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Global Climate Action: Statement von Novia Adventy Juran, 23, Umweltaktivistin aus Borneo

In der Vergangenheit hat die Welt meine Heimat Borneo in seiner Exotik gesehen und nannte sie die „Lunge der Erde“ – darin klingen all die Hoffnungen auf die Schönheit und Gnade Gottes mit. Doch dieses Borneo ist nicht mehr da, verändert, jetzt sprechen alle nun noch über das unglückliche Schicksal der Insel, die zerstört und ausgeplündert wird. Ich bin hier geboren und fühle mich verpflichtet, die Umwelt meiner Heimat zu erhalten und zu schützen. Daher engagiere ich mich beim Borneo Institut in der indonesischen Stadt Palangkaraya. Hier haben wir ein Forum eingerichtet, wo alle Ebenen der Gesellschaft in einen Dialog miteinander treten können. Wir versuchen, die Sensibilität der Menschen zu schärfen für (wirtschaftliche) Richtlinien, die Umweltschäden mitverursachen.

Die Hauptursache für die Umweltzerstörung auf Borneo sind der Ausbau von Ölpalmenplantagen und der Bergbau, die sich auch auf den Klimawandel auswirken. Wälder, in denen Flora und Fauna beheimatet sind, werden gerodet und durch Plantagen oder Minen ersetzt. Diese Situation ist kritisch und besorgniserregend. Fast alle Gebiete in Zentral-Borneo sind mittlerweile von Überschwemmungen, Erdrutschen und Flächenbränden bedroht. Diese gefährlichen Folgen der Umweltzerstörung sind weder ein Fluch Gottes noch eine Glaubensprüfung. Sie sind die Schuld von Menschen, die sich nicht um die Natur scheren. Dies ist eine logische Folge der Gier einer Handvoll Menschen, die Macht über andere Menschen ausüben und ihre eigenen Interessen über die der Gemeinschaft stellen.

Diese Situation verschärft sich, wenn der Staat sich nicht auf die Seite des Volkes. Statt ökologische Nachhaltigkeit zu verteidigen, schlagen und verfolgen Militär und Polizei Menschen, die sich für die Umwelt einsetzen. Selbst gewöhnliche Umweltaktivisten werden kriminalisiert und beschuldigt, Fortschritt und Entwicklung zu behindern. 2018 war ich selbst mit Provokationen von staatlichen Institutionen konfrontiert, die Gewohnheitsrechte der Einwohner kriminalisieren wollten. Solche Erfahrungen verleiten manchmal, gleichgültig zu werden. Doch meine Liebe und mein Respekt für dieses Land haben mich für einen harten Kampf geschmiedet.

Wir hoffen, dass Länder in Europa und insbesondere Deutschland – als Land, das sich um ökologische Nachhaltigkeit und Menschenrechte bemüht – weiterhin ein Klima der Demokratie schaffen. Ein Klima, das eine ökologische Perspektive vermittelt und die Umwelt und die gesamte Schöpfung schützt. Darüberhinaus hoffen wir auch auf eine Anerkennung und Unterstützung für die indigenen Völker, weil diese ausgezeichnete Umweltschützer sind: Sie sehen die Wälder als ihre „Mütter“ und den Schutz der Natur setzen sie gleich mit dem Schutz der Gebärmutter der Menschheit. Wir müssen von unseren Vorfahren lernen, wie wichtig der Schutz der Umwelt für die Erde ist, auf der wir leben. Ich hoffe, dass sie zum Vorbild für die jüngere Generation werden können, um die Umwelt weiter zu bewahren und ökologische Gerechtigkeit zu vermitteln.

 

 

 

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Das Privileg, für alle zu berichten

Der Axel-Corti-Preis ging dieses Jahr an Weltreporter Karim El-Gawhary. Bei seiner Dankesrede für den österreichischen Fernsehpreis der Erwachsenenbildung erinnerte der Nahost-Korrespondent daran, dass sich niemand aussucht, wo er geboren wird und welchen Pass er dadurch zufällig erhält. Die meisten Menschen auf dieser Welt können nicht hinreisen, wo sie wollen. Sie haben auch keinen freien Zugang zu unabhängigen Medien. Daher empfindet El-Gawhary es als „unheimlich großes Privileg öffentlich-rechtlich für Sie alle zu arbeiten, sozusagen Ihnen allen zu gehören“. Und ruft dazu auf, dass wir uns dieses Privileg von niemandem wegnehmen lassen sollten.

Link: https://www.facebook.com/weltreporter/videos/2439909616025424/

Mehr News, Geschichten und Anekdoten von den Weltreportern erfahren Sie in unserem monatlichen Newsletter 

 

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Ausgezeichnet – Das tolle Gefühl, einen Preis zu bekommen

Kerstin Zilm mit den anderen Preisträgern und RIAS-Kollegen in Berlin.

“Die Preisträger sollen keine Dankesrede halten. Das wird schnell zu langweilig. Ich werde Euch einfach ein paar Fragen stellen.” Ich war sehr froh, als Petra Gute, die Moderatorin der Preisverleihung mir das sagte.

Dankesreden sind Landminen. Nicht dass ich schon viele gehalten hätte, aber von jahrelanger Berichterstattung über die Oscars weiss ich, dass selbst die erfahrensten Redner vergessen, Menschen zu danken, ohne die sie niemals einen Preis erhalten hätten. Oder dass Musik angespielt wird, bevor sie es tun können.

Ein paar Fragen also, das sollte nicht schwierig sein.

Ich war bei der Verleihung der RIAS Medienpreise in Berlin, in genau dem Funkhaus, in dem alles, was echtes Radio angeht, für mich angefangen hat, mit einem Volontariat kurz nach dem Mauerfall. Aufregende Zeiten waren das für das ‘Radio In the American Sector’ und deshalb auch für mich. Bis dahin wollte ich Hitparaden DJ werden, beim Radio Platten auflegen und in Wunschsendungen mit Hörerinnen und Hörern reden. Kaum war ich einmal mit Mikrofon und Aufnahmegerät unterwegs in Berlin, wusste ich: was ich wirklich will, ist Reporterin werden.

“And the rest” – wie man so schön in meiner neuen Heimat sagt, “is history.”

Ausgezeichnet wurden an dem Abend JP Burgard aus dem ARD-Fernsehstudio in Washington DC, Lara Wiedeking vom ZDF in Washington DC, Arndt Peltner, freier Korrespondent und Radioshow-Moderator aus Oakland, Ainara Tiefenthäler und Shane O’Neill von der New York Times, und ich. Die ausgezeichneten Werke befassen sich mit Themen vom Verschwinden der Gletscher in Alaska bis zur Geschichte des Stacheldrahts und dessen Bedeutung für die US-Gesellschaft.

Ich bekam den Preis für eine Serie von Beiträgen darüber, wie sich die US-Gesellschaft mit der Präsidentschaft von Donald Trump geändert hat, und wie die Menschen in Kalifornien darauf reagieren.

Weltreporterin Zilm mit RIAS Berlin Geschäftsführer Erik Kirschbaum und Moderatorin Petra Gute

Nach einer leidenschaftlichen Rede des CBS-Reporters Bill Whitaker und einem Appell an alle Journalisten, alles daran zu setzen, akkurat und ehrlich über aktuelle Ereignisse zu berichten, war es endlich so weit. Die Preise wurden vergeben.

Ich überlegte, wie ich in das Gespräch mit der Moderatorin irgendwie einbauen kann, welche Bedeutung der RIAS für mich hat und auch dass die RIAS Berlin Kommission buchstäblich mein Leben veränderte.

Dank der Kommission war ich 1994 acht Wochen in den USA, bei Politikern, Universitäten, Fernseh- und Radiostationen. Dort entdeckte ich meine Faszination für das Land und die Menschen, die dort wohnen. Über mehrere Stationen bekam ich 2003 den Posten der ARD-Korrespondentin in Los Angeles. 1998 in Washington als Juniorkorrespondentin für das Deutschlandradio lernte ich einen netten Mann kennen. Mit dem bin ich inzwischen verheiratet. Das wäre alles nicht passiert ohne die RIAS Berlin Kommission! Und ich wäre sicher nicht ARD-Westküstenkorrespondentin geworden. Irgendwie wollte ich das alles unterbringen ohne eine Dankesrede zu halten.

Na endlich! Moderatorin Petra Gute und Kerstin Zilm

Ja, und dann stellte Petra Gute mir die erste Frage: “Was haben Sie gedacht, als Sie hörten, dass Sie den Preis bekommen?” Kurz dachte ich an all die diplomatischen Dinge, die ich sagen könnte/sollte. Aber es platzte ehrlich aus mir heraus:

“Na endlich!”

Seit zehn Jahren nämlich reiche ich Beiträge ein für den Preis. Ich hatte schon fast aufgegeben.

Zum Glück lachte der ganze Saal. Und irgendwie hab ich in den nächsten Antworten dann auch all die Sachen untergebracht, die ich auch noch sagen wollte.

 

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Kalifornien – Spitze des Trump-Widerstands

In der Nacht, in der Donald Trump über Hillary Clinton triumphierte, konnten viele Menschen nicht einschlafen.

Ich war so ein Mensch.

Auch die Sprecher des kalifornischen Kongresses waren lange wach. Senatssprecher Kevin de Léon und Kollege Anthony Rendon aus dem Abgeordnetenhaus telefonierten hin und her. Am Morgen gaben sie eine gemeinsame Erklärung heraus, die mich aufatmen ließ. Ehrlich gesagt, machte sie mich mal wieder richtig froh, in diesem Bundesstaat zu leben. Und diesmal nicht wegen des Wetters.

Sie schrieben:

“Heute morgen sind wir mit dem Gefühl aufgewacht, Fremde im eigenen Land zu sein. Denn gestern haben US-Bürger Ansichten über eine pluralistische und demokratische Gesellschaft ausgedrückt, die absolut unvereinbar mit den Werten der Kalifornier sind. … Wir sind stolzer als je zuvor, Kalifornier zu sein. Donald Trump mag die Wahl gewonnen haben, aber er hat unsere Werte nicht verändert. Wir werden den Widerstand gegen jeglichen Versuch, unser gesellschaftliches Gefüge oder unsere Verfassung zu zerstören, anführen. Kalifornien war nicht Teil dieses Landes als seine Geschichte begann, aber offenkundig sind wir heute der Wächter über seine Zukunft.”

Nur etwas mehr als 30 Prozent der kalifornischen Wähler hatten Donald Trump ihre Stimme gegeben. In Los Angeles waren es kaum mehr als zwanzig Prozent und in San Francisco sogar weniger als zehn Prozent.

Deshalb ist es nur folgerichtig, dass Kalifornien seit einem Jahr den Widerstand gegen die Politik von der anderen Seite des Landes anführt – in Sachen Immigrations-, Bildungs-, Gesundheits- und Klimapolitik. Kaliforniens Justizminister Xavier Becerra reichte mehrere Dutzend Klagen gegen Trump-Erlasse ein. Gouverneur Jerry Brown bezeichnete die Entscheidung von Präsident Trump, aus dem Pariser Klimaabkommen auszusteigen als “verrückt”. Er reist durch das ganze Land und die Welt um Klima-Allianzen zu schmieden. Trump poltert gegen die Kritik von der Westküste, revanchiert sich mit verbalen Tiefschlägen und Erlassen, die Kalifornien besonders negativ treffen. In einem Interview mit seinem Lieblingssender FOX sagte der US-Präsident Kalifornien sei “seit langem außer Kontrolle, wie man ja wisse”.

Kaliforniens Gouverneur beschäftigt sich glücklicherweise nicht lange mit Tiraden und Attacken aus Washington. Lieber schafft er Tatsachen im bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich stärksten US-Bundesstaat. Gerade tourt er durch Deutschland und Europa, um weitere Verbündete zu finden im Kampf gegen die Erderwärmung. Für nächstes Jahr lädt er die Welt zum Klima Aktions Gipfel nach San Francisco ein.

Es tut gut, buchstäblich auf der anderen Seite der USA zu leben. Nicht nur wegen des Wetters.

Mehr zum Widerstand aus Kalifornien in meiner Sendung für SWR2 Wissen

 

 

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Alternativer Nobelpreis statt “Alternative Facts”

Khadija Ismayilova (Foto: Right Livelihood Award)

Khadija Ismayilova (Foto: Right Livelihood Award)

Journalistenpreise gibt es viele, Nobelpreise wenige. Und dann gibt es da noch den Alternativen Nobelpreis des Schweden Jakob von Uexküll, offiziell heißt die Ehrung Right Livelihood Award. In diesem Jahr wird damit unter anderem eine Journalistin ausgezeichnet: Adija Ismayilova aus Aserbaidschan. Das hat auch mit Deutschland zu tun.

Ismayilova erhält die Auszeichnung „für ihren Mut und ihre Hartnäckigkeit, Korruption auf höchster Regierungsebene durch herausragenden investigativen Journalismus aufzudecken“, wie es seitens des Right Livelihood Awards heißt. “Ich nehme die Auszeichnung im Namen aller Journalisten und Verteidiger der Menschenrechte in meinem Land an, die trotz schwierigster Bedingungen unermüdlich weiterarbeiten”, lässt sich Ismayilova zitieren. Als Weltreporter wissen wir, es braucht mehr dieser Journalisten. Überall.

Laut Right Livelihood Award ist “Khadija Ismayilova ist die bedeutendste investigative Journalistin Aserbaidschans. In den vergangenen zehn Jahren hat ihre Berichterstattung den Umfang der korrupten und lukrativen Geschäfte der herrschenden Elite Aserbaidschans dokumentiert, in die auch Familienmitglieder von Präsident Aliyev involviert sind.

Sie hat Beweise für Korruption auf höchster Regierungsebene gefunden, die auch multinationale Unternehmen wie TeliaSonera betrafen. Ihre Recherchen und Dokumentationen zeigen auf, wie der Reichtum der Nation geplündert und ins Ausland geschleust wird. Mit dem Geld werden zum Beispiel europäische Politiker beeinflusst, wie der aktuelle Fall der CDU-Bundestagsabgeordneten und Vorsitzenden der Deutsch-Südkaukasischen Parlamentariergruppe Karin Strenz zeigt: Die Politikerin äußerte sich gegen hohe Zahlungen aserbaidschanischer Lobbyfirmen positiv über das Regime, lobte im Gegensatz zur OSZE-Beobachtermission die Wahlen 2010 und stimmte als einzige deutsche Abgeordnete im Europarat gegen eine Resolution zur Freilassung politischer Häftlinge in Aserbaidschan. Gegenüber dem Deutschlandfunk sagte Ismayilova: “Solche Leute ermöglichen es dem Regime, unsere Freiheit zu unterdrücken und uns ins Gefängnis zu bringen.“


Für die Veröffentlichung von Artikeln über staatliche Korruption wurde Ismayilova mit Schmutzkampagnen, Schikanen und Strafgeldern verfolgt. Trotz einer eineinhalb Jahre währenden Gefängnisstrafe hat Ismayilova sich nicht zum Schweigen bringen lassen und schreibt weiter. Ismayilova widmet sich auch der desaströsen Menschenrechtsbilanz in Aserbaidschan, schreibt über politische Gefangene und unterstützt deren Familien. Während die Regierung weiterhin Journalisten einschüchtert und verhaften lässt, bleibt Ismayilova standhaft und fordert in ihren Artikeln ein verantwortungsvolles Regierungshandeln in Aserbaidschan.”

 

 

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EUROPA UND DIE 20 GRANDEN

Ein Abend mit den Weltreportern in Hamburg am Freitag, 30. Juni 2017, 19 Uhr 

Putin, Erdogan, Merkel, Trump, Juncker und all die anderen Mächtigen an einem Tisch: Probleme gäbe es für die Staats- und Regierungschefs der G20-Staaten Anfang Juli genug zu lösen. Beispiele gefällig? Klimaschutz: Den hat der US-Präsident gerade aufgegeben. Ein Ende von Krieg und Chaos: Nicht nur Saudi-Arabien heizt die Lage global weiter auf. Der Kampf gegen Ungleichheit und Armut: Doch die Europäer wollen nur, dass die Armen bleiben, wo sie schon immer waren. Vor dem G20-Gipfel in Hamburg gibt es nichts als Fragezeichen.
Eine Woche vor dem Spitzentreffen laden deshalb die Korrespondenten des Netzwerks Weltreporter zu einer Runde Ausrufezeichen ein: Was denken die Menschen in Russland, der Türkei oder Ägypten über diese 20 Granden, um die sich die Welt vermeintlich dreht? Was sind in den G20-Staaten und darüberhinaus die wirklichen Probleme? Und wer führt künftig die freie Welt an: Macron? Xi Jinping? Oder etwa das Volk?
Kommen Sie und sprechen Sie mit uns: Wir laden Sie ein zu kurzen, knackigen Live-Berichten von Korrespondenten aus der ganze Welt, die (nicht nur) dort leben, wo die G20 regieren. Wir freuen uns auf eine spannende Diskussion mit Ihnen und eine Abstimmung zum Schluss.
Weltreporter.net ist das größte Netzwerk deutschsprachiger Auslandskorrespondenten und berichtet insgesamt aus 160 Ländern weltweit. www.weltreporter.net 
Europa und die 20 Granden
Freitag, 30. Juni, 19 Uhr
Thalia Nachtasyl
Alstertor 1
20095 Hamburg
Eintritt: 7 Euro
Karten bekommen Sie auf der Webseite des Thalia-Theaters

 

 

 

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Zygmunt Bauman ist tot, sein Wunsch noch nicht erfüllt

Der ältere, sehr ruhige sprechende, aber doch energische Herr, der mir vor etwas mehr als fünf Jahren in Breslau für eine gute Stunde zum Gespräch gegenübersaß, war mit Sicherheit einer der beeindruckendsten Interviewpartner, die ich je gehabt habe. Natürlich, weil er so klug war, aber nicht nur deshalb, sondern auch wegen seiner Milde und Nachdenklichkeit, wird mir Zygmunt Bauman und wird mir das Gespräch sicher auf ewig in Erinnerung bleiben. Dass die manchmal so vertrackte Autokorrektur des Computers aus seinem Nachnamen gerade Batman machen wollte, passt da. Die Künstlerin Shirin Neshat, die norwegische Königin – das sind zwei weitere Gesprächspartner, die lange nachwirkten.

Batman traf ich am Rande, schon wieder der dubiose Autokorrektur-Fehler. Also: Bauman traf ich während des Europäischen Kulturkongresses in Breslau 2011 (hier der Link zu seinem Abschlussvortrag). Ob Polen heute noch so eine Veranstaltung machen würde? Ich weiß es nicht. Baumans Wunsch von damals jedenfalls ist weiterhin aktuell: Zerschneiden wir den Gordischen Knoten, sagte er mir für das Interview in Die Welt:

“Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist ein gordischer Knoten. Er kann nicht gelockert werden. Wenn er zusammenbleibt, wird er nur fester. Wie Alexander der Große uns gelehrt hat, kann er nur durch Zerschlagen gelöst werden. Es ist ohne Frage sehr riskant, Palästina die Unabhängigkeit zu erlauben, denn das wird auf die eine oder andere Art zu einer neuen Front führen. Aber ich denke, das Risiko einer weiteren Verweigerung der Unabhängigkeit ist größer. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist geprägt von lebhafter Feindschaft, vom Unwillen, miteinander zu sprechen, Kompromisse einzugehen und so weiter. Wenn die aktuelle Situation beibehalten wird, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation.

Die Welt: Sie meinen, den Palästinensern Eigenständigkeit zuzusagen, würde den gordischen Knoten durchschlagen?

Zygmunt Bauman: Lasst es uns versuchen und den Palästinensern eine Stimme geben. Auch aus israelischer Sicht sollte es die bessere Lösung sein, denn zumindest haben die Palästinenser dann eine Wahl. Was sie dann machen, wird ihre Entscheidung als Staat sein. Sie werden dafür verantwortlich sein, was sie tun. Das sind sie jetzt nicht, denn sie sagen: ‘Wir sind besetzt, wir können nichts tun.’ Es geht hier nicht nur darum, palästinensische Wünsche zufriedenzustellen, sondern den Konflikt zu lösen. ”

Heute ist Zygmunt Bauman verstorben, der Konflikt aber dauert weiter an, ja, hat sich sogar verschärft. Auch seine Hoffnung für und seine Aufforderung an Europa, so richtig die Analyse natürlich ist, ist heute – Anfang 2017 – der Realisierung nicht näher gekommen:

“Der einzige Bereich, in dem Europa der Welt wirklich etwas bieten kann, ist die Kultur. Das meine ich in einem anthropologischen Sinne. Vielleicht sollte man besser von einer europäischen Zivilisation sprechen. Europa hat die schwere Kunst gelernt, jahrhundertealte Konflikte, Vorurteile und Feindschaften hinter sich zu lassen.”

Dieses Jahr, wo in Frankreich und in Deutschland gewählt wurde, auch nochmal Baumans Hinweis auf die zwei zentralen europäischen Akteure und ihre gemeinsame schreckliche Historie sowie positive Gegenwart:

“Europa kann dem Rest der Welt und vor allem dem Nahen Osten etwas bieten. Schauen Sie sich Frankreich und Deutschland an, heutzutage lieben diese Länder sich. Es ist also machbar und kein Wunder.”

Das ganze Interview erschien im September 2011 im Feuilleton von Die Welt und ist heut so lesenswert wie damals. Hier nochmal der Link zum Interview in Die Welt.

Noch ein letzter Ausschnitt, der ein wenig Vorlauf braucht und in dem Bauman so souverän mit möglichen Zuspitzungen von Journalistenkollegen umgeht, wie es häufiger sein sollte:

“Die Welt: Kürzlich haben Sie der polnischen Zeitung “Polityka” ein Interview gegeben, das auch in Deutschland Reaktionen hervorrief. Es geht vor allem um eine Passage. Da ich nur aus einer Übersetzung zitieren kann, korrigieren Sie mich bitte gegebenenfalls. Sie sagten, dass die von Israel erbaute Mauer …

Zygmunt Bauman: Da gab es eine Verzerrung. Ich wollte darauf hinaus, dass die Erinnerung an das Getto tief im jüdischen Bewusstsein ist. Ich überlegte, ob es den Regierenden in Israel in den Sinn gekommen wäre, eine Mauer zu bauen, wenn es dieses Trauma nicht gäbe. Immerhin haben Ihre Landsleute, die Deutschen, ihre Unannehmlichkeiten gelöst, indem sie eine Mauer gebaut haben und sich abgrenzten. Das Gleiche wurde von den Israelis mit der palästinensischen Mauer getan. Ich habe nicht impliziert, dass hinter der Mauer wie im Falle von Warschau Massenmord stattfindet. Die Israelis stellten fest: Hier sind Leute, mit denen wollen wir nicht kommunizieren, von denen wollen wir uns abgrenzen. Da kamen sie auf die Idee, eine Mauer zu bauen.

[…]

Die Welt: Günter Grass hat in einem Interview mit “Ha’aretz” kürzlich von sechs Millionen deutschen Kriegsgefangenen gesprochen, die in Russland ermordet worden seien. Das ist ihm zum Vorwurf gemacht worden.

Zygmunt Bauman: Ich habe davon gehört, aber das Gespräch nicht gelesen. Meine Worte sind verzerrt worden, also denke ich, da hat auch jemand seine Worte verzerrt. Solange ich es nicht von ihm gehört habe, möchte ich mich nicht dazu äußern. In jedem Fall stimmt es, dass der Krieg unglaublich unmenschlich ist. Das habe ich auch im Interview mit “Polityka” klargemacht, aber es ging dann leider unter: Ich bin besorgt über die moralische Verwüstung, die die Besetzung Palästinas bei den Israelis anrichtet, besonders bei Jüngeren, die direkt als Teil einer Besatzungsmacht geboren werden. Krieg ist für beide Seiten zerstörerisch, es gibt keine Sieger. Wer angefangen hat, ist eine andere Frage, aber sobald der Krieg einmal begonnen worden ist, gibt es auf beiden Seiten Opfer.

Die Welt: Eine solche Aussage heißt aber nicht, die Singularität des Holocaust infrage zu stellen?

Zygmunt Bauman: Nein. Der Holocaust war eine organisierte, bürokratische Operation mit klarem Zweck. Es waren keine spontanen Tötungen, es war organisiert und geschah über Jahre hinweg. Das Ziel war eines, das den Sowjets mit den deutschen Kriegsgefangenen nicht in den Sinn kam: die Vernichtung einer ganzen Nation und nicht nur des Militärs. Ich habe Günter Grass nicht gelesen, aber nehme nicht an, dass er eine Gleichsetzung im Sinn hatte. Vermutlich meinte er: ‘Ja, wir sind schuld am Holocaust, aber viele von uns sind auch ermordet worden’, und das stimmt. Es gibt bei einem Krieg nicht die Möglichkeit, dass eine Seite ohne Verluste bleibt. Deshalb muss Krieg ein für allemal beendet werden. Das ist genau das, was Europa dem Rest der Welt bieten kann.”

 

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Audio #2: Weltfremd oder inspirierend?

Naiv und weltfremd? Oder berührend und inspirierend? Seit drei Monaten ist unser Buch “Die Füchtlingsrevolution” im Handel. Kommentare, Lob und Kritik gab es seither reichlich, Reaktionen, die so spannend wie vielseitig waren. In unserem neuen Audio-Spezial hören Sie mehr dazu.

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Manche Zeitungen wie die FAZ haben unser Buch gleich zweimal rezensiert. Wir freuen uns auch darüber…

Viele Medien berichteten von den Lesungen, zu denen wir von Buchläden, Bibliotheken aber auch von vielen Schulen eingeladen wurden. Radiostationen rezensierten das Buch, zum Beispiel ‘B5 aktuell’, Deutschlandradio und  Bayern 2. Autorinnen und Autoren haben auf Lesungen in ganz Deutschland diskutiert, (hier ein Bericht von einer Lesung mit Philip Hedemann aus dem oberpfälzischen Pressath) und Fragen beantwortet.

Bei der offiziellen Buch-Vorstellung im taz-Café saß auch Ameena auf dem Podium, die junge Syrerin die Philip Hedemann auf ihrem Weg begleitete und die einen Prolog zu unserem Buch geschrieben hat. Im neuen Audio-Spezial 2 hören Sie Sie mehr darüber, wie das Leben der jungen Frau seither weiterging und lernen zwei ihrer Kinder kennen. Philip erzählt, warum Ameena unbedingt das Kanzleramt kennenlernen wollte. Und warum sie – trotz ihres Glücks darüber in Deutschland zu leben – während einer Lesung in Tränen ausbrach.

Angst auch nach 25 Jahren

Im Audio erfahren Sie, was Kerstin Zilms Interviewpartnerin Lidia Nunez empfand, als sie ihren Sohn nach 15 Jahren zum ersten Mal wieder umarmen konnte. Von einem anderen Weltende schaltet sich Bettina Rühl zu, sie läßt die Somalierin Haibo Abdirahman Muse zu Wort kommen, die schon 25 Jahre in einem kenianischen Flüchtlingslager lebt und trotzdem noch Angst hat.

Birgit Kaspar in Toulouse spricht  mit ihrer Interviewpartnerin Chantal Pulé, die ihr erzählt, ob sie nach all den Jahren in Paris, heute bereut aus dem Libaon geflohen zu sein.

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Birgit Kaspar und Marc Engelhardt lesen in Herne Foto: Claudia Korbik

Zu weit weg?

Herausgeber Marc Engelhardt erzählt im Audio #2 welche Inhalte auf Lesungen am häufigsten diskutiert werden und wie sehr viele deutsche Leser überrascht, das Fluchten auf der ganzen Welt passieren. Viele Gespräche nach den Lesungen drehen sich darum, was der Begriff ‘Revolution’ bedeuten soll. Marc Engelhard hat außer positivem Feedback natürlich auch kritische Meinungen gehört. Ein Leser wirft uns vor, als Auslandskorrespondenten zu weit entfernt von der deutschen Problematik zu sein. Marc Engelhardt: “Den Blick aus dem Ausland sehen wir eher als Qualität des Buches. Sicher kann man das kritisieren, ich glaube aber nicht, dass man das sollte. Wir sagen ja nicht, dass sich eine Lösung aus Südafrika oder anderen Ländern 1 zu 1 auf Deutschland übertragen lässt. Aber es hilft vielleicht, den Horizont zu erweitern und mit anderen Augen auf Situation in Deutschland zu blicken.”

Denn eines ist gewiss: Flucht wird als Phänomen zunehmen, Die Frage ist: wie gehen wir damit um.

In Lesbos bleiben die Tische leer

Lesbos: Die besten Tische bleiben leer.

Lesbos: Die Urlauber bleiben aus.

Im Audio #2 hören Sie auch von Alkyone Karamanolis, Weltreporterin in Athen, die sich gefragt hat: Wie geht es den Rettern heute? Fischer Konstantinos Pinderis, erzählt wie sich sein Leben auf der Insel Lesbos komplett verändert hat. Am idyllischen Hafen von Skala Sikamineas bleiben die Tische leer. Zwar landen dort keine Flüchtlingsscharen mehr wie 2015, doch die Touristen kommen ebenfalls nicht mehr. Sie scheinen ihre früheren Lieblingsinseln vergessen zu haben – zum Leid der Einheimischen, denen die Arbeit ausgeht.

Vergessen würden in meinem eigenen Berichtsgebiet Australien viele Politiker am liebsten die Situation der Flüchtlinge, die nach wie vor auf den Inseln Manus und in Nauru die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage erdulden. Menschen müssen dort seit Jahren als Abschreckung für künftige Boots-Migranten herhalten. Ich erzähle im Audio #2 darüber, wie schwer geschädigt die dort gestrandeten Männer, Frauen und Kinder durch die Inhaftierung sind, und dass ihre Zukunft trotz heftiger Proteste von Menschenrechtsorganisationen und anderen noch immer unklar ist.

img_9019Hören Sie rein, ich bin sicher, unser Audio Spezial # 2 macht Sie neugierig auf unser Buch Die Flüchtlingsrevolution, erschienen im August im Pantheon Verlag.

Auch wenn sie es bereits gelesen haben, erfahren Sie im Podcast einiges Neues. Zusammengestellt haben es die Weltreporter Kerstin Zilm, Leonie March, Randi Hauser und Sascha Zastiral.

 

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Darum höre ich vor 9 Uhr keine Nachrichten in den USA

Nur noch ein paar Stunden, dann wissen wir vermutlich, wer demnächst die USA regiert. Kalifornien entscheidet auch noch über 17 Themen per Volksabstimmung. Ich kann nach monatelanger Dauerbeschallung zum Thema Wahl keine Nachrichten mehr hören und schalte morgens erstmal weder Fernsehen noch Radio ein – seit einer Woche.  Mein Stück dazu für den Deutschlandfunk.

 

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WR Spezial – SoundCloud

soundcloud_slider2Recherchen zu unserem neuen Buch “Die Flüchtlingsrevolution” führten uns in südafrikanische Frisörsalons und kenianische Lager, in neuseländische Küchen und bosnische Wohnzimmer. Im ersten Weltreporter Spezial (zu hören via SoundCloud) erzählen wir, wie dieses Buch entstand und lassen einige Interviewpartner zu Wort kommen.

65 Millionen Menschen leben derzeit nicht in ihrer Heimat sondern sind unterwegs: zu Fuß und per Boot, per Bus und in Fliegern, auf Transitrouten, in Lagern, in provisorischen Unterkünften. Sie halten sich an Orten auf, die vielleicht eines Tages eine neue Heimat werden, oder vielleicht auch nicht. Sie fliehen vor Naturkatastrophen oder Armut, vor Gewalt oder Verfolgung, vor Unrecht oder Krieg.

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Lidia Nunez und Anwältin Yanci Montes

Über einige Dutzend dieser Menschen schreiben wir in unserem Buch “Die Flüchtlingsrevolution”, und einige von ihnen lernen Sie im neuen, 20-minütigen Audio Weltreporter Special kennen.
Wer sind diese Menschen? Welche Lebensgeschichten verbergen sich hinter der schwer vorstellbaren Zahl 65 000 000?

Wir sprechen mit einer Frau, die aus Beirut nach Frankreich floh, mit einer  Kongolesin, die in Südafrika landete, doch auch dort nicht sicher ist, mit Fischern in Lesbos und Landmigranten in chinesischen Metropolen.

Coco Bishogo Ruvinga, die vom Kongo nach Südafrika geflüchtet war, wurde in ihrem Friseursalon Opfer fremdenfeindlicher Gewalt

Coco Bishogo Ruvinga, die vom Kongo nach Südafrika geflüchtet war, wurde in ihrem Friseursalon Opfer fremdenfeindlicher Gewalt

Wir analysieren in unserem Buch Fakten und versuchen Hintergründe zu erklären, beschäftigen uns mit historischen Aspekten und erörtern, wie Politiker in verschiedenen Regionen auf diese Völkerwanderung reagieren. Um die enormen Dimensionen begreifbar zu machen, erzählen wir jedoch vor allem von persönlichen Schicksalen – Ein Versuch, dieser Revolution, die unsere Welt bewegt, Gesichter und Stimmen zu geben.

Kerstin Zilm und Lidia Nunez vor dem Gerichtsgebäude

Kerstin Zilm und Lidia Nunez vor dem Gerichtsgebäude

Im WR Spezial erfahren Sie auch: Wie ist die Idee zu diesem Buch entstanden? Wie ist uns gelungen, mit 26 Kollegen aus fünf Kontinenten und doppelt so vielen Zeitzonen ein Konzept zu erarbeiten, das mehr ist als eine Sammlung von Geschichten:  Ein ausgewähltes Portfolio individueller Texte, die zusammen ein höchst komplexes Bild ergeben; denn Flucht hat heute enorm viele Facetten.

Erleben Sie, wie das kenianische Dadaab klingt, was wir im Goethe-Institut in Yogjakarta erfahren haben und was wir auf dem Balkan, in Malaysia und Magdeburg aufnehmen konnten.

Zusammengestellt haben das Audio Spezial Kerstin Zilm in LA, Leonie March in Durban, Randi Häusler in Stockholm und Sascha Zastiral. Sascha Zastiral, der viele Jahre Weltreporter in Bangkok war und seit kurzem in London arbeitet, hat auch die Musik für diese Weltreporter Audio Reportage komponiert und aufgenommen. Dieser Link führt zur SoundCloud, auf der Sie das Spezial anhören können.

Töne, Berichte und Interview für den 20-minütigen Report lieferten außerdem Bettina Rühl (Nairobi), Birgit Kaspar (Toulouse), Christina Schott (Jakarta), Alkyone Karamanolis (Athen), Marc Engelhardt (Genf), Danja Antonovic (Belgrad).

Wenn Sie das Audio-Spezial neugierig gemacht hat:

Unser neues Buch “Die Flüchtlingsrevolution”, ein 350-seitiges Gemeinschaftswerk von 26 Weltreportern ist Ende August im Pantheon Verlag erschienen und sowohl als ebook wie broschiert (16,99 €) erhältlich.

 

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Nexit in Sicht?

Er sieht sich bereits als nächster Ministerpräsident der Niederlande. Um die Grenzen hermetisch zu schliessen, den Bau von Moscheen samt Koran zu verbieten und mit einem Referendum dafür zu sorgen, dass dem Brexit möglichst schnell ein Nexit folgt: Geert Wilders, 52 Jahre alt, erklärter Feind von Islam und Europa.

“Jetzt sind wir an der Reihe!” frohlockte der blondierte Populist nach dem Brexit.  Schon seit Jahren warnt Wilders ebenso unermüdlich wie erfolgreich vor einem Asyltsunami, schimpft über die Milliarden, die an Brüssel verschwendet werden, und plädiert auf einen Nexit.

Im europäischen Parlament hat er genügend Bündnispartner für eine eigene Fraktion gefunden. Im Sommer 2014 präsentierte er sie zusammen mit Marine LePen vom Front National erstmals den anderen Abgeordneten. Er sprach von einem neuen D-Day, “einem Befreiungstag für Europa – von Europa”.

Auf nationaler Ebene musste Wilders bei den letzten Wahlen ein paar Niederlagen einstecken. Aber dank sei Flüchtlings- und Europakrise liegt er in den Umfragen nun so weit vorne wie nie zuvor in seiner Karriere: Seine “Partei für die Freiheit” PVV könnte bei den nächsten Parlamentswahlen im März 2017 stärkste Fraktion werden und die Zahl ihrer Sitze fast verdreifachen auf 36 der insgesamt 150 Mandate.

Dabei ist sie innerlich zerissen und keine richtige Partei, denn sie hat nur ein einziges Mitglied: Wilders. In Deutschland würde die PVV nicht zu Wahlen zugelassen, die niederländischen Gesetze sind weniger streng. Auf diese Weise will Wilders die Kontrolle und alles fest im Griff behalten. Auf staatliche Zuschüsse muss er verzichten; wie sich die PVV finanziert, ist nicht transparent.

Aber selbst wenn Wilders 2017 tatsächlich der neue Ministerpräsident der Niederlande werden sollte: Von einem Nexit ist er weit entfernt. Zwar tendieren einer jüngsten Umfrage zufolge 48 % der Niederländer zu einem EU- Austritt. Aber dazu bräuchte Wilders eine Mehrheit im Parlament – und so weit will es bis auf seine PVV keine andere niederländische Partei kommen lassen.

 

 

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Weltreporter-Forum 2016 – hier ist das Programm!

Das Programm des Weltreporter-Forums 2016 in Raiding/Burgenland steht:

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Wir freuen uns mit unseren internationalen Gästen auf einen spannenden Sommer-Nachmittag auf dem Land. Und auf Sie!

 

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WELTREPORTER-FORUM
»Die Welt in Bewegung«
Samstag, 23. Juli in Raiding bei Wien

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Noch nie schien die Welt so instabil und aus den Fugen geraten wie jetzt – zumindest aus europäischer Sicht. Globalisierung, Terror, Kriege und blutige Konflikte. Migranten, Flüchtlinge und Finanzströme: Die Ratlosigkeit ist bei Wählern wie Politikern gleichermaßen groß.

Transparenz herzustellen und Zusammenhänge aufzuweisen gehört zu den Hauptaufgaben von Journalisten im Allgemeinen und Auslandskorrespondenten im Besonderen. Denn sie sind die Experten vor Ort, sie erleben die Wirklichkeit jenseits der Grenzen hautnah. Lösen lassen sich die Probleme der Welt an einem Nachmittag nicht. Aber gemeinsam einen Blick hinter die Kulissen werfen, das können wir:

Beim WELTREPORTER-FORUM am 23. Juli berichten die Weltreporter und ihre Gäste von dem, was in ihren Welten gerade in Bewegung ist.

WELTREPORTER-FORUM
»Welt in Bewegung«

Keynotes, Kurzvorträge im Pecha-Kucha-Format + eine Podiumsdiskussion

mit Alexandra Föderl-Schmid (Chefredakteurin Der Standard), Karim El Gawhary (Weltreporter + ORF-Korrespondent), Hasnain Kazim (Spiegel), Florian Klenk (Chefredakteur Falter), Wieland Schneider (stellv. Auslandschef Die Presse), Cornelia Vospernik (Moderatorin ORF), Autor & Bruno-Kreisky-Preisträger Najem Wali & Weltreportern von allen Kontinenten

Samstag, 23. Juli 2016
14:00 – 18.30 Uhr
Franz Liszt-Konzerthaus
A-7321 Raiding

Eintritt frei

ANFAHRT:

Für Interessenten steht ein Bus-Service von Wien nach Raiding zur Verfügung:

Abfahrt Wien am Karlsplatz am 23. Juli ist um 12:00  hinter dem Musikverein, Bösendorferstr. 12
Abfahrt Raiding zurück nach Wien um 20:00.
Kosten: 12 Euro

Anmeldung unter raiding@weltreporter.net

 

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Diese Dänin wird nicht UN-Flüchtlingskommissarin

Nein, sie wird es nicht – als Update zu meinem Blogeintrag kürzlich: Lange hat sie hoffen dürfen, aber Helle Thorning-Schmidt wird nicht UN-Flüchtlingskommissarin. Auch der Deutsche Achim Steiner geht leer aus. Die dänische Ministerpräsdentin und der Bürokrat unterlagen beide gegen den Italiener Filippo Grandi.

 

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Diese Dänin wird nicht UN-Flüchtlingskommissarin

Nein, sie wird es nicht – als Update zu meinem Blogeintrag kürzlich: Lange hat sie hoffen dürfen, aber Helle Thorning-Schmidt wird nicht UN-Flüchtlingskommissarin. Auch der Deutsche Achim Steiner geht leer aus. Die dänische Ministerpräsdentin und der Bürokrat unterlagen beide gegen den Italiener Filippo Grandi.

 

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Wird diese strenge Dänin die neue UN-Flüchtlingskommissarin?

Die damalige dänische Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt mit dem damaligen afghanischen Präsidenten Hamid Karzai in Kopenhagen am 2. Mai 2013 (Foto: Bomsdorf).

Eine internetaffine Überschrift für die dänische Selfie-Queen… Der UNHCR ist seit Monaten wieder einmal eine vielzitierte Institution, schließlich ist es jene UN-Einrichtung, die sich um die Flüchtlinge dieser Welt kümmert. Und die chronisch unterfinanziert ist, was mit zu den vielen syrischen Flüchtlingen beitrug wie Thomas Gutschker vor kurzem in der FAZ schrieb. Demnächst tritt der derzeitige UN Flüchtlingshochkommissar Antonio Guterres ab und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt wird hinter den Kulissen bereits ein Nachfolger gesucht.

Offizielle dänische Kandidatin ist die ehemalige dänische Premierministerin Helle Thorning-Schmidt. Wegen ihrer strammen Asylpolitik erscheint die auf den ersten Blick wenig geeignet. Doch gerade das könnte ihr helfen gegen den Deutschen Achim Steiner zu gewinnen, schrieb ich kürzlich in Das Parlament.

„Wir haben die Asylregeln drastisch verschärft, als die ersten in 12 Jahren,“ sagte Helle Thorning-Schmidt im diesjährigen dänischen Wahlkampf. Unter anderem wurde der Familiennachzug erschwert.

Zwar verlor sie die Wahl, wurde aber vor kurzem von ihrem Nachfolger im Amt des Premiers als Chefin des UNHCR nominiert. Aus Deutschland kandidiert Achim Steiner, derzeit Chef des UN-Umweltprogramms.

Die strenge dänische Asylpolitik, die nach Thorning-Schmidts Abwahl im Sommer von ihrem Nachfolger weiter verschärft wurde, passt kaum zum UNHCR. Schließlich will der die Rechte von Flüchtlingen sichern und dafür sorgen, dass diese Asyl beantragen und eine sichere neue Heimat finden können. Dänemark hingegen wird vorgeworfen, Probleme auf die Nachbarländer Deutschland und Schweden abzuwälzen. Es gilt deshalb als „Ungarn des Nordens“.

Doch die strikte Haltung könnte Thorning-Schmidts Vorteil werden. Denn die Politiker vieler Länder stehen der dänischen Position näher als der deutschen. Angesichts der zunehmenden Anzahl von Flüchtlingen, die weltweit Sicherheit und eine neue Heimat suchen, sehen sie sich und ihre Länder überfordert. Eine UNHCR-Chefin, die für eine restriktive Flüchtlingspolitik steht, wäre da – so widersprüchlich das auch klingen mag – womöglich gewünscht.

In ihrer Heimat allerdings regt sich Kritik daran, ausgerechnet Thorning-Schmidt zur Flüchtlingskommissarin zu machen. „Ernennt Steiner!“, überschrieb die linksalternative Zeitung Information einen Kommentar. Der deutsche Kandidat sei fachlich besser qualifiziert, hieß es. Und der Publizist Herbert Pundik kritisiert Thorning-Schmidts Asylpolitik als „kleinlich“. Angesichts dessen sei es jetzt allenfalls „opportunistisch“, wenn sie sich nun plötzlich für Flüchtlinge einsetzen werde.

 

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Parade Blue auf Befehl der Machthaber – Peking(er) und die Militärparade

Als ich heute früh mit unserem Hund unterwegs war, saßen in dem kleinen Park unserer Wohnanlage am Stadtrand von Peking ein halbes Dutzend alter Frauen, die sich lachend und gestikulierend unterhielten. Ein an sich typisches Bild, in den Grünanlagen der chinesischen Hauptstadt kommen morgens vor allem ältere Menschen zusammen, um ein Schwätzchen zu halten oder gemeinsam Tai Chi zu machen. Doch am heutigen Tag ist das Damenkränzchen im Freien etwas Besonderes.  In der Stadt sind öffentliche Parks geschlossen, manche dürfen erst nächste Woche wieder öffnen.

Es ist eine von vielen Einschränkungen, mit denen Pekings Bewohner dieser Tage zu Recht kommen müssen. Die Hauptstadt hat sich seit Wochen auf ein Ereignis vorbereitet, das weltweit live übertragen wird: Mit einer gewaltigen Militärparade zelebrierte die chinesische Regierung das Ende des Zweiten Weltkriegs in Asien vor 70 Jahren. Oder besser: Die Kapitulation des Erzfeindes  Japan. Vom Platz des Himmlischen Friedens aus rollten ab 10 Uhr vormittags die modernsten Waffen, die das Reich der Mitte aufzubieten hat, an den Tribünen der Ehrengäste und Veteranen vorbei. 12.000 Soldaten marschierten mit, der Himmel gehörte Kampfjets und Hubschraubern.

Eine pure Demonstration der Stärke und des Nationalismus, die in China auf allen Kanälen übertragen wurde. Bei der minutiösen Planung des Mega-Events wurde nichts dem Zufall überlassen: Damit das Säbelrasseln nicht durch den sonst üblichen Smog getrübt werden konnte, dürfen auf Pekings Straßen seit Tagen nur die Hälfte der Autos fahren, sind Hunderte Fabriken geschlossen.  Eine erfolgreiche Maßnahme, über der  Mega-Metropole scheint die Sonne ungetrübt von einem klaren blauen Himmel. Parade Blue nennen es die Pekinger, und atmen verwundert gute Luft ein.

Allerdings zwitschern deutlich weniger Vögel als sonst in den Bäumen – sie wurden durch abgerichtete Falken vertrieben, ihre Nester zerstört. Man fürchtete, die Piepmätze könnten eine  Gefahr für die Militärflieger darstellen. Damit diese tatsächlich ungehindert über die Köpfe der handverlesenen Zuschauer hinweg düsen konnten, brauchten Fluggäste heute viel Geduld. Die beiden Flughäfen der Hauptstadt waren vormittags geschlossen. Keiner kam rein, keiner kam raus.

Auch Schulen, Büros, Restaurants und Geschäfte sind heute und morgen geschlossen. Im Innenstadtbereich durften Anwohner in den letzten Tagen zum Teil ihre Häuser nach 20 Uhr abends nicht mehr verlassen. Ein geradezu surrealer Maßnahmenkatalog, damit die Parade ja wie am Schnürchen läuft. Die Furcht der Machthaber vor aufmüpfigen Protestlern oder gar einem Anschlag schien groß zu sein.

Im Westen findet die Parade, mit der Präsident Xi Jinping sich innenpolitisch Schulter an Schulter mit dem mächtigen Militär präsentiert, wenig Anklang. Man hätte sich ein anderes Gedenken an das Ende des Weltkrieges gewünscht, heißt es in diplomatischen Kreisen. Auf der Ehrentribüne saßen einige Staats- und Regierungschefs osteuropäischer Länder, angeführt von Russlands starkem Mann Vladimir Putin, selbst bekanntlich ein Freund solch militärischer Spektakel. Flankiert wurden sie von einigen asiatischen Machthabern, doch mehr als 30 Länderchefs haben die Parade nicht verfolgt. Viele asiatische Nachbarn werden seit Jahren von Chinas Gebaren im südchinesischen Meer unter Druck gesetzt, die Spannungen in der Region sind groß. Die USA, Taiwan und natürlich Japan beobachteten die pompöse Machtdemonstration sicher mit größtem Unbehagen.

Die Pekinger hingegen können dem ganzen Trara auch etwas Gutes abgewinnen. Obgleich ihnen der Alltag durch die Fahrverbote und andere Einschränkungen erschwert wurde, freuen sie sich über die gute Luft und den blauen Himmel. „Das ist ein ganz anderes Leben, es fühlt sich so leicht an“, sagte mir ein Taxifahrer vor einigen Tagen. „Ich habe mit vielen Kunden gesprochen. Wir waren alle der Meinung, dass es so bleiben sollte.“

Das wird es aber leider nicht. Wenn die Inszenierung vorbei ist, und es nicht mehr um Glanz und Gloria geht, dürfen die Fabrikschlote wieder dicke Abgaswolken in die Umwelt blasen und Millionen Autos die Straßen verstopfen.

Bis zum nächsten großen Ereignis, mit dem China die Welt beeindrucken möchte.

 

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Heimliche Hilfe für DDR-Gefangene aus Kalifornien

Ich habe Angela Thompson getroffen um mit ihr ein Interview über Dresden zu machen.
Genauer gesagt geht es darum, wie sie als Dreijährige mit Mutter, Großmutter und kleiner Schwester aus den Flammen flüchtete.
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Sie spricht darüber, wie sie in Bischofswerda ankamen und ein neues Leben aus dem Nichts aufbauten, wie sehr sie die Jungen Pioniere hasste und all den Zwang, der mit dem Leben in Ostdeutschland verbunden war. Dann kam die große Enttäuschung, als sie sich nach der Flucht in den Westen auch dort eingeengt fühlte und schließlich der Umzug in die DDR, immer verbunden mit der Sehnsucht nach Freiheit.
Fast nebenbei erzählt mir Angela, dass sie später in den 70 er Jahren zurück kam in die DDR und zwar jedes Jahr.
Sie hat dort Menschen geholfen, die wegen ihrer politischen Meinung, religiöser Überzeugungen oder kritischen Äußerungen unterdrückt wurden. “Ich wusste, dass das gefährlich war, aber ich konnte nicht anders,” sagt sie.

Wie bitte? Das MUSS sie mir genauer erzählen!

Angela Thompson hatte das dringende Bedürfnis, den Menschen in der DDR zu helfen.
Vor allem lag das daran, dass sie sich und ihre Eltern immer wieder gefragt hatte, warum niemand gegen Hitler aufgestanden war, warum niemand den Menschen geholfen hatte, die unter ihm unterdrückt wurden. Außerdem war sie sehr dankbar dafür, dass sie den Weg in die Freiheit gefunden hatte und ganz über ihr Leben bestimmen konnte.
“Plötzlich habe ich gewusst, dass ich doch von niemandem erwarten kann, dass sie etwas für Menschen in Schwierigkeiten tun, wenn ich selbst nicht den Menschen in der DDR helfe.”
Es begann mit dem Schmuggeln von Taschenrechnern, politischen Zeitschriften und Büchern für Verwandte und Freunde. Daraus wurde viel mehr. Angela Thompson fuhr mit dem Auto quer durch die USA nach Washington, um dort mit Senatoren und Vertreten des Außenministeriums über politische Gefangene zu sprechen. Die Abgeordneten versprachen, zu helfen. Sie telefonierte mit Präsidentschaftskandidat Ronald Reagan über einen besonders brisanten Fall. Auch er wurde aktiv.
Sie selbst übermittelte Informationen zwischen West und Ost, bog heimlich von der Transitstrecke ab, um sich mit Angehörigen der Gefangenen zu treffen.
Der Gefahr war sie sich immer bewusst. “Aber ich musste das einfach tun, weil das zum Menschsein dazu gehört.”

Sie erzählt mir das in ihrem licht durchfluteten Wohnzimmer. Im Regal hinterher viele deutsche Bücher, Reclamhefte und Schallplatten mit klassischer Musik. In Glasvitrinen Porzellan aus Meißen und Krippenfiguren aus dem Erzgebirge. Dazwischen eine Buddhafigur, Rosen aus dem Garten und moderne Kunst and den Wänden.
Man merkt die starke Verbindung zwischen ihr und der alten Heimat.
Niemals hätte ich geahnt, was sie für die Menschen dort riskiert hat.

 

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Die nicht so schöne Wahrheit – Obdachlos in Los Angeles

Verstörende Bilder und Töne vom Erschießen eines Obdachlosen mitten in Los Angeles erinnern mich an die Stunden, die ich erst vor Kurzem dort verbracht habe – bei der alle zwei Jahre stattfindenden Obdachlosenzählung.
Auf dem Weg vom Parkplatz zu der Unterkunft, an der der Zählung beginnen sollte fielen mir natürlich die Zelte, die aus Planen und Tüchern improvisierten Lager, der Müll und der Gestank auf. Marihuanaschwaden waren eine willkommene Abwechslung zu Wolken aus Urin und saurem Schweiß. Bilder, die mich bis heute verfolgen sind die von Kleiderbündeln, die ich auf der Straße sah und nicht wusste, ob darin ein Mensch verborgen ist, plötzliche Schreie, die scharfe Warnung eines Vorbeigehenden, vorsichtig zu sein, der fast zahnlose Mann, der aus einer zerrissenen Plastiktüte Socken verkaufen wollte und die vielen mutlosen, verzweifelten und leeren Augen.
Die Gruppe, die ich bei der Zählung begleitete, begann mit der Befragung von S., einer 49 jahre alten Frau, die sich im Wartesaal der Unterkunft ausruhte.

Obdachlos, 49 Jahre alt, Schlafplatz Busbank

Obdachlos, 49 Jahre alt, Schlafplatz Busbank


Sie erzählte, dass sie seit 20 Jahren mehr oder weniger obdachlos ist, in einem Kreislauf aus Arbeitslosigkeit und Wohnungssuche steckt, der sie zur Verzweiflung bringt. Das Leben auf Skid Row, wie dieser Teil von Los Angeles heisst, macht sie wortwörtlich krank. Ihm zu entfliehen scheint eine unerreichbare Vision.
Skid Row ist wie eine andere Welt mitten in der Stadt. Kein Small Talk, keine blank geputzten Limousinen, keine vorgetäuschte Freundlichkeit, kein Wellness oder Botox, keine Hipster und keine Promis (außer an Thanksgiving und Weihnachten), keine Meeresbrise und keine Poolparties. Wer es nicht sehen will, fährt auf der Stadtautobahn weiträumig am Viertel vorbei.
Allerdings: Downtown LA boomt und Skid Row ist nur wenige hundert Meter von den neuen Restaurants, Bars und Lofts entfernt. Der Bürgermeister verspricht, das Obdachlosenproblem zu lösen, nicht nur an einen anderen Ort zu verlegen.
S., bekam für das Beantworten der Fragen einen Fünf-Dollar-Gutschein für ein Fast Food Restaurant. Bevor sie mit ihrem kleinen Rollkoffer loszog zu ihrem Schlafplatz – einer Bushaltestelle – sagte sie:”Ich hoffe, die Zählung bringt Veränderungen,”
Ich wünschte, sie könnte sich darauf verlassen.

Hier können Sie nachhören, was S. gesagt hat.

 

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Unser 11. September

Der Angriff auf “Charlie Hebdo” war nicht das schlimmste Attentat in Europa. Doch die Reaktion in Paris und ganz Europa zeigt, dass dies ein Wendepunkt war wie der 11. September in New York. Was folgt daraus?

Madrid, London, Toulouse, Brüssel – seit dem 11. September hat es in Europa schon viele schlimme Attentate gegeben, die auf radikale Islamisten zurückgehen.

Doch noch nie zielten Terroristen so direkt und so brutal auf einen Grundpfeiler der europäischen Kultur: Die Meinungs- und Pressefreiheit.

Und noch nie war die Reaktion von Politik und Gesellschaft so eindeutig und entschieden wie in Paris, wo am Sonntag mehr als eine Million Menschen auf die Straße gegangen sind.

Sogar Präsident Hollande war dabei, obwohl französische Staatschefs sonst (fast) nie demonstrieren. Auch viele EU-Politiker kamen, darunter Kommissionschef Juncker und Kanzlerin Merkel.

Die richtigen Lehren ziehen

Es ist gut und wichtig, dass die Europäer ein Zeichen setzen gegen Terror, Fremdenhass, Antisemitismus und einen Gewaltkult, der ans finsterste Mittelalter erinnert.

Doch was kommt danach? Werden die EUropäer endlich die Lehren aus dem 11. September 2001 ziehen – und ihre Fehler im Irak, in Syrien und in Nahost korrigieren?

Das sind die Brandherde, die derzeit tausende junge Europäer anziehen und zu Terroristen machen. Man darf gespannt sein, was unsere EU-Außenpolitiker dazu sagen, vor allem die “neuen Europäer”.

Völlig falsche Prioritäten

Bisher setzen sie falsche Prioritäten – und verteufeln Putin, statt den wahren Gefahren für die “europäische Friedensordnung” ins Auge zu sehen, die übrigens auch in der Türkei lauern.

Mindestens genauso wichtig ist aber die Reaktion nach innen. Natürlich müssen jetzt die Sicherheits-Maßnahmen überprüft und ggf. verschärft werden.

Klar ist aber auch, dass neue Passagierdaten-Abkommen, wie sie etwa EU-Ratspräsdient Tusk fordert, im Fall “Charlie Hebdo” nichts gebracht hätten.

Bedrohung aus dem Homeland

Gegen die Bedrohung von innen – aus dem “Homeland”, wie es neudeutsch heißt – nutzen die meisten aktuellen Antiterror-Maßnahmen nichts; das ist offensichtlich.

Viel wichtiger wäre daher, endlich das leere Versprechen einzulösen, etwas gegen Jugendarbeitslosigkeit und Ausgrenzung in den Problemvierteln von Paris, London oder Hamburg zu tun.

Dazu müsste sich allerdings auch die Wirtschafts- und Sozialpolitik insgesamt ändern. Ich habe Zweifel, ob Tusk, Merkel & Co. dazu bereit sind…

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog “Lost in EUrope”

photo credit: OlivierdeBrest via photopin cc

 

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Gestern Bagdad, heute Hamburg: Birgit Svensson bei Netzwerk Recherche

BirgitSvenssonWelteporterinBagdad

 

Birgit Svensson lebt und arbeitet seit Jahren in Bagdad. Als freie Journalistin an einem der aktuell gefährlichsten Orte schreibt  und berichtet sie u.a. für DIE ZEIT, die WELT, den Deutschlandfunk, den Schweizer Rundfunk und die Deutsche Welle. Sie ist eine der ganz wenigen Frauen, die vor Ort das aktuelle Chaos , die dramatischen Veränderungen erleben. Noch im letzten Jahr musste sie um ihren Verbleib in Bagdad kämpfen, für viele Medien schien der Irak uninteressant. Jetzt sind sie alle  wieder interessiert, wollen Berichte und Reportagen.

 

Wie Birgit Svensson das alles erlebt. wie sie  mit dem Problem Sicherheit umgeht, wie dieser Bürgerkrieg auch sie verändert – darüber redet sie auf dieser Veranstaltung. Und stellt sich all den Fragen derer, die Bagdad und den Irak nur vom Fernseher oder den Zeitungen kennen.

Mit Christoph Reuter, Spiegel.

Heute, Freitag, 4. Juli, 14.15 Uhr Netzwerk Recherche-Tagung, NDR Gelände Lokstedt, Hugh-Greene-Weg.

 

BIRGIT SVENSSON noch einmal HEUTE um 15.30 Uhr: Lasst uns über Geld reden. Neue Modelle für Freie im Ausland. Moderation: Gemma Pörzgen, Freischreiber.

BITTE AKTUELLE RAUM-HINWEISE BEACHTEN!

 

 

 

 

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Freedom Rocks – Berliner Mauer Fragmente in Los Angeles

Berliner Mauer Los Angeles

Der längste zusammenhängende Mauerstreifen außerhalb von Deutschland ist – in Los Angeles, auf einer Wiese neben dem Wilshire Boulevard, einer Hauptverkehrsstrecke zwischen West und Ost, gegenüber vom Los Angeles County Museum of Art. Mittags parken hier ein halbes Dutzend Food Trucks, oft sind einer mit Bratwurst und die Currywurst-Konkurrenz dabei.
Die zehn Originalsegmente aus Berlin hat das Wende Museum zum 20. Jahrestag des Mauerfalls nach Los Angeles gebracht. Inzwischen gab es davor Demonstrationen und Picknicks, Konzerte und Hochzeiten.
Viele Fragmente der Berliner Mauer sind in Nordamerika gelandet. Zwei kanadische Künstler haben es sich zur Aufgabe gemacht, zumindest einen Teil von deren Geschichte aufzuspüren und zu dokumentieren. Ihr Projekt heißt Freedom Rocks. Letzte Woche haben Vid Ingelevics und Blake Fitzpatrick dafür Station im Goethe Institut von Los Angeles gemacht.
Vor schlichter Kulisse von Klappstuhl und Tisch mit schwarzer Decke stellten sie Kamera und Scheinwerfer auf. Dann kamen die Besitzer von Mauerfragmenten und erzählten ihre Geschichten.
Die Künstler stellen immer dieselben Fragen: Wie heißt Du? Wo wohnst Du? Woher hast Du die Mauerstücke? Wo bewahrst Du sie auf? Was bedeuten sie heute für Dich?
Sie filmen nur Hände, die die Fragmente halten und haben festgestellt, dass die meisten Geschichten weniger mit dem Kalten Krieg als mit persönlichen Erinnerungen zu tun haben.
fragment rebecca
In Los Angeles erzählt ein Deutschprofessor, wie er 1990 mit Studienkollegen in einer Regennacht Stücke selbst abklopfte. Ein Künstler berichtet, wie er einen Teil der Mauer in Kreuzberg 1987 bemalte, ganau zwei Jahre bevor die Grenze geöffnet wurde. Eine Teilnehmerin ist nicht sicher ob ihre Teile echt sind. Sie hat sie in einem Baumarkt für 20 Dollar gekauft. Einer Germanistin aus Dresden steigen Tränen in die Augen, als sie erzählt wie sie eine Woche nach dem Fall der Mauer zum ersten Mal im Leben durch das Brandenburger Tor ging und von dort Mauerstücke mit nach Los Angeles nahm.

“Solange die Fragmente in Bewegung ist wird sich ihre Geschichte verändern,” fassen die Künstler zusammen. “Wie wir uns an Geschichte erinnern und ihr Denkmale setzen bleibt nie gleich.”

Meine Geschichte für den Deutschlandfunk können Sie hier nachhören: Freedom Rocks

 

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Sama Wareh – Hoffnung und Kunst für syrische Kinder

Sama liest Brief der Flüchtlingskinder

Sama liest Brief der Flüchtlingskinder

Ich fahre durch die Dunkelheit in ein schmales Tal in den Bergen südlich von Los Angeles: Silverado Canyon. Die Wegbeschreibung endete mit einem Hinweis auf eine große rote Scheune. Ohne Straßenbeleuchtung sind Größe und Farbe der wenigen Gebäude am Straßenrand kaum zu erkennen. Endlich finde ich die Scheune, im Haus gegenüber leuchtet hinter einem Fenster warmes Licht. Ich bin bei Sama Wareh angekommen: Künstlerin und Aktivistin, Kalifornierin mit Wurzeln in Syrien. Bis zum Kriegsausbruch hat sie regelmäßig Familie und Freunde in Damaskus besucht.
Der Krieg hat sie so beschäftigt, dass sie einmal auf eigene Faust an die türkische Grenze reiste, um Flüchtlingen mit Decken, Heizkörpern, Medizin und Mietzahlungen zu helfen. Ein Jahr später machte sie sich wieder auf den Weg, diesmal mit der Mission, ein nachhaltiges Projekt zu initiieren und dabei ihre Stärken zu nutzen: Kunst und Pädagogik. Sie entwickelte ein Curriculum: “Kunsttherapie für Kinder in Kriegsgebieten” und zog los. Vor ein paar Wochen kam sie zurück und erzählt mir nun, was sie erlebt hat.

“Möchtest Du Linsensuppe?” fragt sie mich zur Begrüßung. Die köchelt vor sich hin, füllt die kleine Wohnung mit Wärme und dem Duft einer starken Gewürzmischung. Wir setzen uns auf ein niedriges Sofa und Sama beginnt zu erzählen.
Im November reiste sie zu einer Schule im Libanon, nördlich von Tripolis. Dort hatte sie nach langer Recherche einen Direktor gefunden, der Schülern die selben Werte vermitteln wollte wie sie: Teamwork, Kreativität und Gleichberechtigung über Religion, Geschlecht, Herkunft, Alter und Rasse hinweg – ein Vorbild für die Zukunft Syriens. Die Schüler hatten den Namen der Schule selbst gewählt: Vögel der Hoffnung.
Sama kaufte von Spenden, die sie in Kalifornien gesammelt hatte und vom Einkommen aus dem Verkauf ihrer Bilder Material und begann ihr Kunstprogramm: Sie ließ die Kinder ihre Träume und Hoffnungen malen und gestaltete mit allen Schülern, Lehrern und dem Direktor ein Wandgemälde. Die steckten der kalifornischen Künstlerin jeden Morgen Briefe und Zeichnungen zu: Blumen und Herzen, Monster, Bomben, blutende Bäume und zerstörte Städte.
“In Kunst drücken Kinder aus, worüber sie nicht sprechen können,” erzählt Sama von ihrer Zeit mit den 350 ‘Vögeln der Hoffnung’. Ein Junge sang jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn auf der Schultreppe ein Lied von der Schönheit Syriens und von Trauer um die Zerstörung des Landes. Der Abschied fiel ihr schwer, weinend ermutigte sie die Kinder, weiter zusammen zu arbeiten, zu reden und Konflikte ohne Gewalt zu lösen.
Die gesammelten Spenden finanzieren nun einen Kunstlehrer, der ihr Projekt fortführt. Er schickt ihr Videos von den Fortschritten. Sie zeigt mir eines auf dem Computer und holt aus ihrem Schlafzimmer Briefe und Zeichnungen der Kinder. Sie erinnern sie an traurige und glückliche Momente in der Schule. “Nichts kann mich mit so viel Glück und Freude füllen, wie das Lächeln der Flüchtlingskinder und die Konzentration und Ruhe auf ihren Gesichtern während sie zeichnen.”
Aus Videoaufnahmen ihres Abenteuers an der Schule produziert sie einen Dokumentarfilm. Einnahmen aus Vorführungen werden direkt zu den ‘Vögeln der Hoffnung’ geschickt. “Jeder kann etwas Positives bewirken in der Welt,” sagt sie während wir Linsensuppe löffeln. “Ich bin Künstlerin, ich hab nicht viel Geld aber jetzt haben die Kinder diese neue Freude im Leben, nur weil ich mich angestrengt habe. Das ist das beste Gefühl der Welt!”

 

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Boom oder Crash: Wirtschaftsanalyse light

„Was läuft da falsch, wenn zwei große deutsche Zeitungen, die beide dem konservativ-wirtschaftsfreundlichen Spektrum zuzuordnen sind, an ein und demselben Tag ein völlig unterschiedliches Bild der indonesischen Wirtschaft zeichnen?“ fragt Alex Flor in einem Bericht der Berliner NGO Watch Indonesia! vom 24. August 2013. Anlass für seine Frage sind zwei Artikel zum Wirtschaftsstandort Indonesien, die in den Tageszeitungen „Die Welt“ beziehungsweise „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ erschienen sind.
Flor fährt fort: „”Die Welt” hält daran fest, Indonesien aufgrund seines Wirtschaftswachstums in höchsten Tönen zu loben. Es gebe einen “starken Trend nach oben”, getragen von einer wachsenden kauffreudigen Mittelschicht. Die FAZ zeichnet während dessen unter dem Eindruck der jüngsten Börsenkurse ein völlig anderes Bild: Asiatische Werte – damit gemeint sind hier Währungen, Aktien, Anleihen usw. – befinden sich wegen hausgemachter Probleme auf Abwertungstrend. Der Wert der indonesischen Rupiah fiel auf einen seit vier Jahren nicht mehr erreichten Tiefpunkt. An der Börse werden hohe Verluste geschrieben. Die Inflation steigt. Verschiedene andere Medien warnten bereits vor einer Neuauflage der Asienkrise Ende der 90er Jahre.“
Der Indonesienkenner kommt am Ende seiner Analyse zu dem Schluss, dass das Eine so falsch sei wie das andere. Denn ohne spezifische Länderanalyse blieben viele Indikatoren wertlos oder sogar irre führend.
Die eigentliche Frage dahinter ist: Warum werden eigentlich sowohl in den deutschen Medien als auch in der deutschen Politik die gesellschaftspolitischen Aspekte des plötzlichen Wirtschaftsbooms in Indonesien so wenig beachtet? Warum analysieren so wenige so genannte Experten die Hintergründe des kurzlebigen Konsumrauschs, des unglaublichen Reichtums der Eliten, des hart erkämpften Lohnanstiegs der Arbeiter, des Preisanstiegs im ganzen Land?
„Es gibt weder ein ideologisches Ziel noch eine ausreichende Vorsorge gegen die immer größer werdende Kreditblase“, erklärt Wirtschafsberater Eric Santosa in Jakarta und mahnt: „Wir können nicht von einer gesunden Wirtschaft reden, solange die folgenden drei Probleme nicht gelöst sind: mangelnde Infrastruktur, ineffektive Bürokratie und Personalentwicklung.“
Und warum hinterfragt kaum ein Analyst hierzulande die Zusammenhänge von indonesischer Politik und islamistischen Strömungen, von Wirtschaftsboom, Korruption und Menschenrechtsvergehen – wie das bei anderen Ländern oft so demonstrativ geschieht? Hier hat Wenzel Michalski, Direktor von Human Rights Watch Deutschland, eine Erklärung: „Indonesien ist für westliche Länder das neue China. Sie erhoffen sich dort eine gewinnbringende wirtschaftliche Zusammenarbeit. Daher wir mit strategischem Schweigen über Menschenrechtsverletzungen und andere Unannehmlichkeiten hinweg gesehen.“

 

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Der Tag, als sie Daddy abgeholt haben

“Rund 5000 Kinder leben in den USA ohne Eltern, weil die ohne Papiere ins Land gekommen sind und abgeschoben wurden.” Dieser Satz eines Aktivisten für Immigrationsrechte veranlasste mich, eine Familie zu suchen, auf die diese Beschreibung zutrifft. Sie zu finden war schwieriger als erwartet. Niemand wollte reden.

Der Pressesprecher einer Bürgerrechtsorganisation schlug mir schließlich vor, Norma und ihre Tochter Jessica zu treffen. Die Familie passe zwar nicht ganz in mein Konzept, Norma sei legal im Land, doch ihr Mann Jose seit mehr als einem Jahr im Gefängnis. Die drohende Abschiebung reisse die Familie auseinander, besonders die Tochter leide darunter, dass sie ihren Vater nur noch im Gefängnis sehen kann, umziehen musste und auf eine neue Schule geht. “Der Fall ist nicht einfach, nicht schwarz und weiß,” erklärte mir der Sprecher. Jose habe eine Drogenstrafe von früher und sei schonmal abgeschoben worden. Aber: Jessica und ihre Mutter seien bestimmt gute Interviewpartner und hätten eine eindrückliche Geschichte zu erzählen.

Er hatte Recht. Ich traf Jessica und Norma in ihrem neuen zu Hause – sie leben jetzt in einem kleinen Zimmer bei den Eltern von Norma. Zum Gespräch kam auch Joses Mutter dazu. Als der von den Immigrationsbeamten abgeholt wurde war es sechs Uhr morgens. Norma wollte ihn gerade zur Arbeit fahren. “Vier Streifenwagen haben uns eingekreist, Polizisten mit gezogenen Waffen sind auf uns zugerast, haben gebrüllt und auf die Windschutzscheibe geschlagen. Jose war angeschnallt, sie haben ihn aus dem Wagen gezerrt, ihm Handschellen angelegt und weggefahren”, erzählt sie. Jessica hat alles aus dem Fenster ihres Kinderzimmers beobachtet. Wenn sie davon erzählt, steigen ihr Tränen in die Augen. Sie vermisst es, mit ihrem Vater ans Meer zu gehen, zum See zu radeln, Pizza zu essen und am meisten, dass sie ihn nicht umarmen kann. Wenn sie ihn besuchen, ist eine Glasscheibe zwischen Jose und den Frauen. Norma und Jessica wissen, dass Jose vielleicht wieder abgeschoben wird. Zum ersten Mal geschah das 1994 nachdem er mit Drogen erwischt wurde, sagt Norma. Damals sei er noch am selben Tag zurück gekommen. Es sei leicht gewesen, die Grenze zu überqueren. 2010 wurde Jose bei der Arbeit aufgegriffen und abgeschoben. Diesmal war es schwieriger, zurück zu kommen, doch er schaffte es – und wurde ein paar Monate später wieder verhaftet. Jessica versteht bis heute nicht, warum ihr Vater nicht wie sie und ihre Mutter einen Pass bekommen und bei ihr bleiben kann.

Meine Nachfrage bei der Einwanderungsbehörde ergibt eine nüchterne Antwort: Die Behörde sei dazu da, illegale Einwanderer wie Jose so schnell wie möglich aus dem Land zu weisen. Mit Drogendelikt und mehrfacher illegaler Einreise sei er eine Priorität auf der Abschiebeliste. Ohne Erlaubnis ins Land einzureisen könne mit einer Haftstrafe von bis zu zwanzig Jahren bestraft werden.

Ich gebe diese Email nicht an Norma und Jessica weiter. Die Geschichte ist tatsächlich sehr kompliziert. Im Moment weiß ich noch nicht, wie ich sie am besten erzählen kann.

Hören Sie hier, wie die beiden beschrieben, wie Jose abgeholt wurde, was sie an ihm mögen und was sie für die Zukunft hoffen: Norma and Jessica

 

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Eine quicklebendige Maus – zum 50. Geburtstag des Elyséevertrages

„Der Berg gebar eine Maus, aber wir wissen noch nicht, ob sie auch lebt…vielleicht dauert auch die Schwangerschaft noch an…jedenfalls haben wir beschlossen, den Topf auf dem Feuer zu lassen,“

schrieb André Fontaine in Le Monde am 7.07.1964 nach einem deutsch-französischen Gipfeltreffen zwischen Ludwig Erhard und Charles de Gaulle. Wie wenig sich doch geändert hat. So oder so ähnlich könnte man auch heute noch zahlreiche Gipfel zwischen den mehr oder weniger befreundeten Staatschefs charakterisieren.

Aus Anlass der großen Geburtstagsfeiern, die die deutschen wie französischen Medien seit Tagen zelebrieren, habe ich meine Magisterarbeit zum nämlichen Thema nochmal hervorgekramt. Dort findet man natürlich solch herrliche Zitate. Konkret beschäftigte ich mich mit … nein, ich will Sie nicht langweilen. Diese akademischen Titel kommen immer auf besonders hölzernen Stelzen daher. Also, es ging um die Bewertung einer gemeinsamen deutsch-französischen Außenpolitik, dem Herzstück des Elyséevertrages von 1963 in den 60er Jahren. Das Urteil war vernichtend: Sie fand nicht statt. Eigentlich genau wie heute. Nur aus anderen Gründen.

1989 drückte ich das so aus: „Die jeweilige Staatsräson widersprach einer gemeinsamen außenpolitischen Haltung.“ Nun ist der Begriff „Staatsräson“ heute nicht mehr besonders populär. Sagen wir also, die Geschichte, die Geographie sowie die politische Kultur machen es Berlin und Paris ungeheuer schwer, außenpolitisch die gleiche Sprache zu sprechen. Berlin blickt heute eher nach Osten (undenkbar in den 60 Jahren, schon wegen der Hallstein-Doktrin!), Frankreich nach Süden. Die außenpolitische Hörigkeit der Deutschen gegenüber der amerikanischen Politik hat sich hingegen etwas relativiert, aber Frankreich gesteht sich nach wie vor mehr Freiheit zu, sich auch mal über Bündnisse hinwegzusetzen, wenn es um nationale Interessen geht. In Paris versucht man außenpolitisch zu agieren, während Berlin lieber reagiert. Jüngste Beispiele sind Libyen oder nun Mali. Die Bundeskanzlerin hat trotz außenpolitischer Richtlinienkompetenz wesentlich weniger Entscheidungsfreiraum als der französische Präsident. In Kanzleramt salutiert man vor dem politischen Konsensmodell während Mr Le Président auch schon mal gerne mit der Trikolore in der Hand voraus reitet und seine Regierung schaut ihm staunend hinterher.

Nur wenn es um Europa geht, raufen die Staatschefs sich meistens letztlich zusammen. Wissen sie doch, dass ohne den berühmten deutsch-französischen Motor nicht allzu viel läuft.

Was gibt es also so groß zu feiern? Dass die beiden Staaten überhaupt nach all den Opfern, die sie sich gegenseitig in diversen Kriegen abgefordert haben, vor 50 Jahren einen solch ambitionierten Freundschaftsvertrag unterzeichnet haben! Dass die institutionelle Zusammenarbeit und Koordination sehr gewissenhaft umgesetzt wird und heute das Herzstück des Vertrages in seiner Umsetzung bilden. Und dass sich über die Jahre das Verhältnis zwischen den ganz normalen Menschen in den Nachbarstaaten sehr entspannt hat.

So sehr, dass ich heute im Herzland des Maquis, der französischen Résistance, in ehrlicher Freundschaft mit meinen Nachbarn beim Dorffest Cassoulet essen und Rotwein trinken kann, wir gemeinsam lachen und tanzen – obwohl SS-Soldaten am 10. Juni 1944 im Nachbarort Marsoulas bei einem grausamen Massaker ein Drittel der Bevölkerung ausradierten. Deshalb würde ich heute sagen: Der Berg gebar vielleicht nur eine Maus – aber wissen mit Sicherheit, dass sie lebt!

 

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Konservatives Kalifornien – Ja zu Todesstrafe, Nein zu Kennzeichnung von Gen-Food

Kalifornien hat Barack Obama eine deutliche Mehrheit beschert – alles andere wäre eine Riesenüberraschung gewesen. Die Bewohner des Westküstenstaats gelten als zuverlässige Stimmen-Geber für Demokraten. Deshalb bleiben wir hier auch weitgehend verschont von bösartigen Werbekampagnen der Kandidaten. Die kommen eigentlich nur vorbei, um Spenden einzusammeln. Kalifornien hat sich zur Geldmaschine für Demokraten und Republikaner entwickelt. Nicht nur Barack Obama füllte seine Wahlkampfkasse bei Abendessen mit illustren Gästen in Hollywood und Silicon Valley. Auch Mitt Romney besuchte finanzkräftige Unterstützer am Pazifik. Kalifornien ist nämlich gar nicht so links wie viele glauben. Im Westküstenstaat gibt es reichlich konservative Bezirke außerhalb der Großstädte. Wähler haben vor vier Jahren die Legalisierung von Marijuana und die Homo-Ehe abgelehnt. Auch dieses Jahr zeigten sie bei Volksabstimmungen wieder eine konservative Seite: die Todesstrafe bleibt dem Westküstenstaat erhalten und das obwohl sich auch der neue Gouverneur für die Initiative eingesetzt hat, die sie gegen lebenslänglich ohne Bewährung getauscht hätte. Vorgänger Schwarzenegger hatte noch seine Muskeln für die Todesstrafe spielen lassen.

Außerdem verpasste Kalifornien die Chance, landesweit die Vorreiter-Rolle bei der Kennzeichnung von genmanipulierten Lebensmitteln zu übernehmen. Alle möglichen anderen Angaben müssen auf Lebensmittel gedruckt werden – Kalorien, Zucker und andere Zutaten zum Beispiel – aber niemand erfährt, ob irgendwas am Essen genetisch bearbeitet wurde. Im September sah es noch so aus, als ob die kalifornische Initiative für Kennzeichnung problemlos gewinnen würde. Dann startete die 45-Millionen-Gegenkampagne. Pharma- , Chemie- und Lebensmittelunternehmen, die fürchteten das Beispiel Kalifornien könnte überall in den USA Schule machen, überfluteten die Fernsehprogramme mit Anzeigen. Die meisten kalifornischen Tageszeitungen schlossen sich der Kritik an rechtlichen Mängeln des Entwurfs an. Das war’s.

Kandidat Barack Obama hat 2004 versprochen, eine landesweite Regelung zur Kennzeichnung von Gen-Food einzuführen. Eines der Versprechen, das er nicht eingehalten hat. Seine Position zur Todesstrafe ist nicht eindeutig. Mit all den Problemen, die auf ihn warten dürften beide Themen auf der Prioritätenliste des US-Präsidenten sehr weit unten stehen.

Die Kalifornier haben ihm einen unumstrittenen Sieg garantiert und gleichzeitig mal wieder bewiesen, dass sie weitaus konservativer sind, als die Welt im allgemeinen glauben möchte.

 

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Scheidung noch mal verschoben?

Viele Journalisten lieben markige Statements oder eine holzschnittartige Darstellung der Welt. Schwarz und Weiß. Als wären Grautöne unverdaulich. Da Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Hollande nicht als politisches Liebespaar bekannt sind, ist dann schon mal schnell von einer bevorstehenden Scheidung die Rede. So auch gestern wieder in den Hauptnachrichten des französischen Fernsehsenders France 2. Da wurden ernste Gesichter aus Brüssel gezeigt, Merkel und Hollande hätten nicht einmal ein höfliches Lächeln füreinander übrig gehabt. „Steht nun die Scheidung bevor“, fragte daraufhin der Moderator den Brüssel-Korrespondenten.

Die Überzeichnung der inhaltlichen sowie der persönlichen Differenzen zwischen Hollande und Merkel sind in Deutschland wie in Frankreich bei einigen Medien besonders beliebt. Von einem tiefen Einblick in die deutsch-französischen Beziehungen zeugt das nicht. Denn die vor knapp 50 Jahren von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle formal besiegelte deutsch-französische Freundschaft hat inzwischen eine Tiefe und institutionelle Verwebung auf ganz unterschiedlichen Ebenen erreicht, sie würde überleben auch wenn Merkel und Hollande sich abgrundtief hassten und sich politisch überwärfen. Für letzteres sind beide viel zu klug und viel zu diplomatisch.

Dass Berlin und Paris immer mal wieder in politischen Fragen ganz unterschiedlicher Meinung sein werden, tut beiden Seiten und Europa gut. Denn es trägt zu einer fruchtbaren Kompromisskultur bei. Auch zum Innehalten und Überdenken der eigenen Position – falls man dazu Zeit findet. Dass die politischen Überzeugungen selbst bei einer diplomatischen Annäherung der Positionen in Brüssel im Grunde mitunter sehr weit von einander entfernt bleiben, ist schon aus historischen Gründen nicht überraschend. Das staatliche Selbstverständnis und damit auch die Staatsräson Deutschlands und Frankreichs sind keineswegs identisch. Das gilt sowohl für innen- wie außenpolitische Aspekte. Aber es gibt genügend gemeinsam Interessen, die eine Annäherung in der Politik immer wieder lohnend machen.

Bei jedem politischen Schlagabtausch oder jeder Missstimmung zwischen Kanzler(in) und Präsidenten (auf eine französische Präsidentin brauchen wir leider in absehbarer Zeit noch nicht zu hoffen) die „Scheidung“ heraufzubeschwören, ist deshalb reine Effekthascherei, dumm und ermüdend.

 

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Unsere Diktatoren dürfen das

Ist der Ruf erst ruiniert… Vielleicht denken sie das wirklich. In Washington, in Riyadh und in Manama. Die amerikanische Regierung ruft zu „Zurückhaltung“ auf in Bahrain. Während 1200 saudische Militärs und 800 Polizisten aus den Vereinigten Arabischen Emiraten einrollen, um – wie es heißt – strategisch wichtige Gebäude und die Interessen der Königsfamilie zu schützen. Sie kommen auf Einladung von König Hamad, versteht sich. Eine hübsche kleine Golf-Party wird das werden.

Tommy Vietor, der Sprecher des Weißen Hauses, sagte, die Partner der USA im Golfkooperationsrat sollten die Rechte der Menschen in Bahrain respektieren und mit all ihren Handlungen zum Dialog ermuntern. Das wird bestimmt gelingen mit all den bewaffneten, gepanzerten Fahrzeugen, bemannt mit grimmig drein schauenden Soldaten. Wir dürfen gespannt sein, wie Vietor ein befürchtetes Blutvergießen in Manama schön reden wird. Denn anders als bei dem ohnehin verhassten Muammar Gaddafi handelt es sich bei Bahrains König Hamad um einen wichtigen Partner am ölreichen Golf und einen bislang treuen Alliierten gegen den Iran. Der Schutz von Zivilisten vor militärischer Übermacht steht da gar nicht erst zur Diskussion.

In Nordafrika und selbst in Ägypten kann man, wenn alles nicht mehr hilft, schon mal ausgediente Diktatoren fallen lassen. Aber dort, wo die Energieversorgung auf dem Spiel steht, wo die 5. Flotte der USA vor Anker liegt und wo man die wichtigsten Partner im Machtkampf mit dem Iran ausmacht, dort gelten andere Regeln. Es gilt das Primat der eigenen Interessen vor irgendwelchen demokratischen Idealen oder gar Menschenrechten. Da muss man zusammenhalten, koste es was es wolle.

Die Saudis sind extrem nervös. Sonst hätten die Meister der Scheckbuchdiplomatie nicht plötzlich auf ihr eigenes Militär gesetzt. Das ist ungewöhnlich. Und ging schon vor mehr als einem Jahr im Nordjemen schief, als Riyadh in den Konflikt Sanaa’s mit den Houthis im Grenzgebiet eingriff. Daraus hätte man lernen können. Aber man muss nicht. Das Protestpotential im eigenen Land halten die Saudis noch mit einem massiven Polizeiaufgebot, der Verbreitung islamischer Fatwas gegen Protestkundgebungen sowie mit Schmiergeldern unter Kontrolle. Jedoch die unkalkulierbaren Entwicklungen im benachbarten Bahrain sowie im Jemen machen den von Krankheit und Alter angegriffenen saudischen Herrschern zu schaffen.

Die Verbündeten in Washington werden vermutlich beide Augen zu drücken solange es geht. Denn hier steht eindeutig zu viel auf dem Spiel: Die Ölpreise, die eigene militärische Machtprojektion in die Region sowie der Kampf gegen den Iran. Prognosen möchte man in diesen Tagen in der arabischen Welt nicht mehr wagen. Zu viele Dinge sind im Fluss, alte Regeln gelten nicht mehr, neue sind noch nicht etabliert. Aber wenn dieser von den USA geduldete, saudische Militäreinmarsch in Bahrain zu einem Blutbad führt, dann könnten am Ende diesseits und jenseits des Atlantiks ganz viele Verlierer stehen. Europäer inbegriffen, denn auch wer schweigt, macht sich schuldig. Der Begriff „politische Glaubwürdigkeit“ scheint aus dem Lexikon der modernen Politik gestrichen. Ersatzlos. Wie bedauerlich.  

 

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Revolutionszeit

Volksaufstand in Nordafrika, Unruhen im Nahen Osten – habt Ihr keine Angst, dass so was auch bei Euch passieren könnte? Solche oder ähnliche Fragen stellten Bekannte aus Deutschland in den vergangenen Wochen. Nein, habe ich nicht, antwortete ich, denn bei uns war schon vor 13 Jahren Revolution – oder besser: Reformasi. Nur haben das die meisten Europäer schon wieder vergessen. Was damals in Indonesien geschah, verlief ähnlich wie die Ereignisse in Tunesien oder Ägypten: Seit 33 Jahren regierte General Suharto quasi mithilfe einer Militärdiktatur. Er kam 1965 an die Macht, nachdem er einen angeblichen Putsch der Kommunisten durch einen Gegenputsch verhindert haben soll. Der Westen unterstützte Suharto aus Angst vor einer möglichen Machtübernahme der damals drittgrößten kommunistischen Partei der Welt – und nahm dabei in Kauf, dass Hunderttausende Zivilisten getötet wurden bzw. in Folterlagern verschwanden, weil sie dieser Partei angeblich angehörten.

1998 brach jedoch durch die Asienkrise das korrupte Regime des Autokraten zusammen. Zuerst protestierten die Studenten in einigen Großstädten gegen die politischen Verhältnisse, dann gingen immer mehr Menschen auf die Straße, oft aus schierer Not. Das Militär spaltete sich in mehrere Gruppen und bezahlte Anstifter lösten Unruhen aus, denen vor allem die chinesische Minderheit zum Opfer fiel. Auf einmal schrie die internationale Gemeinschaft auf und pochte auf die Einhaltung von Menschenrechten. Am Ende blieb Suharto nichts anderes übrig als zurückzutreten – ein Jahr später gab es demokratische Wahlen.

Seitdem gilt Indonesien als Demokratie. Der Putsch und die Massenmorde von 1965 jedoch wurden bis heute nicht aufgearbeitet – Vergangenheitsbewältigung bleibt ein Tabu. Das korrupte System konnte bis heute nicht aufgelöst werden und unterwandert immer wieder die Bemühungen zur Demokratisierung.  Das wiederum gibt Islamisten wie Ultra-Nationalisten Aufwind, die sich mit weißer Weste präsentieren, immer mehr Menschen wenden sich Ihnen zu. Die Aktivisten von 1998 sind heute völlig desillusioniert.

Habt Ihr nicht Angst, dass dies auch bei Euch passieren könnte, frage ich nun weiter in die Länder der momentanen Revolution?

 

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Die Sehnsucht ist geweckt

Die westlichen Demokratien haben sich bei der tunesischen wie der ägyptischen Revolution gründlich blamiert. Sie hinkten hinter den Ereignissen her, wanden sich in Schmerzen mit vorsichtigen Statements. Ging es doch schließlich darum, den Diktatoren und Unterdrückern die Unterstützung zu entziehen, die sie seit Jahrzehnten in ihren Palästen gehalten hatte. Völlig ungeachtet der Tatsache, dass man in politischen Sonntagsreden immer mehr Demokratie im Nahen Osten forderte. Aber das versteht sich von selbst.

Als es gar nicht mehr anders ging, forderten US-Präsident Barack Obama und seine europäischen Mitläufer einen schnellen aber geordneten Übergang zu einer wirklich demokratischen Regierungsform. Aha. Damit behalten sie sich vor, darüber zu urteilen., was ‘wirklich demokratisch’ ist. Und im gleichen Atemzug drängt man auf die Einhaltung internationaler Verträge und Verpflichtungen. Da nämlich liegt, wenn es um den Nahen Osten geht, für die meisten westlichen Politiker der Hase im Pfeffer: Fast alles darf passieren, aber die beiden Friedensverträge mit Israel (mit Ägypten und Jordanien) dürfen nicht angetastet werden. Außerdem dürfen keine Islamisten an die Macht kommen, wobei am liebsten alle islamistischen Gruppierungen in einen großen Topf geworfen werden. Wie man es in Washington, Berlin und Paris damit hält, wenn demokratische Wahlen Islamisten an die Macht bringen, das haben wir beim Urnengang in den Palästinensergebieten 2006 gesehen. Als die Hamas den Sieg davon trug, brach man schlicht die Beziehungen mit der von ihr geführten Regierung ab.

Die westlichen Regierungen – nicht nur die amerikanische – haben in der arabischen Welt schon längst ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die Menschen in der Region verstehen, dass es nicht um Werte wie Demokratie, Selbstbestimmung und Freiheit geht sondern um politische Interessen. Vornehmlich um solche, die sich mit israelischen Interessen decken. Auch wenn man in vielen Fällen trefflich darüber diskutieren kann, ob sich diese Interessen tatsächlich decken. Oder ob wir uns nicht selbst ins Knie schießen, gerade weil wir dazu tendieren, die Region ausschließlich durch die israelische Brille betrachten.

Auch deshalb können die Ägypter auf gute Ratschläge aus dem Westen derzeit verzichten. Ihnen ist nicht entgangen, dass Washingtons Lieblingskandidat für die Nachfolge Mubaraks sein Geheimdienstchef Suleiman war. Also jemand, der mit Leib und Seele für das alte System stand und steht. Die Armee ist nun die zweitbeste Wahl, arbeitet ihre Führung doch sehr eng mit amerikanischen Militärs zusammen, die eine Finanzhilfe von 1,3 Milliarden US-Dollar jährlich beisteuern. In dem Preis dürfte inbegriffen sein, dass keine Politik erlaubt wird, die den ohnehin kalten Frieden mit Israel einfrieren könnte.

Interessant wird es, wenn eine wirklich demokratische zivile Regierung in Kairo an der Macht ist. Ihr werden vermutlich die ägyptischen Moslembrüder angehören, auch wenn die Menschen auf dem Tahrir-Platz deutlich gemacht haben, dass die Islamisten keine Mehrheit im Land haben.Ein weiterer Schleier ist gefallen: Die Alternative zu autokratischen oder diktatorischen Systemen im Nahen Osten heißt nicht automatisch Chaos und Islamismus. Es dürfte den Regierenden in Washington und Berlin in Zukunft schwer fallen, mit dieser Gleichung zu argumentieren, wenn es um die Unterstützung repressiver Regime in der Region geht, die Menschenrechte verachten aber Stabilität und Kampf gegen Terrorismus versprechen.

Unsere westlichen politischen Moralapostel stehen plötzlich ohne Kleider da. Sieht ganz so aus, als stünden sie auf der Verliererseite nach den erfolgreichen Volksaufständen in Tunis und Kairo. Gemeinsam übrigens mit ihren Erz-Feinden, den islamischen Extremisten aus der Al Qaeda-Ecke. Denn der Sieg der friedfertigen Menschen gegen ein brutales, vom Westen unterstütztes System, nimmt diesen Terroristen den Wind aus den Segeln. Die Jugendlichen, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo den Sturz Mubaraks gefeiert haben, haben es nicht mehr nötig, sich solchen Bewegungen aus Protest oder dem Gefühl der Ohnmacht anzuschließen. Sie haben sich selbst befreit und ermächtigt, sie haben ihren Stolz und ihre Menschenwürde zurück erobert.

Nachdem ich mehr 15 Jahre lang dem politischen Stillstand, der Demütigung und der Entmündigung der Menschen in der Region zugesehen habe, habe ich nun wieder Hoffnung. Auch wenn wir alle wissen, dass die Revolutionen noch nicht gewonnen oder vollendet sind. Aber es wäre schön, noch mehr solch befreite, lachende oder vor Freude weinende Gesichter in Arabien zu sehen. Die Sehnsucht ist geweckt, hoffentlich wird sie nicht in Blutvergießen ertränkt.

 

 

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Kleine Spende für die Armee

Hätten Sie vielleicht ein paar Euro übrig? Es dürfen auch Dollar sein. Für einen guten Zweck, versteht sich. Zum Beispiel dafür, dass sechs libanesische Soldaten nicht bei nahezu 40 Grad Celsius am Straßenrand stehen und auf Hilfe warten müssen, weil ihnen wieder mal der Sprit ausgegangen ist. Oder weil ein Truppentransporter auf den holprigen Strassen im Südlibanon oder an der Grenze zu Syrien zusammengebrochen ist. Die libanesische Armee sucht dringend großzügige Unterstützer. 

Zu dem Zweck hat Verteidigungsminister Elias Murr kürzlich ein Spendenkonto eingerichtet, in das libanesische Patrioten und andere Gewogene jede denkbare Summe einzahlen können, damit die Streitkräfte endlich kampftauglich ausgerüstet werden können. Ob es Spendenquittungen geben wird, ließ der Minister offen. Er appellierte vor allem an die zahlreichen Libanesen, die im Ausland arbeiten, ihren Beitrag zur Landesverteidigung zu leisten. Murr selbst hat gemeinsam mit seinem Vater bereits 665.000 Dollar eingezahlt, quasi als Ermunterung für potentielle Nachahmer. 

Im Verteidigungsministerium zerbrechen sich nun die Strategen sicher den Kopf darüber, wie viele private Spender man durchschnittlich benötigt, um einen modernen Militärhubschrauber zu kaufen. Oder Luftabwehrraketen, die in der Lage wären, die den Libanon ständig überfliegenden israelischen Kampf- und Aufklärungsmaschinen ernsthaft abzuschrecken.

Diese dramatische Maßnahme des Verteidigungsministers folgt einer Ankündigung von US-Kongressmitgliedern, eine zugesagte militärische Unterstützung in Höhe von 100 Millionen US-Dollar zunächst einmal auf Eis zu legen. Die Begründung: Man wolle der libanesischen Armee nicht dabei helfen, gegen die israelischen Streitkräfte vorzugehen. Die Vorgeschichte: Libanesische Soldaten hatten am 3. August bei einem Zwischenfall an der Grenze zu Israel zur Waffe gegriffen, um israelische Soldaten an einem vermeintlichen Grenzübertritt zwecks einer Baumentwurzelung zu hindern. Es kam zum Schusswechsel, bei dem ein israelischer Offizier, zwei libanesische Soldaten sowie ein libanesischer Journalist ums Leben kamen.

Seither heißt es in pro-israelischen Kreisen in Washington, der libanesischen Armee könne man nicht mehr trauen. In Israel spricht man gar von einer „Hisbollahisierung“ der libanesischen Armee. Stellt sich die Frage: Wozu ist eine Armee denn gut, wenn nicht zur Verteidigung ihrer Landesgrenzen? Ok, die Frage, ob die israelischen Soldaten tatsächlich auf libanesisches Territorium vorgedrungen waren, bleibt unbeantwortet. Denn an genau der Stelle ist der Verlauf der so genannten „Blauen Linie“, welche die Rückzugslinie der israelischen Armee im Jahr 2000 definiert, umstritten. Die internationale Grenze zwischen beiden Ländern ist ohnehin nicht festgelegt. Aber Israel hatte sich nicht an die mit der Blauhelmtruppe UNIFIL vereinbarte Regelung zu Gärtnerarbeiten im grenznahen Bereich gehalten, was die Libanesen als Aggression interpretierten. Übereifrig und nicht korrekt, kann man im Nachhinein sagen. Ebenso verhält sich die israelische Marine häufig an der nicht demarkierten Seegrenze, wenn libanesische Fischer ihr auch nur nahe kommen. Doch die Fischer antworten nicht mit schwerem Geschütz und kaum jemand verliert ein Wort darüber.  

Nun muss die libanesische Armee also wieder um die westliche Hilfe bangen. Im Westen sollte man sich wirklich überlegen, was man will: Will man die libanesische Armee stärken und zu einer ernstzunehmenden Streitmacht heranbilden, damit endlich das Hisbollah-Argument nicht mehr zieht, nur die Schiitenmiliz könne den Libanon verteidigen? Oder will man die Dinge lieber so lassen wie sie sind, dann ist es auch leichter der Hisbollah als von den USA und Israel gebrandmarkter Terrororganisation den schwarzen Peter im Konfliktfalle zuzuschieben.

Die libanesische Armee benötigt dringend eine adäquate Ausrüstung sowie entsprechendes Training  – und zwar nicht nur leichtes Gerät, Maschinengewehre und ein bisschen Munition. Sondern moderne Panzer, Truppentransporter, die nicht bei jeder Gelegenheit zusammenbrechen, Kampfhubschrauber, ein ernstzunehmende Luftabwehr und hochseetaugliche Schiffe, die auch im Winter die Patrouillen der Küste sicherstellen können. Einer Studie des amerikanischen „Center for Strategic and International Studies“ zufolge braucht die Armee mit ihren knapp über 50.000 Soldaten mindestens 1 Milliarde US-Dollar, um ein Minimum an Einsatzbereitschaft zu erlangen. Da müssten sich schon sehr viele private Patrioten zusammenfinden, um die aufs Spendenkonto zu bringen. Andernfalls hat sich auch schon Teheran angeboten. Vermutlich ein Bluff, aber wer weiß. 

 

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Begegnung mit einem deutschen Prinz in Hollywood

 

‘Prinz Frederic, Hello!’ – der deutsche Akzent war so stark, dass ich ziemlich sicher war: der Prinz ist höchstpersönlich am Telefon! Ich fragte lieber nochmal nach. Bis dahin dachte ich, Prinzen haben Butler, die den Hörer abnehmen, während die Hoheiten – so sie denn in Beverly Hills residieren – mit gekühltem Drink am Swimmingpool liegen, umgeben von Bediensteten, die ihnen jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Aber nein – Prinz Frederic geht tatsächlich persönlich ans Telefon. Vielleicht ist das noch eine Angewohnheit aus seiner Zeit als Hans Robert Lichtenberg, bevor er dank Vermittlung und Bezahlung des Titel-Großhändlers ‘Konsul’ Hans-Herrmann Weyer von Prinzessin Marie Auguste adoptiert und damit zum Verwandten von Kaiser Wilhelm wurde. 

 

Jetzt tritt der deutsche Prinz an für die Nachfolge von Arnold Schwarzenegger, will Gouverneur von Kalifornien werden. Sein Wahlprogramm: Marijuana, Prostitution und kubanische Zigarren legalisieren und versteuern, die Homo-Ehe erlauben, die Grenze zwischen USA und Mexiko öffnen. Damit will er die knapp 20 Milliarden Dollar Haushaltsdefizit ausgleichen und sich die Stimmen von Latinos, Schwulen und Lesben sichern. In Kalifornien sind das ziemlich viele. Trotz eines ziemlich wirren Wahlkampfes hat der Prinz inzwischenüber zehntausend Unterschriften gesammelt. Sein Name wird im November höchstwahrscheinlich auf den Stimmzetteln stehen. Die Unterschriften müssen nur noch auf Rechtmässigkeit geprüft werden.    

Prinz Frederic klang jedenfalls ziemlich optimistisch und kampfeslustig am Telefon. Obwohl ich ihn – wie er mir lachend erzählte – beim Abendessen mit Gattin Zsa Zsa Gabor unterbrochen hatte. ‘Das machen wir jeden Abend – Abendbrot essen und dazu Nachrichten schauen. Meine Frau sitzt ja leider im Rollstuhl und kann mich beim Wahlkampf nicht begleiten.’ Seiner Prinzessin und First Lady Zsa Zsa gehe es gut, erklärte er auf meine Nachfrage. Sie hätten zwar 1986 aus reinem Geschäftssinn geheiratet ‘Ich wollte rein in die Hollywood High Society und sie wollte Prinzessin sein’, inzwischen sei aber eine große Liebe zwischen ihnen gewachsen und sie würden einander nie verlassen. Rührend! Den Wahlkampf führe er auch, um sein Blut in Wallung zu halten und jung zu bleiben. 

Bei soviel Plauderei mit einem Prinzen vergaß ich fast, nach einem Interviewtermin zu fragen. Den bekam ich dann aber doch – vor Beginn der Schwulen- und Lesbenparade in Hollywood. Bei der fuhr der Prinz in einer Kutsche mit. Eigentlich wollte ich an dem Tag direkt vom Interview in eine Kneipe zum Fußballschauen. Aber dann war überraschend ein Platz frei in der Kutsche und der Prinz fragte, ob ich nicht mitfahren wollte. Welche Reporterin kann schon die Einladung eines Prinzen ablehnen – selbst wenn es ein Wichtigtuer mit gekauftem Titel ist – mit ihm in der Kutsche in der Schwulenparade durch Hollywood zu fahren.

Ich wurde schwach, habe unglaubliche Töne gesammelt, während der Prinz bei über 30 Grad und wolkenlosem Himmel in Uniform majestätisch winkend Wahlkampf machte – und Deutschland hat gewonnen. 

 

 

 

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Diplomatie und Kunst

Deutschlands Mann in Hongkong, Generalkonsul Frank Burbach, ist ein doppelt begabter Mensch. Er kann seinen diplomatischen Pflichten nachkommen, und er kann Bilder malen. Nach Ansicht des Hongkonger Goethe-Instituts malt Herr Burbach sogar so gute Bilder, dass dieser jüngst seine Werke in den Goethe-eigenen Ausstellungsräumen zeigen durfte. „Transition“ hieß die Ausstellung – weil sich Herr Burbach gerade in einem Übergang befinde, schreibt die Goethe-Webseite. Sein Hongkonger Posten geht nämlich gerade zu Ende und er selbst in Pension.

 

 

 

Über die Qualität der Burbachschen Kunstproduktion möchte ich mir kein Urteil erlauben (böse Zungen sprechen von „Sonntagsmalerei“). Ich weiß nur, dass es für andere in Hongkong ansässige deutsche Kunstschaffende äußerst schwer ist, in der durchaus renommierten Goethe-Galerie ausstellen zu dürfen. Ich weiß auch, dass das Goethe-Institut die „Präsentation deutscher Kultur im Ausland und interkulturellen Austausch“ (Goethe-Webseite) betreiben will. Ich wusste bislang nicht, dass sich das öffentlich finanzierte Goethe-Institut auch als Plattform für die Kunstaspirationen von Mitarbeitern in befreundeten Einrichtungen vor Ort versteht.

Übrigens ist auch die Frau des scheidenden Generalkonsuls, Eva Meier, eine Künstlerin. Sie tritt verschiedentlich als Brecht-Interpretin auf, gerne auch in deutschen Botschaftsräumen in Asien.

 

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Ohne Papiere, ohne Job – Tagelöhner in Los Angeles träumen vom besseren Leben

 

 

 

 

Ich war kurz vorm Nervenzusammenbruch – hatte viel zu tun bei der Arbeit, dazu Besuch der herumgefahren werden wollte und ich plante eine Reise nach Deutschland, die wegen der weit verstreuten Familie und Freunde eine logistische Höchstleistung erforderte. Weil ich mal wieder mehrere Sachen gleichzeitig erledigen wollte, schüttete ich mir dann auch noch Milchkaffee über den Laptop, der sofort seltsame Geräusche machte und sich bald weigerte, bestimmte Befehle auszuführen. Bevor ich komplett in Verzweiflung und Selbstmitleid versinken konnte, kam genau die richtige Geschichte, um mein Leid zu relativieren…

Für einen Bericht über illegale Einwanderer in den USA stellte ich mich morgens um sechs mit Tagelöhnern an eine Straßenecke in Los Angeles und fragte sie nach ihren Geschichten. Heraclio aus Mexiko berichtete von der Razzia, bei der er vor zwei Jahren verhaftet wurde. Seither kämpft er gegen seine Abschiebung. Seine Anwältin hat ihm geraten, nicht  zu arbeiten solange der Prozeß läuft, aber er weiß nicht, wie er ohne Arbeit seine Frau und zwei Töchter ernähren und das Zimmer bezahlen soll, dass sie sich mit einem Bruder teilen. Seine Kinder sind in den USA geboren und haben deshalb die US-Staatsbürgerschaft. Heraclio und seine Frau hoffen, dass sie eine gute Ausbildung und gut bezahlte Arbeit bekommen. Sie haben Angst, zurück in ihr Dorf in Mexiko geschickt zu werden. Candido aus Honduras erzählte mir, dass er vor drei Jahren seine Frau und drei Kinder zu Hause zurück gelassen hat und einem Schmuggler 6000 Dollar zahlte, um die Grenze zu überqueren. Auch er träumte von einem besseren Leben in Kalifornien. Doch statt wie gehofft, regelmässig Geld nach Hause zu schicken, kann der 31jährige selbst kaum überleben. Jeden Morgen steht er ab sechs Uhr in Malermontur an der selben Straßenecke, seit drei Wochen hat er keine Arbeit bekommen. Für einen Job, an dem er vier Tage arbeitete, hat er nie Geld gesehen. Der Auftraggeber versprach, den Lohn vorbeizubringen, ist aber nie wieder aufgetaucht. Candido hat Sehnsucht nach seiner Familie, sieht aber keine Möglichkeit, sie bald zu sehen. In seiner Heimat gibt es noch weniger und schlechter bezahlte Arbeit als in den USA und wenn er nur zu Besuch fahren wollte, müsste er wieder einem Schmuggler viel Geld bezahlen, um zurück nach Kalifornien zu kommen. 

Während wir redeten, hielt ein Auto am Straßenrand. Der Mann am Steuer wurde mit großen Jubelrufen empfangen, obwohl er keine Arbeit zu vergeben hatte. Wie jeden Tag brachte er um 9 Uhr 30 einen grossen Karton voller Donuts zu den Tagelöhnern. Die bestanden darauf, dass ich mir auch einen frischen zuckerbestreuten Teigkringel nehme, obwohl viele von ihnen nicht wussten, wovon sie sich und ihren Familien das nächste Essen bezahlen würden.

Die Tagelöhner hoffen auf eine Reform der Immigrationspolitik, auf Arbeitsgenehmigungen, die ihnen ermöglichen zwischen den USA und ihrer Heimat zu reisen. Von Präsident Obama sind sie enttäuscht, weil er im Wahlkampf versprach, sich für die Rechte der Einwanderer ohne Papiere einzusetzen und ihnen einen Weg zur Staatsbürgerschaft zu ermöglichen. Bisher gab es aber keine Entscheidung der US-Regierungen, die diese Versprechungen in die Realität umsetzen würde.

Zurück am Schreibtisch war ich ziemlich dankbar, dass ich Arbeit habe, Freunde aus Deutschland mich jederzeit besuchen können, ich die Reparatur meines Laptops bezahlen und – auch wenn es logistische Höchstleistungen erfordert – wann immer ich will zu meiner Familie nach Hause fliegen kann. 

 

 

 

 

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Schwarzenegger nur noch eine lahme Ente

 

Wer auf eine gute Portion humorischen Optimismus gehofft hatte bei Arnold Schwarzeneggers letzter Rede als Gouverneur zur Lage Kaliforniens am 06. Januar wurde enttäuscht. Na gut, da war zu Beginn die drollige Geschichte von Schwarzeneggers zu Hause, wo im Garten ein Pony und ein Hängebauchschwein zusammenarbeiten, um eine Dose Hundefutter zu öffnen und den Inhalt gemeinsam zu verspeisen. Die Fabel vom Pony und dem Hängebauchschwein sollte die kalifornischen Parlamentarier inspirieren, auch zusammenzuarbeiten. Was ein Pony und ein Hängebauchschwein schaffen, sollten doch auch Demokraten und Republikaner …. an den müden Lachern und dem schwachen Beifall der Parlamentarier war zu erkennen, dass der ehemals gefeierte Terminator-Gouvernator nun selbst dem Tierreich zuzuordnen ist. Er ist, wie man hier so schön sagt mit verbleibenden zehn Monaten im Amt nur noch eine “lame duck”, eine lahme Ente.

 

 

Als Schwarzenegger vor sieben Jahren antrat, die Regierung von Kalifornien mal so richtig aufzumischen mit Charisma, Muskelkraft, österreichischem Humor, jeder Menge Versprechungen von Wohlstand und Steuersenkungen sowie dem Traum von einem Vorzeige-Bundesstaat, der nicht mehr vom Rest der USA belächelt wird, überzeugte er Millionen. Kurz nach der Wahl im November 2003 unterstützten 65 Prozent der kalifornischen Wähler den Gouverneur. Heute bewerten gerade mal knapp 27 Prozent die Arbeit des Republikaners als positiv. Und er hat es sich mit fast allen ehemaligen Verbündeten verscherzt. Die Republikaner, die gehofft hatten, der Hollywoodstar würde ihnen endlich die Mehrheit im Parlament von Sacramento bringen, sind enttäuscht, dass er statt dessen viele Allianzen mit Demokraten schmiedete und in der Finanzkrise des vergangenen Jahres sogar Steuern erhöhte. Die Demokraten sind enttäuscht, dass Schwarzenegger im Sozial- und Bildunsbereich Programme für die Schwächsten kürzte. Umweltpolitik war in Kalifornien schon vor Schwarzenegger ein wichtiges Thema. Kalifornier sind durchaus stolz, dass ihr Gouverneur im Westküstenstaat gegen den Widerstand der Bush-Regierung schärfere Regelungen zur Reduzierung von Treibhausgasen, zur Förderung erneuerbarer Energie und zur Zusammenarbeit mit anderen Staaten durchgesetzt hat. Doch Schwarzenegger wird auch verdächtigt, Umweltpolitik als Sprungbrett für den nachsten Karriereschritt zu missbrauchen.

 

Wo immer der Gouvernator in Kalifornien auftaucht, erwarten ihn inzwischen Buhrufe und Demonstrationen und der Vorwurf, dass er lieber im Ausland und in Washington in Sachen Klimaschutz große Sprüche macht, anstatt sich zu Hause um die anstrengende Lösung wichtiger Probleme zu kümmern. 20 Milliarden Dollar ist der Haushalt Kaliforniens schon wieder im Minus. Nachdem sich die Parlamentarier erst vor wenigen Monaten darauf einigen konnten, wie sie die 60 Milliarden des vergangenen Haushalts ausgleichen. Die Arbeitslosenquote liegt bei zwölf Prozent und damit deutlich höher als der Bundesdurchschnitt von zehn Prozent. Banken bewerten die Kreditwürdigkeit Kaliforniens niedriger als die jedes anderen US-Bundesstaates. Schwarzenegger hat in seiner Rede einige Vorschläge gemacht, die Wirtschaft anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen. Seine Ziele für die verbleibende Zeit im Amt als Gouverneur sind ehrgeizig. Erste Reaktionen zeigen allerdings: die kalifornischen Politiker lassen sich nicht von der Pony-Hängebauchschwein-Teamarbeit im Garten des Schwarzenegger-Anwesens inspirieren. Schwarzenegger hat nicht mehr die durchschlagende Macht eines Terminators. Er spreizt die angeschlagenen Flügel nur noch wie besagte lahme Ente.

 

 

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Libanon zwischen Feuerwerk und Schusswechsel

„Michel Suleiman – die Würde der Nation“ – heißt es auf Bannern und großen Postern mit dem Konterfei des bisherigen Armeechefs und neuen Präsidenten. Personenkult wird im Nahen Osten ganz groß geschrieben und die Libanesen sind glücklich, dass sie wieder auf irgendjemanden stolz sein können. Dabei ist Michel Suleiman nur ein Verlegenheitskandidat, der kleinste gemeinsame Nenner im libanesischen Polit-Bazaar. Immerhin konnten sich die wichtigsten Mächte, die hinter den zerstrittenen politischen Lagern stehen, mit ihm anfreunden – also sowohl die USA und Saudi-Arabien auf der pro-westlichen Seite sowie Syrien und Iran auf der Seite der Opposition.

Dass mit Suleiman in der angeblichen Vorzeigedemokratie des Nahen Ostens der nun schon seit Jahren herrschende Trend einer Militarisierung des Präsidentenpostens fortgesetzt wird, scheint außer dem Kolumnisten Issa Goraieb von der Zeitung „L’Orient-le-Jour“ niemanden zu stören. Die Erwartungen an den 59jährigen Suleiman sind riesig. Wieder weht dieser frische Wind durch den Zedernstaat, der wispert „Jetzt wird alles anders“ und „Jetzt geht es aufwärts“. Der wehte mir auch 1998 ins Gesicht, als der damalige Armeechef Emile Lahoud das Amt übernahm. Er wurde mir damals von allen meinen Gesprächspartnern in den höchsten Tönen als Saubermann angepriesen, der endlich mit der Korruption im Land aufräumt, er sei der große politische Hoffnungsträger. Dann kam die Ernüchterung: Im Null-Komma-Nichts unterwarf Lahoud sich den Machtverhältnissen und wurde zu einem Instrument der syrischen Entscheidungsträger im Land. Schließlich, als Syrien nicht mehr hoch im Kurs stand, demontierte ihn der Westen und stellte ihn kalt. Aber davon redet jetzt niemand, denn die Libanesen sind in Feierlaune, das Land trägt mit Nationalflaggen und Suleiman-Postern sein Festtagsgewand. Man will es sich gut gehen lassen, wenigstens für ein paar Tage. Die Börse zeigt seit Tagen Hochstimmung, Politiker versprechen eine traumhafte Sommersaison. Die Libanesen wollen endlich wieder das tun, was sie am besten können: Geschäfte machen. Doch ein Restaurantbesitzer im Hafenstädtchen Byblos, der seit drei Jahren strampelt, um sich über Wasser zu halten, winkt ab. „Wir leben von einem Tag zum anderen. Unseren Politikern ist alles zuzutrauen. Dies ist der Libanon, vergessen sie das nicht.“ Weise Worte, gelassen ausgesprochen.

 

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Katharsis verweigert

Seit fünf Tagen erhalte ich nun Anfragen zu Interviews und Artikeln über diesen unappetitlichen Schädelskandal der Bundeswehr in Afghanistan. Ich habe mich auch schon reichlich dazu geäußert, obwohl ich gestehen muss, dass es eigentlich nicht viel zu sagen gibt. Denn wie groß die Aufregung in Deutschland auch sein mag – hier in Afghanistan ist sie es nicht.

Weder in Kabul noch in Jalalabad, wo ich zurzeit sitze, hat das Thema Wellen geschlagen. Über die Gründe dafür wurde genug spekuliert. Was ich momentan viel spannender finde ist die Beharrlichkeit, mit der die deutsche Öffentlichkeit in Form der anrufenden Kollegen darauf wartet, dass es hier endlich kracht. Wütende Mobs, brennende Puppen der Bundeskanzlerin, abgefackelte NGO-Büros, Bombenattentate auf Bundeswehrkonvois – das alles wurde offenbar erwartet. Und dann? Einfach nichts.

Eine echte Enttäuschung diese afghanischen Islamisten. Wie können sie es wagen, unsere Erwartungen nicht zu erfüllen? Sie verweigern uns einfach die Katharsis, die Reinigung für den reuigen Sünder, nach der wir Deutschen uns doch so sehnen. Kennen sie denn nicht die Theorie Hegels, wonach der Straftäter erst durch die Strafe seine Würde zurückerhält? Doch statt uns eine kräftige Lektion zu erteilen, lassen sie uns allein mit unserer Schuld.

Undankbar, irgendwie. Wenn das kein Grund ist, die Bundeswehr aus Afghanistan abzuziehen!

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