhi.  Diesen O-Ton haben wir aus einem Video herausgenommen, das Michael Radunski in Delhis Stadtteil Nizamuddin aufgenommen hat, in einem kleinen Hinterhof vor dem Mogul-Grab Chausath Khamba. Was wir hier hören ist „Qawwali“, ist ein zum Sufismus gehörender Gesangsstil, der ursprünglich aus der ehemaligen Provinz Punjab im heutigen Pakistan und Nordindien stammt.

Das Grab im Hinterhof wurde 1623 erbaut und hütet die Gebeine des Mogul-Kaisers Mirza Aziz Kokaltash. Der Name Chausath leitet sich von der impossanten Deckenkonstruktion ab, die auf 64 Marmorsäulen ruht (Chausath = 64). Seit 2011 wurde das Grabmal mit Unterstützung der Deutschen Botschaft in Delhi restauriert und nun feierlich mit Qawwali-Gesang für die Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht. Michael hat das Video extra für den Adventskalender aufgenommen.

Bevor Michael 2012 nach Neu Delhi kam, hat er in England und China gelebt. In seinen Reportagen, Interviews und Porträts erzählt er nun von einem Land, das ihn durch seine Unterschiedlichkeit fasziniert.

(Fotos: co Deutsche Botschaft Neu Delhi/German Embassy New Delhi)

 

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Adventston 5. 12. – Tänzerinnen am Erewan-Hinduschrein …

 

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…  in Bangkok. Gläubige Buddhisten und Hindus aus aller Welt besuchen den Erewan-Schrein im Zentrum von Bangkok, der dem hinduistischen Gott Brahma gewidmet ist. Sie bitten um Geld, Liebe, beruflichen Erfolg, aber auch um Gesundheit und Erleuchtung. Bei größeren Wünschen kann man eine Tanztruppe anheuern, die – begleitet von einem traditionellen Orchester – Tänze aufführt, um den Gott zu erfreuen.

Für den WELTREPORTER-Adventskalender hat Sascha Zastiral  die Tanztruppe mit seinem Handy aufgenommen:  „Der Schrein steht neben einer Hauptverkehrskreuzung, daher der recht bunte Soundtrack. Für eine Geschichte habe ich den O-Ton nie gebraucht. Ich war aber oft dort: An der Kreuzung, an der dieser Schrein steht, finden seit Jahren Proteste rivalisierender politischer Gruppen statt. 2010 sind hier bei Zusammenstößen mit der Armee Dutzende Menschen (die für demokratische Wahlen protestiert haben) getötet worden.“

Sascha Zastiral berichtet seit Anfang 2010 aus Bangkok und den Ländern der Region. Vorher hat er einige Jahre in Neu-Delhi gearbeitet. Er schreibt und produziert Radiobeiträge und Sendungen. Und Musik. Gerade macht er sich auch als DJ einen Namen.

 

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Wenn eine menschliche Stimme erklingt…

 

Auf diesem dunkelnden Stern, den wir bewohnen, am Verstummen, im Zurückweichen vor zunehmendem Wahnsinn, beim Räumen von Herzländern, vor dem Abgang aus Gedanken und bei der Verabschiedung so vieler Gefühle, wer würde da – wenn sie noch einmal erklingt, wenn sie für ihn erklingt! – nicht plötzlich inne, was das ist: Eine menschliche Stimme.“

Ingeborg Bachmann in „Musik und Dichtung“

Gestern haben wir sie gehört, diese Stimme. Was sage ich denn! Viele Stimmen waren es, aber auf wunderbare Weise verschmolzen zu einer. Sie sangen Barekhou, Khorshat Haekalyptus, Hitrag’out und vieles mehr. Hebräische Lieder erklangen in der mehr als nüchternen Mehrzeweckhalle in Balma. Aber es waren nicht nur die Lieder selbst, es waren die Stimmen, die anrührten.

Renania in Toulouse

Avner Soudry, Leiter und Erfinder der europäischen Chorbewegung „Rénanim“ ermuntert immer wieder: „Hören sie nicht nur auf die Melodien, hören sie auf die Stimmen dahinter“. Die Stimmen dieser rund 100 Laiensänger tragen die Melodien. Und sie tragen ihre Botschaft weit über die Balma nahe Toulouse hinaus. Sie lautet: Frieden und Austausch über einen interkulturellen Dialog durch gemeinsames Singen. Soudry wünscht sich, die hebräisch-jüdische Kultur mit anderen zu teilen. Es geht ihm ausdrücklich nicht um zionistische Propaganda, es geht nicht um die jüdische Religion wiewohl auch religiöse Lieder gesunden werden. „Uns interessiert das gesamte jüdische Repertoire, was unsere Großmütter gesungen haben, was in der Synagoge gesungen wird, was auf der Straße gesungen wird. Wir wollen nicht eine Seite der jüdischen Kultur gegen die andere ausspielen. Was jüdisch ist, der Judaismus, ist ja glüclicherweise nicht auf die Religion, auf die Synagoge beschränkt.“

Soudry weiß, dass er sich mit diesem Grundgedanken zwischen alle Stühle setzt. Jüdische Autoritäten rümpfen die Nase, weil Rénanim beispielsweise auch in Kirchen singt. Einige Nicht-Juden verstehen auch nicht so recht, was das soll. Aber der Israeli Soudry, der in Nizza lebt und dort zwei Orchester leitet, setzt genau auf diese kontroverse Offenheit.

So singen sie zusammen, Juden und Nicht-Juden, aus Frankreich, Belgien, Holland und zum ersten Mal auch aus Deutschland. Denn der Chor „Rénanim Toulouse“ hat seine Schwesterchöre eingeladen, beim Jahrestreffen das zehnjährige Bestehen der südwestfranzösischen Sektion zu feiern. Es ist ein besonders freudiges Wiedersehen, nicht zuletzt für mich persönlich. Als ich vom Parkplatz zum Halleneingang gehe, winkt Claude mir freundlich mit ihrem roten Schal zu. „Brigitte, wie geht es Ihnen?“ Im März 2013 hatte ich eine Chorprobe in Toulouse besucht, um eine Reportage zu schreiben. Leider ging es dabei nicht nur um den Chor, sondern auch um die veränderten Lebensbedingungen und das sich wandelnde Lebensgefühl der Juden in Toulouse nach dem Anschlag des Terroristen Mohammed Merah gegen eine jüdische Schule im Jahr zuvor.

Es wurde ein bewegender Abend für mich. Nicht nur lernte ich sehr viel über hebräische Lieder und die Rénanim-Chorbewegung. Avner Soudry, der extra aus Nizza gekommen war, und die 19 Toulouser Choristen, öffneten sich mir zudem in einer Weise, die ich nicht erwartet hatte. Sie teilten die Musik, den Spaß an der Probe aber auch ihre Gedanken und Gefühle angesichts einer Zunahme von verbaler und physischer Gewalt gegen Juden in Frankreich. Mit der gleichen Wärme, mit der sie mich an jenem Schnee-kalten März-Abend 2013 verabschiedeten, begrüßen sie mich nun in Balma wieder. Besonders freut mich zu hören, dass es inzwischen einen deutschen Rénanim-Chor in Berlin gibt. Damit hat sich ein großer Wunsch Avner Soudrys erfüllt. Für ihn ist dies der Versuch, über die schmerzhafte Vergangenheit hinauszugehen. Gleichzeitig ist in seinen Augen eine europäisch-jüdische Chrobewegung unvollständig, wenn sie nicht eine deutsche Komponente hat. Denn in Soudrys Augen waren es die deutschen Juden, die nach ihrer Flucht vor den Nazis die israelische musikalische Tradition begründet haben, mit der er aufgewachsen ist.

Es hagelt und donnert, als die Frauen in schwarzen Kleidern, geschmückt mit roten Schals, und die Männer in weissen Hemden mit schwarzer Fliege zum Abschluß des Konzerts mit Leib und Seele „Shir Lashalom“ sangen – ein Lied für den Frieden, das zur Hymne für die israelische Friedensbewegung wurde. Jede Stimme spricht für sich und hat sicherlich eine ganz individuelle Botschaft. Und doch verschmelzen sie zu eben dieser menschlichen Stimme, die Ingeborg Bachmann meint. Eine Stimme die laut erklingt, die Grenzen überschreitet, die dort anrührt, wo wir noch erreichbar sind.

 

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Sama Wareh – Hoffnung und Kunst für syrische Kinder

 
Sama liest Brief der Flüchtlingskinder

Sama liest Brief der Flüchtlingskinder

Ich fahre durch die Dunkelheit in ein schmales Tal in den Bergen südlich von Los Angeles: Silverado Canyon. Die Wegbeschreibung endete mit einem Hinweis auf eine große rote Scheune. Ohne Straßenbeleuchtung sind Größe und Farbe der wenigen Gebäude am Straßenrand kaum zu erkennen. Endlich finde ich die Scheune, im Haus gegenüber leuchtet hinter einem Fenster warmes Licht. Ich bin bei Sama Wareh angekommen: Künstlerin und Aktivistin, Kalifornierin mit Wurzeln in Syrien. Bis zum Kriegsausbruch hat sie regelmäßig Familie und Freunde in Damaskus besucht.
Der Krieg hat sie so beschäftigt, dass sie einmal auf eigene Faust an die türkische Grenze reiste, um Flüchtlingen mit Decken, Heizkörpern, Medizin und Mietzahlungen zu helfen. Ein Jahr später machte sie sich wieder auf den Weg, diesmal mit der Mission, ein nachhaltiges Projekt zu initiieren und dabei ihre Stärken zu nutzen: Kunst und Pädagogik. Sie entwickelte ein Curriculum: „Kunsttherapie für Kinder in Kriegsgebieten“ und zog los. Vor ein paar Wochen kam sie zurück und erzählt mir nun, was sie erlebt hat.

„Möchtest Du Linsensuppe?“ fragt sie mich zur Begrüßung. Die köchelt vor sich hin, füllt die kleine Wohnung mit Wärme und dem Duft einer starken Gewürzmischung. Wir setzen uns auf ein niedriges Sofa und Sama beginnt zu erzählen.
Im November reiste sie zu einer Schule im Libanon, nördlich von Tripolis. Dort hatte sie nach langer Recherche einen Direktor gefunden, der Schülern die selben Werte vermitteln wollte wie sie: Teamwork, Kreativität und Gleichberechtigung über Religion, Geschlecht, Herkunft, Alter und Rasse hinweg – ein Vorbild für die Zukunft Syriens. Die Schüler hatten den Namen der Schule selbst gewählt: Vögel der Hoffnung.
Sama kaufte von Spenden, die sie in Kalifornien gesammelt hatte und vom Einkommen aus dem Verkauf ihrer Bilder Material und begann ihr Kunstprogramm: Sie ließ die Kinder ihre Träume und Hoffnungen malen und gestaltete mit allen Schülern, Lehrern und dem Direktor ein Wandgemälde. Die steckten der kalifornischen Künstlerin jeden Morgen Briefe und Zeichnungen zu: Blumen und Herzen, Monster, Bomben, blutende Bäume und zerstörte Städte.
„In Kunst drücken Kinder aus, worüber sie nicht sprechen können,“ erzählt Sama von ihrer Zeit mit den 350 ‚Vögeln der Hoffnung‘. Ein Junge sang jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn auf der Schultreppe ein Lied von der Schönheit Syriens und von Trauer um die Zerstörung des Landes. Der Abschied fiel ihr schwer, weinend ermutigte sie die Kinder, weiter zusammen zu arbeiten, zu reden und Konflikte ohne Gewalt zu lösen.
Die gesammelten Spenden finanzieren nun einen Kunstlehrer, der ihr Projekt fortführt. Er schickt ihr Videos von den Fortschritten. Sie zeigt mir eines auf dem Computer und holt aus ihrem Schlafzimmer Briefe und Zeichnungen der Kinder. Sie erinnern sie an traurige und glückliche Momente in der Schule. „Nichts kann mich mit so viel Glück und Freude füllen, wie das Lächeln der Flüchtlingskinder und die Konzentration und Ruhe auf ihren Gesichtern während sie zeichnen.“
Aus Videoaufnahmen ihres Abenteuers an der Schule produziert sie einen Dokumentarfilm. Einnahmen aus Vorführungen werden direkt zu den ‚Vögeln der Hoffnung‘ geschickt. „Jeder kann etwas Positives bewirken in der Welt,“ sagt sie während wir Linsensuppe löffeln. „Ich bin Künstlerin, ich hab nicht viel Geld aber jetzt haben die Kinder diese neue Freude im Leben, nur weil ich mich angestrengt habe. Das ist das beste Gefühl der Welt!“

 

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Die gelbe Gefahr!

 

 

Aus aktuellem Anlass ein paar Worte zur »gelben Gefahr«, weil mir vorhin auf Facebook jemand Folgendes schrieb:

 

»Ich frage mich, warum der gelbe Hintergrund in Ihrem Facebook-Profilfoto, der aktuell als Kennzeichen der Muslimbrüder-Sympathisanten angesehen wird? Ich erwarte Neutralität von Journalistinnen und Journalisten!«

Nun, ähemm, das Foto steht so, wie es aussieht, seit April 2011 auf meiner Facebook-Seite, weil ich damals dachte, dass rot und gelb zusammen so’ne schöne Signalwirkung entfalten. Hat mir einfach gut gefallen. Dass es die Farbe der Muslimbrüder sein soll, ist mir unbekannt (seit GESTERN verwenden sie allerdings einen gelben Hintergrund in einem ihrer Protestlogos). Man könnte über den Vorwurf an mich lachen, wenn er nicht ein Beispiel dafür wäre, wie so manchem Ägypter (und Deutschen in Ägypten und Deutschen in Deutschland, der sich für Ägypten interessiert) in dieser Atmosphäre der Hysterie die Nerven durchgehen.

 

 

Ich richte ja nie meine Berichterstattung an den Stimmungswogen der Leute aus. Eine der Hauptfragen, die ich mir beim Recherchieren und Schreiben selber stelle, lautet: »Ist das, was ich sehe, jetzt wirklich das, was ich denke, was es ist…?« Will sagen: Es gibt ziemlich viele Gründe dafür, immer und überall kritisch unter die Oberfläche zu gucken. Was Ägypten betrifft, gilt das nicht nur für die Islamisten, auch für Militär, Sicherheitskräfte, Opposition usw. usf. Alles andere wäre journalistisch falsch (und außerdem sterbenslangweilig).

 

 

Ich weiß, dass das schwierig für jene ist, die nach einfachen ›Wahrheiten‹ dürsten, nach solchen, die am besten auch noch ihren Stimmungen und Erwartungen entsprechen. Ich verstehe das ja, aber es ist journalistisch nicht machbar. Ich erhalte auch Post, in denen Unterstellungen stehen wie: »Sie haben doch die Muslimbruderschaft immer geschont und die Gefahr verharmlost!« — Wahlweise steht statt Sie auch gern Ihr für »Ihr Journalisten«…

 

 

Wen es interessiert, ich verlinke hier mal ein paar meiner Beiträge, die ich eben auf die Schnelle rausgesucht habe. Das soll keine Rechtfertigungsein (dazu gibt es keinen Grund), sondern eine Ermunterung dazu, mal ein bisschen genauer in die deutschen Medien hineinzugucken oder hineinzuhören. Da gibt es bei meinen Kollegen (auch von WELTREPORTER.NET) ne ganze Menge zu entdecken, zum Beispiel in den Tageszeitungen und auf den öffentlich-rechtlichen Radiosendern (sehr empfehlenswert!) und zum Beispiel besonders auch bei Karim El-Gawhary.

 

 

Hier Links zu ARD-Hörfunkbeiträgen von mir aus dem Frühjahr und Winter:

 

 

Das folgende Stück hier wurde knapp drei Monate vor der Entmachtung Mursis gesendet, ich lasse einen ägyptischen Gesprächspartner erklären, warum er die Ideologie der Muslimbruderschaft für gefährlich & faschistisch hält :

 

 

http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2013/04/12/drk_20130412_2248_aeceaafc.mp3

 

 

Hier zu Menschenrechtsverletzungen unter Mursi (April 2013):

 

 

http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2013/02/11/drk_20130211_1214_7d7da371.mp3

 

 

Hier genau zur Hälfte der Amtszeit Mursis (Januar 2013), ebenfalls über Menschenrechtsverletzungen und repressive Politik:

 

 

http://www.tagesschau.de/ausland/aegypten1410.html

 

 

Hier die ersten Massenproteste gegen Mursi & Muslimbruderschaft im Dezember 2012:

 

 

http://www.tagesschau.de/ausland/aegypten-proteste110.html

 

 

Das sind einige von vielen Beispielen. Auf den Text-Webseiten gibt es jeweils immer auch ein Audio-Logo, auf das man klicken kann, um sich das jeweilige Stück anzuhören.

 

 

Mal auch ganz spannend für mich, in der Rückschau zu gucken, wie die eigene Berichterstattung damals aussah. ■

 

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Ägypten – das Reich der Phantasie

 

Dass die Wahrheit in Konflikten auf der Strecke bleibt, ist eine Binsenweisheit, ebenso wie die Tatsache, dass mit Informationen Politik gemacht wird. Geschenkt. Es gibt nichts, das ein Journalist nicht kritisch abklopfen muss.

 

Am 26. Januar 2011, dem zweiten Tag des ägyptischen Volksaufstandes gegen Mubarak, bin ich tagsüber zu drei Orten in der Nähe des ARD-Studios gegangen, für die Regimegegner Demos mit mehreren Tausend Menschen über Twitter und auf Facebook vermeldet hatten. An nicht einem der drei Orte traf ich auch nur einen einzigen Demonstranten an.

 

Bei Opferzahlen sieht’s nicht anders aus. Wem hohe Zahlen nutzen, der vermeldet hohe Zahlen, wem nicht, der nicht. Fotos von Kindern, die das ägyptische Militär angeblich bei ihren brutalen Angriffen gegen Mursi-Anhänger in Kairo tötete, erwiesen sich später als Bilder von Kinderleichen aus Syrien.

 

Diese Bilder waren auf Webseiten aufgetaucht, die der Muslimbruderschaft nahestehen. Andere Webseiten fanden die Quelle und stellten die Screenshots der ägyptischen sowie der syrischen Webseite nebeneinander –beide zeigen dasselbe Massakerfoto, nur mit einer anderen Bildunterschrift.

 

Ich habe aber auch schon Webseiten mit solchen Gegenüberstellungen gesehen, bei denen der »Beweis«, also der Screenshot von der Webseite mit dem angeblichen Originalfoto, eine Fälschung war – und das angeblich »entlarvte« Foto aber echt. Alles ziemlich verworren.

 

Gestern tauchten in Ägypten Fotos von Männern in Zivil auf, die mit Maschinengewehren bewaffnet am Rande von Demonstrationen durch Kairos Straßen liefen. Angeblich soll es sich um bewaffnete Mursi-Anhänger gehandelt haben. Das kann stimmen, ich habe selber in den letzten Wochen Mursi-Anhänger mit Waffen gesehen. Die Behauptung kann aber auch falsch sein. Andere Fotos von gestern zeigen Männer in Zivil und mit Maschinengewehren, die mit Polizisten in der Sonne stehen, plaudern und ganz offensichtlich zu ihnen gehören.

 

Zu welcher ‚Seite‘ gehören Männer in Zivil, die in der Nähe von Protesten mit Waffen rumlaufen? Das Publikum entscheidet sich für die Antwort, die es hören will. Das ist der Hauptpunkt. Nur wenige der vielen Falschinformationen und Behauptungen dienen noch dazu, einen Beweis zu suggerieren. Sie sollen einfach nur Stimmungen beeinflussen, bei Leuten, die ohnehin schon in einer bestimmten Weise gestimmt sind.

 

Es ist inzwischen völlig egal, wie plausibel diese Behauptungen sind. Sie tauchen auf, sie putschen auf. Sie sind ein paar Stunden später schon wieder aus der Wahrnehmung verschwunden und haben ihren Zweck erfüllt. Im Zeitalter von Social Media und von Fernsehbildschirmen, die rund um die Uhr flimmern, erwartet niemand mehr, das irgendwas von dieser Informationsflut später dementiert oder entlarvt wird. Es guckt sich alles einfach so weg.

 

Seit Mittwoch wurden in Ägypten landesweit mehrere Dutzend Kirchen gestürmt, verwüstet und/oder in Brand gesteckt. Ich habe in Videoaufnahmen Täter gesehen, bei denen es sich mit ziemlicher Sicherheit um Sympathisanten von Mursi und der Muslimbruderschaft handelte – zur ‚Rache‘ womöglich angefeuert durch die Reden, die wochenlang von der Protestcamp-Bühne an der Rabaa-al-Adawiyya-Moschee hallten und in denen aufs Übelste immer wieder auch gegen Christen gehetzt wurde.

 

Auf Aufnahmen von anderen der attackierten Kirchen sah ich Angreifer, die mit Pick-up-Trucks kamen und bei denen es sich unverkennbar um Baltagiyya-Schlägertrupps handelte, um jene meist jungen, verrohten Männer aus Armenvierteln, die seit Jahrzehnten für Funktionäre der Mubarak-Nomenklatura die Drecksarbeit machen, nicht selten vollgepumpt mit Bango (Marihuana), und die ein paar ägyptische Pfund für ihren Einsatz erhalten.

 

Eine ägyptische Koptin aus Beni Suef (die ich nicht kenne und für deren Äußerungen ich nicht bürgen kann) schrieb auf ihrer Facebook-Seite (mehrere Tausend Abonnenten): »Glaubt mir! Die, die bei uns im Ort die Kirchen anzündeten, waren Geheimdienstleute in Zivil und Männer von der NDP (Mubaraks 2011 aufgelöster Regierungspartei).« In einem Fernsehinterview an jenem Mittwoch erzählt ein koptischer Kirchenfunktionär aus Al-Minya, dass die Angriffe auf alle Kirchen im Ort exakt zur selben Zeit nach demselben Muster abliefen und vor allem in jenem Moment im Morgengrauen stattfanden, als in Kairo die brutale Räumung der Protestcamps der Mursi-Anhänger gerade begonnen hatte. Die Kopten riefen die Polizei an und baten um Schutz und Hilfe, aber bei keiner der überfallenen Kirchen habe sich die Polizei blicken lassen, bis zum Schluss nicht.

 

Es bleibt einem nichts weiter übrig, als sich auf all das irgendwie selber einen Reim zu machen – indem man so aufwändig und so kritisch wie möglich recherchiert und indem man die eigenen, Jahre langen Erfahrungen bei der Beurteilung hinzuzieht. Nach dem, was ich von den Überfällen auf die Kirchen gesehen habe, würde ich sagen: sowohl radikale, aufgehetzte Mursi-Sympathisanten als auch koordiniert agierende Angreifer, die Überfälle orchestrierten, die den Islamisten in die Schuhe geschoben werden können.

 

Vorfälle dieser und ähnlicher Art müssten von offizieller Seite untersucht werden. Nach jedem Blutbad der letzten zweieinhalb Jahre wurde schonungslose Aufklärung versprochen, aber ich kann mich an keinen einzigen Untersuchungsbericht erinnern. Und wenn es Pressekonferenzen gab, auf denen »Untersuchungsergebnisse« präsentiert wurden, waren sie keine einzige der Minuten wert, die man für sie opferte.

 

Im Oktober 2011 habe ich sechs Stunden lang aus nächster Nähe mit ansehen müssen (ich konnte den Ort nicht verlassen), wie das ägyptische Militär vor dem TV-Gebäude Maspero ein Massaker unter Teilnehmern einer Christendemonstration verübte. Ich sah Soldaten, die auf Menschen schossen (die dann getroffen zusammensackten), ich sah, wie gepanzerte Militärfahrzeuge über Demonstranten fuhren. Am Ende waren mindestens 27 Menschen tot.

 

Ein paar Tage später gaben Armeeoffiziere auf einer Pressekonferenz die offizielle Version der Militärs bekannt. Fast alles, was sie sagten, war praktisch das Gegenteil von dem, was ich selber gesehen hatte. Ähnliche Erfahrungen macht man immer wieder auch mit Erklärungen anderer Behörden. Es ist leider so, dass die Informationen offizieller Stellen in Ägypten keinen Wert haben. Sie können stimmen (und tun das womöglich hin und wieder auch), aber sie können ebenso gut auch komplett dem Reich der Phantasie entstammen. Man könnte sie eigentlich ignorieren. Sie helfen einem bei der Suche nach dem Hergang der Ereignisse keinen einzigen Millimeter weiter. ■

 

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Vor Wahlen wird Islam zum Land …

 

Zu wenig dringt vom australischen Wahlkampf in den Rest der Welt vor. Was schade ist, denn wenn die nächsten 4 Wochen bis zur Wahl nur ansatzweise so skurril weitergehen, wie sie angefangen haben, wird’s zum Schreien. Kostprobe gefällig? Gern! Gestern zb gab eine junge Kandidatin der „One Nation“ Partei (so eine Art australische Le-Pen- oder Sarah-Palin-Truppe) ein Interview und erklärte : Sie sei jetzt nicht generell gegen Islam als Land, aber deren Gesetze sollten lieber nicht in Australien gelten. Okay, ich verstehe, Sie brennen darauf, den Namen dieser politischen Wunderwaffe kennen zu lernen: Verständlich, denn Stephanie Banister, mit 27 Jahren das jüngste „poster girl“ ihrer politischen Vereinigung, hat noch weitere Weisheiten in Sachen Religion parat. Da Skepsis in diesen schnellmedialen Zeiten angebracht ist, hören Sie sich den Beweis aus Australiens öffentlichem Fernsehen auf Youtube an. Es lohnt! Sarah, sorry Stephanie weiß auch: Nur 2 Prozent aller Australier etwa folgten dem Haram (sie meinte Koran, haram ist ein muslimischer Terminus für etwas das verboten ist )

http://www.youtube.com/watch?v=6_1SFf8t-ko

Dann belehrte sie noch: Juden hätten andere Diätvorschriften (nicht haram sondern kosher und steuerfrei), aber Juden hätten ja eh ihre „eigene Religion, welche nämlich Jesus Christus folge“. Autsch, ich glaube Stephanie muss wirklich muss noch mal zurück in Jahrgang 10, wo’s um „Religionen dieser Welt“ ging. Denn Glaube und Gott sind ihr Lieblingsthema (sagt sie). Kaum nötig zu erwähnen, dass die aufstrebende Politikerin sich am nächsten Tag beschwerte und falsch zitiert fühlte… Die Beweise waren allerdings etwas zu erdrückend.

Mit etwas Glück bleibt Australien mehr Banister-Intelligenz eventuell erspart: im Moment wird gerichtlich gegen sie ermittelt weil sie angeblich Aufkleber verteilt hatte: „halal funds terrorism“ brüllten die weiß auf rot, und ihre Anhänger hatten sie in Brisbanes Supermärkten auf Fleischwaren und andere Produkte geklebt. Das Verfahren steht noch aus, aber mit Vorstrafe darf sie nicht ins Parlament. phhhh.

halalfood

 

Dies waren Stephanie Banisters Aufkleber. Dank derer könnte Australien von ihr verschont werden.

 

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Südafrikanischer (not so) Small Talk

 

„Glauben Sie auch, dass Jesus bald zurückkehrt?“ Vollkommen entgeistert schaue ich von dem Formular auf, in das ich gerade meine Adresse und Telefonnummer eintrage. Wie bitte? Doch die Frau auf der anderen Seite des Verkaufstresens lächelt nur freundlich zurück. Für sie scheint es ganz normal, eine Kundin, die gerade einmal vor 5 Minuten den Laden betreten hat, nach ihrer religiösen Überzeugung zu fragen. Meine Sprachlosigkeit nutzt sie aus, um mir lang und breit zu erklären, warum alles für die Rückkehr ihres Erlösers spricht.

Auch mein Automechaniker verwickelt mich nach der kurzen Unterhaltung über die Ergebnisse der Inspektion in ein langes Gespräch über Glaubensfragen. Ein auffälliger Blick auf die Uhr, alle Versuche seinen Monolog höflich zu beenden und wieder auf mein Auto zu sprechen zu kommen, ignoriert er einfach. Sein Thema ist nicht Jesus’ Rückkehr, sondern die heilende Wirkung der Meditation. Zum Abschied, nach einer gefühlten Ewigkeit, bekomme ich nicht nur die Rechnung mit auf den Heimweg, sondern auch ein Bild seines Gurus.

Südafrikaner reden gern über Religion. Auch mit Wildfremden. Dabei zeigen sie häufig einen, für mich immer wieder überraschend direkten, missionarischen Eifer. Was in Deutschland als Eindringen in die Privatsphäre empfunden würde, gehört am Kap zum erweiterten Small Talk. Und so kann man nie wissen, wie ein Gespräch nach dem ebenso obligatorischen wie harmlosen „How are you?“ endet.

 

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Von Adam und Eva

 

In Manila braucht es nicht viel, um die devoten katholischen Gemüter zu erregen. Die Philippinen sind seit der mehr als 300 Jahre währenden Herrschaft der Spanier das einzige Land Südostasiens, in dem der Katholizismus die bestimmende Religion ist. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung bekennen sich dazu. Der Glaube bestimmt ihren Alltag, ihr Leben. Was die alten Herren in der Bischofskonferenz sagen, ist für die Massen Gesetz. Deswegen gelten Pille oder Kondome auch als Teufelszeug, Abtreibung wird mit Mord gleichgesetzt. Die Folge ist eine fatal hohe Geburtenrate (und eine beschämend hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeit, zu der die Geistlichen nichts zu sagen haben), die dem armen Land eine nicht zu verkraftende Bevölkerungsexplosion aufbürdet.

Aber ich komme ein wenig vom Thema ab. Denn eigentlich wollte ich über Adam und Eva schreiben. Denn, so lernt jedes Christenkind, von den beiden stammen wir ab. Nun gibt es aber ein brandneues Museum in Manila (was in der an Kulturinstitutionen armen Millionenmetropole für mich die eigentliche Sensation ist), in dem es frevelhaft zugeht.

Die Köpfe, die hinter dem „Mind Museum“ stecken, so glaubt die katholische Kirche, sind wohl von allen guten Geistern verlassen. In dem futuristischen Bau in Manilas Boomzentrum Bonifacio Global City geht es um Wissenschaft, um das Universum, um Atome, um Lebensräume – und um  Evolution. Jene Lehre also, nach der der Mensch vom Affen abstammt. Für viele Einheimische, so erzählte die Kuratorin Maria Isabel Garcia neulich einem ausländischen Fernsehteam, sei diese Gedankenwelt völlig fremd, für manche schlicht ein Sakrileg. „Für einige unserer Besucher ist unsere Ausstellung zweifelsohne eine Herausforderung.“

Gestern habe ich mir das Corpus Delicti mal selber angesehen. O weia, da stehen unsere Vorfahren nackt und behaart oder mit Fellen behängt in Lebensgröße mitten im Raum. Skandalös, oder? Statt Adam und Eva im Garten Eden Lendenschurzträger mit einer Steinaxt und grimmigem Blick. Die erwachsenen Besucher scharrten sich gestern kichernd wie kleine Kinder, die nicht bei einem dummen Streich erwischt werden wollen, um Lucy, Neanderthaler & Co und lichteten sich gegenseitig ab.

The hominid exhibit at Manila's new science and natural history museum: "It is a big challenge to educate the public about evolution, but it's not that our people are so unaccepting," said Maria Isabel Garcia, curator of The Mind Museum.

Aber wem schenken sie nun Glauben, der modernen Wissenschaft oder dem Buch Moses? Garcia lacht und meint: „Ich will ja keinen bekehren. Aber was ich immer wieder beobachte, ist, dass viele Besucher verwundert darüber sind, dass an der Evolutionslehre etwas dran ist, dass sie Sinn macht.“ An der Macht der katholischen Kirche wird diese aufrüttelnde Erkenntnis sicher nichts ändern. Wahrscheinlich haben die Bischöfe das frevlerische Treiben der „Mind Mover“ (so nennt sich das Team des Museum) deshalb bisher noch nicht unterbunden. Denn das wäre für die einflussreichen Vertreter Gottes ein leichtes, kann auf den Philippinen doch kein bei der Kirche in Ungnade gefallener Politiker auf seine Wiederwahl hoffen.

 

 

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Moscheen zwischen Kirchen und Tempeln

 

Beim Fotografieren seiner Ausstellung „Moscheen in Deutschland“ hat der Stuttgarter Architektur-Fotografen Wilfried Dechau viel über die islamische Minderheit in seiner Heimat gelernt. Vor allem viele kleine Details, die man eben nur erfährt, wenn man den Alltag von Muslimen miterlebt. In der indonesischen Studentenstadt Jogjakarta, wo das Goethe-Institut seine Bilder im März im Wandelgang der Moschee der größten islamischen Universität ausgestellt hat, wollte er nun einen Umkehreffekt erreichen: Drei Tage lang ließ er Studenten im Rahmen eines Workshops Kirchen und Tempel fotografieren. Dabei ging es zwar natürlich hauptsächlich um Tricks und Kniffe der Architekturfotografie, aber nicht ganz nebensächlich auch um die Vermittlung der religiösen und kulturellen Vielfalt im Land mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt. Das Experiment funktionierte tatsächlich und die Studenten stießen in den Gebetshäusern der ihnen zum Teil unbekannten Religionen auf viele Details, die sie interessierten oder sogar berührten – und die sie in zum Teil beeindruckenden Bildern festhielten. Dennoch endeten die Exkursionen zu den Kirchen und Tempeln jedes Mal mit der Suche nach einer Moschee: Die Organisatoren hatten nicht bedacht, dass die muslimischen Teilnehmer bei aller interreligiösen Gruppenharmonie dennoch ihre Gebetszeiten einhalten wollen…

 

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„Charia hebdo“, Pressefreiheit und anti-islamischer Populismus

 

Plötzlich kämpfen alle für die Pressefreiheit – französische Politiker jeder Couleur preisen sie als „heiliges Recht“ der Franzosen. Richtig so. Ich meine, dieselben Politiker sollten ebenso auf die Barrikaden gehen, wenn staatliche Abhörskandale gegen französische Journalisten bekannt werden. Oder welche Pressefreiheit darf es bitteschön sein?

Der Aufschrei des Entsetzens gestern, nach dem abscheulichen Brandanschlag gegen den Redaktionssitz der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris, war ebenso absehbar wie ein Akt der Gewalt als Antwort auf das satirische Porträt des Propheten Mohammed auf der Titelseite der neusten Ausgabe. Als der Titel am Vortag publik wurde, war denen, die ein wenig Sensibilität gegenüber den Befindlichkeiten der islamistischen Szene und Kenntnis von der Engstirnigkeit ihrer extremen Anhänger haben, klar: Es wird Reaktionen geben. Und sie werden vermutlich mit Gewalt einhergehen.

Ob die Form der Auseinandersetzung von „Charlie Hebdo“ mit dem Wahlsieg der Islamisten-Partei Nahda in Tunesien und der Absichtserklärung des libyschen Übergangspremiers Mustafa Abdel Jalil, mehr Scharia-Elemente in der künftigen libyschen Rechtsprechung zu berücksichtigen, eine besonders intelligente war, sei dahingestellt. Unsere Pressefreiheit besagt schließlich nicht, dass nur kluge Meinungsäußerungen erlaubt sind. Und Satire umfasst erfahrungsgemäß ein sehr breites Spektrum zwischen „Dumm wie Bohnenstroh“ und intelligentem Witz. Egal für wie dumm man die Idee der Ausgabe „Charia hebdo“ hält, einen Brandanschlag auf die Redaktion rechtfertigt sie nicht. In einer aufgeklärten Gesellschaft sollte erlaubt sein, auch Religion und religiöse Figuren zu persiflieren. Und zwar die aller Religionen.

Das wird allerdings umso heikler, je aufgeheizter das Klima in einer Gesellschaft gegenüber dieser Religion ist. Leider herrscht in diesen Tagen nicht nur in Frankreich, auch in Deutschland, Islamophobie. Die Reaktionen in der französischen Presse aber auch unter einigen Politikern nach dem Wahlsieg der tunesischen Islamisten muss man teilweise als hysterisch bezeichnen. Da war sofort die Rede vom Ende der Frauenrechte, ja gar vom Ende der Demokratie! Dabei hatte die Nahda-Partei gerade bei als sehr demokratisch-korrekt bewerteten Wahlen eine Mehrheit errungen.

Warum diese unbesonnenen Reaktionen? Politische Verbohrtheit? Dummheit? Oder nur Unkenntnis der politischen und gesellschaftlichen Realitäten eines Landes wie Tunesien? Die Gesellschaften in Tunesien, Ägypten und Libyen haben jahrzehntelang unter korrupten, selbstherrlichen und gesetzlosen Regimen gelitten. Die Menschen sehnen sich nach Recht und Ordnung. In diesem Kontext haben die so genannten „gemäßigten Islamisten“ die Aura konservativer Saubermänner, denen man am ehesten zutraut, nicht persönlichen Profit zu suchen und das Land zumindest einem Rechtsstaat nahe zu bringen. Die Tunesier haben sich mehrheitlich entschieden, Nahda eine Chance zu geben. Soll die Partei nun Flagge zeigen und man wird sehen, ob die Erwartungen der Wähler erfüllt werden oder ob die Islamisten sich abwirtschaften und dann hoffentlich abgewählt werden. Natürlich kann das schief gehen. Aber es ist vielleicht auch die einzige Chance, islamischem Extremismus das Wasser abzugraben.

Ähnliches gilt für den Fall Libyen. Dort wurde schließlich nicht das Scharia-Recht als einzig geltendes eingeführt. Mustafa Abdel Jalil erklärte Berichten zufolge lediglich in Benghazi: „Wir sind ein islamischer Staat“ und versprach die Gesetze zu ändern, die dem islamischen Recht widersprächen. So hat man sich das im Westen vielleicht nicht vorgestellt, als man die Nato-Flugzeuge de facto zum Sturz Gaddafis in den Einsatz schickte. Tatsache ist aber, dass die meisten Staaten mit muslimischer Mehrheit zumindest Elemente der Scharia in ihrer Rechtsprechung berücksichtigen. In manchen betrifft das nur persönliche Rechte, in anderen ist die Scharia eine Quelle der Gesetzgebung neben anderen. Oder sie ist die wichtigste Quelle der Gesetzgebung. Oder wir haben es gar mit Scharia-Recht zu tun, wie in Saudi-Arabien oder Iran.

Aber dass das Rechtssystem, das sich ein Staat gibt, von den religiösen Werten der Mehrheit der Bürger inspiriert ist, ist doch nicht ungewöhnlich. Das ist auch bei uns so, obwohl wir uns auf eine strikte Trennung von Kirche und Staat berufen. Denken wir zum Beispiel daran, wie schwer wir uns mit der Gleichberechtigung schwuler oder lesbischer Paare tun. Wichtig ist, dass die Rechte von Minderheiten geschützt werden. Und dass das Prinzip der Gleichberechtigung – auch der von Männern und Frauen – respektiert wird. Das Selbstbestimmungsrecht gehört ebenfalls in diesen Katalog. In diesem Sinne täten wir gut daran, den Ausgang freier, demokratischer Wahlen zu respektieren und abzuwarten, welche neue Lebensrealität die Tunesier, Ägypter und Libyer für sich gestalten möchten. Steigen wir von unserem hohen Ross herunter, hören wir auf uns als neue „Besserwessis“ zu gebärden, die glauben, sie wüssten, was für diese Menschen gut ist.

Einen Anschlag auf unser hohes Gut der Pressefreiheit wie den auf „Charlie Hebdo“ dürfen wir nicht akzeptieren. Aber wir sollten auch nicht wortlos zusehen, wie einige Politiker und Journalisten aber auch ganz normale Bürger ihn als Anlass für einen neuen Kreuzzug gegen den Islam missbrauchen.

 

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Ich lebe im Eruv

 

Religion ist schon eine kuriose Sache. Ich beispielsweise bin (trotz 9 Jahren auf einer Klosterschule) eher unreligiös, wohne aber in einer für gläubige Juden ausgesprochen wichtigen Gegend: Mitten in einem Eruv (eine Art Sabbath-Erlaubniszone, erkläre ich gleich).

Leser, die wissen, dass ich an dem Stück Sand wohne, das auch als “Australia’s most famous beach” vermarktet wird, mögen sich wundern: Das lasterhafte Strandparadies voller Bars, Cafés, unkosherer Tattoos und Bikinis – eine Glaubensoase? Ja, beides stimmt: Ich lebe am Bondi Beach und mitten in einem Eruv. Okay, okay, ich erklär’s:

Ein Eruv ist eine Zone, in der jüdische Mitbürger auch am Sabbath Dinge tun dürfen, die an dem Tag sonst nur in ihrem Heim erlaubt sind: Etwa Dinge (oder Babys) tragen, oder Dinge (oder Babys) bewegen, zb im Kinderwagen. Da der Sabbath unpraktischerweise meist auf den Samstag fällt, ist vor allem die Nichtbewegen-Regel lästig. Schon blöd: am freien Tag drinnen zu hocken weil man nicht mit Baby oder Rollstuhlfahrer in den Park darf. Clevere Rabbis haben daher weltweit überlegt: Wir machen die “Zuhause-Zone” einfach größer! Und sie haben herausgefunden, dass das talmud-technisch völlig in Ordnung ist, solange das “Zuhause” nur von genug festen Pfählen und Zäunen, Parkplatzmauern, Golfplatznetzen, Telegraphenmasten und -kabelsalat begrenzt wird. (Mal ehrlich: Gott muss sich da oben auf die Schenkel klopfen, oder…?).

Rund um Bondi (Foto oben, das Seil über dem Surfer) und Tamarama (Foto ganz oben) und Dover Heights sind daher all die ohnehin vorhandenen “baulichen Merkmale” eines Heims (wie Golfplatzzäune und Promenadengeländer) zu einer Erlaubnisgegend verbunden worden, viele Quadratkilometer groß, verknotet mit Kabeln und Drähten: Fertig ist der Eruv!

Den meisten Leuten fallen die kaum auf, aber für einige heißen sie: „Easy, alles wie Zuhause, Kinderwagen schieben erlaubt!“

Religion ist eine irre Sache, aber das erwähnte ich ja schon.

 

 

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Fastenfeste

 

Der Ramadan kommt. Bald. Die Askese im islamischen Fastenmonat kündigt sich mit einem Frontalangriff auf alle Sinne an: Restaurants werben jetzt schon mit besonders günstigen Menüs zum Fastenbrechen, Moscheelautsprecher scheppern religiöse Popmusik in den Äther und riesige Plakate preisen die diesjährigen Ramadan-Seifenopern im Fernsehen an. Vor allem Essen wird in diesen Wochen zu einem der wichtigsten Gesprächsthemen der Indonesier genauso wie die Lebensmittelpreise, die wie in jedem Jahr schwindelerregend ansteigen.

Ähnlich wie bei uns an Weihnachten beschleicht einen das Gefühl, dass die Vorbereitungen für die Fastenzeit (oder besser Festzeit?) jedes Jahr ein bisschen früher anfangen und ein bisschen kommerzieller werden. Dazu muss man wissen, dass das Idul-Fitri-Fest am Ende des Ramadan für die Indonesier der wichtigste Feiertag des Jahres ist – anders als in anderen islamischen Ländern, in denen das Opferfest Idul Adha am größten gefeiert wird. Noch bevor das Fasten überhaupt beginnt, sind alle Einkaufszentren mit Ramadan-Dekor geschmückt, ergeht sich die Werbung in Tipps für die beste, feierlichste, gesündeste Art des Fastenbrechens und der Nachwuchs lernt in der Schule oder im Kindergarten die passenden Gebete und Lieder dazu. Mit asketischer Zurückhaltung und religiöser Selbstfindung hat das Ganze meist so wenig zu tun wie die Adventszeit in Deutschland.

Wer dem zu erwarteten Rummel an Idul Fitri entkommen will, sollte früh buchen: Zug- und Flugtickets zu Beginn der landesweiten Ferien am Ende des Ramadan sind einen Monat vorher schon unerschwinglich bis ausverkauft. Wenn die eine Hälfte der 240 Millionen Indonesier (nämlich die Stadtbevölkerung) die andere Hälfte in ihren Heimatregionen besuchen will, bleibt nicht mehr viel Platz – sei es in Bussen, Zügen, Flugzeugen oder Fähren. Wer kein Ticket ergattert, packt seine Lieben ins Auto und drängelt sich oft tagelang über völlig verstopfte Landstraßen bis ins Heimatdorf – nicht selten in einem gemieteten Vehikel, damit die Familie daheim beeindruckt ist vom Erfolg der Fortgezogenen. Dazu gehören natürlich jede Menge Geschenke und natürlich die entsprechende Festtagskleidung.

Um dies alles finanzieren zu können, stürzen sich viele Indonesier im Fastenmonat in immense Unkosten. In keiner anderen Jahreszeit wird so viel eingebrochen, gestohlen und geschmiert. Selbst die Wahrscheinlichkeit, auf der Straße in eine Verkehrskontrolle zu geraten, steigt enorm, je näher Idul Fitri rückt: Auch Polizisten wollen feiern.

Angesichts all dieser Obstakel ist der beste Weg, den Ramadan zu begehen, daher tatsächlich, zu Hause zu bleiben, den Fernseher auszuschalten und: zu fasten. 

 

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Wenn Straßennamen Geschichten erzählen

 

Wenn ich aus dem Norden Manhattans komme und auf die Brooklyn Bridge einbiege, fällt mir jedes Mal eine kleine Gedenktafel ins Auge: „Ari Halberstam Memorial Ramp“. Seit Jahren frage ich mich, wie es kommt, dass ein zirka 30 Meter langer, schlaglochgespickter Zubringer überhaupt nach jemandem benannt wird und wer Ari Halberstam war, dass ihm das passieren musste.

Amerikaner haben ein emotionales Verhältnis zu Straßen und Brücken – vermutlich ein Erbe der Pionierzeit, als es eine Leistung an sich war, sich einen Weg zu bahnen. Einen entsprechend hohen Stellenwert haben ihre Namen. Es ist eine hohe Auszeichnung für jeden Amerikaner, wenn irgendwo ein Straßenabschnitt nach ihm oder nach ihr benannt wird. Anders als in Deutschland ist das auch erlaubt, wenn der Ehrenbürger noch lebt. In New York wird mit großem Eifer von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.

Nicht immer verläuft dies konfliktfrei, vor allem dann nicht, wenn Traditionsnamen zu Gunsten einer Berühmtheit geopfert werden, wie bei der Triboro Bridge. Dieses Konglomerat aus drei Brücken, die Manhattan, Queens und die Bronx verbinden, wurde 2008 in Robert-F.-Kennedy Bridge umbenannt, nach dem Bruder des Präsidenten John F. Kennedy, der 1968 ermordet wurde. Da RFK als Senator den Staat New York vertreten hatte, soll die Brückenwidmung zum 40. Todestag ein ausdrücklicher Wunsch der Kennedy-Familie gewesen sein. Doch bis heute weisen noch immer viele Straßenschilder in Richtung „Triboro“, und der Mann auf der Straße kann eine RFK-Bridge so wenig lokalisieren, dass die Brücke im Verkehrsfunk umständlich als „RFK-Triboro-Bridge“ bezeichnet wird. Dass seit ein paar Monaten auch die Queensboro Bridge offiziell nach einem Prominenten heißt, nämlich dem 86jährigen früheren New Yorker Bürgermeister Edward „Ed“ Koch, ist ins kollektive Gedächtnis überhaupt noch nicht vorgedrungen.

Wer nicht so eine gute Lobby hat wie Kennedy und Koch, muss sich auf ruppige Sitten einstellen. Das erfuhr in diesem Frühjahr Emelia Kazimiroff, eine 95jährige Witwe aus der Bronx. 1981 war zu Ehren ihres Gatten ein Abschnitt des Southern Boulevard in „Dr. Theodore Kazimiroff Boulevard“ umgetauft worden. Immerhin handelte es sich bei Dr. Kazimiroff um einen Amateurhistoriker und mutigen Zahnarzt, der einen Löwen im Bronx Zoo von einem vereiterten Zahn befreit haben soll, ohne zu Schaden zu kommen. Mit seiner Straße hatte der Lokalpromi weniger Glück. Die für ihre Sturheit bekannte US Post soll sich jahrelang geweigert haben, die schwierige Adresse zu akzeptieren. Zur Verwirrung ortsunkundiger Besucher gibt es zudem, etwas außerhalb, einen Kazimiroff Boulevard, an dem sich der Botanische Garten befindet. Kurz und gut – nach 30 Jahren entschied die Stadt New York, Dr. Kazimiroff seinen Straßennamen zu entziehen und den Abschnitt wieder in Southern Boulevard rückzubenennen. Sie hatte nicht mit der streitbaren Witwe gerechnet, die das Votum als „Schlag ins Gesicht“ empfand und umgehend die New York Times verständigte. Dem Weltblatt war der Vorgang einen vierspaltigen Aufmacher im Lokalteil wert, samt Fotos des Verblichenen und seiner Witwe. Das scheint gewirkt zu haben – jedenfalls ist die Straße bei Google Maps heute immer noch zu finden.

So erzählen Straßenschilder lustige Geschichten – und tragische. Für diesen Blog habe ich endlich nachgeschaut, welche Bewandnis es mit Ari Halberstam und seinem Zubringer hat. Halberstam war ein 16jähriger Talmud-Schüler aus Brooklyn, dessen Familie mit dem charismatischen und umstrittenen Rabbi von Lubawitsch, Menachem Mendel Schneerson, befreundet war. Am 1. März 1994 besuchte der Teenager den kranken Rabbi in einem Manhattaner Krankenhaus und wollte danach zurück nach Brooklyn. Beim Einbiegen auf die Brooklyn Bridge eröffnete ein arabischer Extremist das Feuer auf den Wagen, in dem neben Halberstam weitere junge Männer saßen. Halberstam wurde in den Kopf getroffen und starb fünf Tage später. Seine Familie kämpfte jahrelang darum, dass der Anschlag als Akt des Terrorismus anerkannt wurde, was ihr schließlich gelang. Künftig werde ich mich, wenn ich an dem Schild vorbeifahre, ein bisschen dafür schämen, dass ich seinen Zubringer so lange nur für eine Kuriosität gehalten habe. 

 

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Interreligiöse Perspektiven

 

„Selamat Natal – Frohe Weihnachten und Friede und Wohlstand für uns alle“ – diese Wünsche schickten mir in vielfacher Form Freunde aus Indonesien ins kalte Deutschland. Nicht etwa Christen, sondern vor allem muslimische Bekannte bedachten uns mit Rundmails und individuellen SMS.

Indonesien ist das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt und ja: Es findet eine schleichende Islamisierung statt, die allen anderen Religionsanhängern in dem Vielvölkerstaat unheimlich ist. Dennoch ist Indonesien immer noch ein säkularer Staat, in dem die wichtigsten Feiertage der großen, anerkannten Religionen zugleich nationale Feiertage sind. So bleiben Schulen und Behörden nicht nur am muslimischen Opferfest und an Weihnachten geschlossen, sondern auch am buddhistischen oder hinduistischen Neujahrsfest.

Das ist mehr religiöse Toleranz als wir zum Beispiel in Deutschland zeigen: Der Anteil der muslimischen Bevölkerung bei uns ist größer als der von Buddhisten und Hindus in Indonesien. Dennoch wünscht hier kaum ein Nicht-Muslim alles Gute zum Idul-Fitri-Fest am Ende des Ramadan, geschweige denn bekommen die muslimischen Bürger für ihre religiösen Feierlichkeiten frei.

In dieser angeblichen Zeit der Besinnung sollten wir einmal mehr über unseren Tellerrand und die geballte westliche Angst vor dem Islam hinausschauen und erkennen, dass es auch im anderen Teil der Welt tolerante und offene Menschen gibt, an denen wir uns ein Beispiel nehmen können.

 

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Sommer ade!

 

 

In Israel hat der Winter begonnen. Das Thermometer zeigt tagsüber in Tel Aviv zwar noch immer 30 Grad an und 27 Grad in der Nacht, aber formal ist hier jetzt Winter. Auf Wunsch der religiösen Parteien im Lande wurde wenige Tage vor dem Versöhnungsfest Jom Kippur der Sommer offiziell beendet. In der Nacht vom 11. zum 12. sind die Uhren eine Stunde zurückgestellt worden. Die Winterzeit soll den religiösen Juden helfen, die Stunden des Fastens am Jom Kippur leichter zu ertragen, da sie eine Stunde länger schlafen und später in die Synagoge gehen dürfen. Überall auf der Welt, von Kuba bis zum Libanon beginnt die Winterzeit frühestens Ende Oktober. In Israel aber haben sich vor fünf Jahren die ultra-orthodoxen und religiösen Abgeordneten in der Knesset mit ihrem Wunsch nach einem subjektiv kürzer empfundenen Fasten durchgesetzt.

Die an der jetzigen Regierungskoalition beteiligten religiösen Kräfte bemühen sich mit Nachdruck und Erfolg, die jüdische Identität des Staates Israel beständig zu schärfen und Staat und Religion immer enger mit einander zu verflechten. Innenminister Eli Yishai von der ultra-orthodoxen Shas-Partei hat in dieser Woche seine Verwaltung angewiesen, die Webseite des Ministeriums so umzugestalten, dass Online-Bezahlungen für Ausweise, Pässe und  Arbeitserlaubnisse nicht länger am Shabbat und während der jüdischen Feiertage ausgeführt werden können. Der ebenfalls ultra-orthodoxe Gesundheitsminister Yaakov Litzman von der Partei Vereinigtes Thora-Judentum hat inzwischen bekannt gegeben, dass er sich der Entscheidung seines Kollegen vom Innenministerium anschließen will. Die Online-Überweisungen auf Regierungs-Webseiten, die am Shabbat und an Feiertagen getätigt werden, machen glatte 3,2 Prozent des gesamten Online-Zahlungsverkehrs auf den ministeriellen Seiten aus.

Was für ein Segen, dass sich wenigstens die religiösen Mitglieder der Regierung Netanjahu während der „Friedensgespräche“ mit Palästinenserpräsident Abbas um die wesentlichen Belange des Landes kümmern!

 

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»Der Islam ist beendet!« – Sarrazin und Schlingensief

 

Die Sarrazin-Debatte ist in full swing. Es ist weder möglich, noch nötig, dem Ganzen einen Aspekt hinzuzufügen. Die Debatte ist da, wenn ich morgens das Radio anschalte, sie ist immer noch da, wenn ich am Nachmittag zur Zeitung greife, und sie hat nicht aufgehört, wenn ich abends in die Röhre gucke, sollte das mal vorkommen.

Ich bin mir nicht sicher, ob Sarrazin ein Rassist ist. Ich halte ihn für einen Demagogen mit faschistoiden Gedankenansätzen. Oder wie soll man es sonst nennen, wenn ganze Bevölkerungsgruppen – unabhängig von dem, was der oder die Einzelne tut oder lässt – in die Tonne getreten werden?

Das Gute an der Debatte: Die politische und mediale Öffentlichkeit weist, quer durch alle Weltanschauungen, Sarrazins Sündenbockthesen entschieden zurück. Das hat was mit dem Immunsystem einer Gesellschaft zu tun und stimmt leicht optimistisch, vielleicht sind wir Brandstiftern ja gar nicht hilflos ausgeliefert. Die wenigen namhaften Befürworter, die ihm zur Seite springen, verteidigen ihn ähnlich schrill.

Dennoch wird das Phänomen Sarrazin nicht mehr verschwinden. Die Debatte findet in jenem Schatten statt, den zukünftige Verteilungskämpfe bereits jetzt auf uns werfen. Oder besser formuliert:

»Es werden ganze Klassen, Schichten und Weltanschauungen ausgesondert und abgewertet: Die Muslime. Die 68er. Die Arbeitslosen. Die armen Familien. Die Alleinerziehenden. Man hackt mit ein paar Phrasen unterhalb, seitlich und über der vom Abstieg bedrohten Mittelschicht die nicht genehmen Gruppen weg. Übrig bleibt letztlich der spiessige Kleinbürger voller Angst, man könnte ihm auch seinen kleinen Status wegnehmen und zu solchen Gruppen rechnen. Gruppen des sozialen Prestigeverlustes, Gruppen, vor denen er sich fürchtet, weil sie nicht seiner und der Herrschenden Norm entsprechen. Gruppen, mit denen man den Mittelstand dazu bringt, die Herrschaft der Spalter von Oben zu lieben.«

Den kompletten Text von Don Alphonso aus seinem F.A.Z.-Blog »Stützen der Gesellschaft« gibt es hier! Er schrieb ihn, mit ausdrücklichem Bezug zu Sarrazin, bereits vor fast einem Jahr.

Den besten Kommentar zur Debatte hat, wie ich finde, Christoph Schlingensief gegeben, zweieinhalb Monate vor seinem Tod und fast drei Monate vor dem Eintreffen des aktuellen Debatten-Tsunamis. Sarrazins Phantasien, konsequenter und absurder als bei Sarrazin selber, so gespenstisch, verstörend, beklemmend, wie das nur Kunst hinkriegt. Zu Schlingensiefs kurzem Video hier entlang!

 

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Allah macht hart

 

Das »journalistische Desaster«, wie Jörg Lau von der ZEIT es in einem Gastvortrag nannte, begann am 5. Juni und nahm in den Wochen danach seinen ungebremsten Lauf. Es ist einer jener Wahrnehmungsunfälle, die im Stimmengewirr unserer postmodernen Medienwelt inzwischen leider all zu oft die Normalität sind. Den Anfang macht eine kurze, zweiseitige Zusammenfassung einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). Ihr widmen sich an jenem 5. Juni zuerst die Süddeutsche Zeitung und dann die Nachrichtenagenturen.

In der KFN-Studie geht es auch und unter anderem um den Zusammenhang zwischen der Religiosität junger Muslime in Deutschland und ihrer Bereitschaft zu Gewalt. Die zweiseitige Zusammenfassung behauptet: »Für junge Muslime geht … die zunehmende Bindung an ihre Religion mit einem Anstieg der Gewalt einher.«

Wenn das keine Schlagzeile ist! »Die Faust zum Gebet«, überschreibt die Süddeutsche Zeitung ihren Beitrag, gefolgt vom Chor anderer Boulevard- und Qualitätszeitungen: »Allah macht hart«, »Jung, muslimisch, brutal«, »Junge Muslime, je gläubiger, desto brutaler« usw. usf. Im Artikel der Süddeutschen behauptet Christian Pfeiffer, Direktor des KFN, zwischen muslimischer Religiosität und Gewaltbereitschaft gebe es einen »signifikanten Zusammenhang«.

Es ist das Verdienst von bildblog.de, den kompletten Text der Studie einfach mal ganz gelesen zu haben. Dort findet sich nämlich dieser »signifikante Zusammenhang« von muslimischer Religiosität und Gewalt gar nicht. Er ist allenfalls sehr klein, und die Studie begründet ihn mit allem möglichen, nur nicht mit Religion. Im Gegenteil: Sie belegt, »dass diese (leicht – J. S.) erhöhte Gewaltbereitschaft weitestgehend auf andere Belastungsfaktoren zurückzuführen ist.« Es sei, heißt es in der Studie weiter, »bei isla­mischen Jugendlichen von keinem unmittelbaren Zusammenhang … zwischen der Religiosität und der Gewaltdelinquenz auszugehen.«

Bildblog.de weist auf diesen Widerspruch am 13. Juni hin und lässt sich von Pfeiffer erklären, er sei falsch zitiert worden. Zu spät, die Schlagzeilenmaschine lief da bereits seit einer Woche rund, siehe oben. Schwer zu sagen, woran diese mediale Entgleisung nun genau lag, ob zum Beispiel Pfeiffer so sehr nach Publicity für sein Institut giert, dass es ihm »offenbar lieber ist, falsch zitiert zu werden als gar nicht« (Jörg Lau). Darüber kann nur spekuliert werden. Sicher ist: Die deutsche (Medien-) Öffentlichkeit scheint auf den Kurzschluss »junge Muslime gleich Gewalt« nur gewartet zu haben. Wer muss da schon ganze Studien lesen.

Soweit ich weiß, haben sich die meisten Blätter später nicht nur nicht korrigiert, sondern basteln auch weiterhin an diesem Stigma, noch Wochen danach, wie etwa der Wiesbadener Kurier oder Spiegel Online. Eine Ausnahme bildet die österreichische Zeitung Die Presse, die sich für den Beitrag »Gewissenloses Islam-Bashing« die Mühe macht, auch mal in den ersten Teil der KFN-Studie aus dem Jahre 2009 zu gucken. Dort werde belegt, dass muslimische Migranten gar nicht gewalttätiger seien als Migranten aus anderen Kulturkreisen.

Aber solch eine Schlagzeile wäre leider längst nicht so sexy wie »Gläubige Muslime sind deutlich gewaltbereiter«.

 

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Von wegen Meinungsfreiheit

 

Der Anfang Juli in Beirut verstorbene schiitische Großajatollah Mohammed Hussein Fadlallah hat uns über seinen Tod hinaus noch einige Lehren mit auf den Weg gegeben. Nicht zuletzt, dass es mit der Meinungsfreiheit auch im Westen nicht sehr weit her ist, wenn es um eine berühmte und umstrittene Figur wie Fadlallah geht. Zudem eine, welche die israelische, die amerikanische und die britische Regierung als „Erz-Terroristen“ gebrandmarkt haben.

Die amerikanisch-libanesische CNN-Nahost-Spezialistin Octavia Nasr hat ihr Tweet zu Fadlallahs Tod ihren Job gekostet. Die britische Botschafterin Francis Guy, die den Großajatollah in ihrem diplomatischen Blog aus Beirut würdigte, erhielt eine schroffe Rüge aus London. Ihr Blogeintrag wurde aus dem Netz verbannt. 

Nun kann man den beiden ausgezeichneten Nahostkennern keine Naivität vorwerfen. Vielleicht hätte Nasr nicht gerade einen Tweet mit 140 Zeichen-Begrenzung wählen sollen, um ihren Gefühlen über den Tod einer so komplexen Person wie Fadlallah Ausdruck zu verleihen. Dächte man auch nur einen kurzen Moment nach, könnte man darauf kommen, dass das nicht gut gehen kann. Andererseits wissen wir auch, wie hoch der Druck einiger großer Medienunternehmen auf ihre Mitarbeiter ist, vor allem im TV-Bereich, zu tweeten und zu bloggen. Bei manchen ist es schon Einstellungsvoraussetzung, hört man. Der Wahnsinn in dieser Welt hat viele Gesichter!

Beiden Äußerung zu Fadlallahs Tod ist eines gemein: Sie drückten Respekt für den verstorbenen schiitischen Großajatollah aus, der in vielen Medien weiterhin fälschlich als geistlicher Führer oder ehemaliger geistlicher Führer der Hisbollah beschrieben wird.  Das kann man sicher so nicht sagen, obwohl Fadlallah Sympathien und teilweise offene Unterstützung für einige politische Sichtweisen und Taten der Hisbollah geäußert hat und beide sicherlich den Kampf gegen Israel und eine feindliche Gesinnung gegenüber den USA teilten. Die einzig wirklich gut recherchierte Würdigung Fadlallahs, die ich gelesen habe, stand übrigens im US-Magazin Foreign Policy.

Octovia Nasr musste ihre 20jährige Karriere bei CNN beenden wegen des Satzes: Fadlallah ist einer der Hisbollah-Giganten, die ich sehr respektiere. Darauf erhielt sie sofort wütende Reaktionen, unter anderem vom Simon Wiesenthal Center in den USA, das sie aufforderte, sich sofort bei all jenen Hisbollah-Opfern zu entschuldigen, deren Angehörige ihre Trauer über den Tod des Hisbollah-Giganten nicht teilen könnten. Kurz darauf entschied CNN, dass Nasrs Glaubwürdigkeit kompromittiert war, obwohl sie sich entschuldigt hatte und ihren eigenen Tweet als Fehleinschätzung zurückgezogen hatte. So schnell kann eine Karriere zu Ende gehen. Das besorgniserregende daran ist – ganz egal ob man Octavia Nasrs Einschätzungen zum Nahen Osten teil oder nicht – dass sie für CNN unhaltbar wurde, obwohl ihre Vorgesetzten wussten, dass sie eine durchaus differenzierte Einstellung zu Fadlallah und zur Hisbollah hatte, die sie immerhin 20 Jahre lang über den Sender gebracht hatte.

Der Fall der britischen Botschafterin Francis Guy liegt ganz ähnlich – obwohl sie glücklicherweise nicht gleich aus Beirut abgezogen wurde und ich hoffe, das wird auch so bleiben. Denn sie gehört zu den großen Kennern der Region in der westlichen Botschafterclique hier, sie wohltuend ist ehrlich, aufrichtig und nicht immer so entsetzlich diplomatisch. Guy hatte in ihrem Blog geschrieben, der Tod des Ajatollahs habe den Libanon ärmer gemacht. „Wenn man ihn besuchte, konnte man sicher sein, eine ernsthafte und respektvolle Auseinandersetzung zu erleben und man wusste, dass man sich als bessere Person fühlen würde, wenn man ihn verließ. Das ist für mich der Effekt eines wirklichen religiösen Mannes, dass er einen tiefen Eindruck bei jedem hinterlässt, der ihn trifft, ganz egal welchen Glaubens diese Person ist.“ Ein Sprecher der israelischen Regierung schrie „Skandal“ und das britische Außenministerium wand sich in Schmerzen. Es sei eine persönliche Meinung gewesen, hieß es aus London, die nicht der Regierungseinschätzung entspreche. Während das Foreign Office Fadlallahs progressive Ansichten zu Frauenrechten und dem inter-religiösen Dialog begrüße, gebe es auch tiefe Meinungsverschiedenheiten, vor allem wegen seiner Befürwortung von Attacken gegen Israel. Guy schrieb einen Entschuldigungsblog, in dem sie ihre Äußerungen zu Fadlallah mutiger Weise nicht zurücknahm. Aber, in dem sie sich klar von jeder Form (sic!) des Terrorismus distanzierte und in dem sie bedauerte, dass sie möglicherweise die Gefühle einiger ihrer Leser verletzt habe. Das sei nicht ihre Absicht gewesen.

Was lernen wir daraus? Dass Meinungsfreiheit in unserer westlichen Welt bei manchen Themen ganz engen Grenzen unterworfen ist, selbst, wenn man sehr differenziert ist. Sympathie für einen umstrittenen Menschen, vor allem islamischen Glaubens, den Israel und die USA als Erz-Feind ausgemacht haben – sei das nun berechtigt oder unberechtigt – kann und darf man nicht ungestraft äußern. Solche Einschätzungen werden im Zweifelsfalle nicht einmal diskutiert. Wie im Falle Octavia Nasrs heißt es lieber gleich „Kopf ab“. Ob das der Kultur einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, von der ich weiterhin träume, dient, wage ich zu bezweifeln.  

 

 

 

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Porno, Peterpan und Jesus Christus

 

Stellen Sie sich vor, Ihr Laptop wird gestohlen. Nicht nur, dass all Ihre darauf gespeicherten Arbeitsdaten weg sind – nein, dummerweise finden sich dort auch noch ein paar ziemlich private Filmchen, die Sie beim Sex mit Ihrer Freundin zeigen. Und mit ihrer Ex-Freundin. Noch pikanter wird die Geschichte dadurch, dass Sie einer der erfolgreichsten Sänger in einem musikverrückten Land mit 240 Millionen Einwohnern sind. Und Ihre Freundin eine der bekanntesten Fernsehmoderatorinnen. Genauso wie die Ex-Freundin. Und ein paar Monate später tauchen diese Videos auf einmal bei Youtube auf…

Genau dies soll dem Leadsänger der indonesischen Popband Peterpan geschehen sein – der zugegebenermaßen auch ohne Privatvideo eine ziemlich sexy Erscheinung abgibt. Er jedoch, Künstlername Ariel, bestreitet genauso wie seine Liebschaften, dass sie auf den besagten Filmchen zu sehen seien. Deswegen lautete die offizielle Sprachregelung bislang „Personen, die Ariel etc. ähnlich sehen“. 

Kein Grund für die Moralapostel im Land, sich zurückzuhalten: Politiker islamischer Parteien wittern die Chance, zum ersten Mal ein umstrittenes Antipornographiegesetz in einem prominenten Fall anzuwenden und einige Bürgermeister haben bereits Auftrittsverbote für Peterpan in ihren Städten angekündigt. Eine ganz neue Wendung nahm der Fall, als vor einigen Tagen Kommunikationsminister Tifatul Sembiring von der islamischen PKS-Partei einen Vergleich mit Jesus Christus zog: Die Frage, ob Ariel und Co. oder nur ähnlich aussehende Doubles auf den Videos zu sehen seien, sei so ähnlich wie die Debatte zwischen Christen und Muslimen, ob Jesus selbst oder nur ein ähnlich aussehender Mann gekreuzigt worden sei. Immerhin hat der Minister es mit dieser Bemerkung geschafft, auch diejenigen Bürger und Intellektuellen aufzurütteln, die sich bislang nicht für die auf Tausenden von Handys kursierenden Sex-Filmchen interessiert hatten.

Die öffentliche Diskussion dreht sich nun vor allem darum, ob Minister Sembiring nicht trotz seines viel genutzten Twitter-Accounts etwas Nachhilfe in Kommunikation benötigt. Und ob Ariel Peterpan, der mittlerweile von der Polizei festgenommen wurde, im übertragenen Sinne gekreuzigt werden soll – sozusagen als Märtyrer im Sinne der Gegner des Antipornographiegesetzes. Und ob der ganze „Peterporn“-Skandal nicht vielleicht doch nur dazu dient, von einigen hochkarätigen Korruptionsskandalen abzulenken, in die nicht nur diverse, ach so moralische Politiker, sondern auch die Polizei selbst verwickelt sind…

 

 

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