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Global Climate Action: Statement von Novia Adventy Juran, 23, Umweltaktivistin aus Borneo

In der Vergangenheit hat die Welt meine Heimat Borneo in seiner Exotik gesehen und nannte sie die „Lunge der Erde“ – darin klingen all die Hoffnungen auf die Schönheit und Gnade Gottes mit. Doch dieses Borneo ist nicht mehr da, verändert, jetzt sprechen alle nun noch über das unglückliche Schicksal der Insel, die zerstört und ausgeplündert wird. Ich bin hier geboren und fühle mich verpflichtet, die Umwelt meiner Heimat zu erhalten und zu schützen. Daher engagiere ich mich beim Borneo Institut in der indonesischen Stadt Palangkaraya. Hier haben wir ein Forum eingerichtet, wo alle Ebenen der Gesellschaft in einen Dialog miteinander treten können. Wir versuchen, die Sensibilität der Menschen zu schärfen für (wirtschaftliche) Richtlinien, die Umweltschäden mitverursachen.

Die Hauptursache für die Umweltzerstörung auf Borneo sind der Ausbau von Ölpalmenplantagen und der Bergbau, die sich auch auf den Klimawandel auswirken. Wälder, in denen Flora und Fauna beheimatet sind, werden gerodet und durch Plantagen oder Minen ersetzt. Diese Situation ist kritisch und besorgniserregend. Fast alle Gebiete in Zentral-Borneo sind mittlerweile von Überschwemmungen, Erdrutschen und Flächenbränden bedroht. Diese gefährlichen Folgen der Umweltzerstörung sind weder ein Fluch Gottes noch eine Glaubensprüfung. Sie sind die Schuld von Menschen, die sich nicht um die Natur scheren. Dies ist eine logische Folge der Gier einer Handvoll Menschen, die Macht über andere Menschen ausüben und ihre eigenen Interessen über die der Gemeinschaft stellen.

Diese Situation verschärft sich, wenn der Staat sich nicht auf die Seite des Volkes. Statt ökologische Nachhaltigkeit zu verteidigen, schlagen und verfolgen Militär und Polizei Menschen, die sich für die Umwelt einsetzen. Selbst gewöhnliche Umweltaktivisten werden kriminalisiert und beschuldigt, Fortschritt und Entwicklung zu behindern. 2018 war ich selbst mit Provokationen von staatlichen Institutionen konfrontiert, die Gewohnheitsrechte der Einwohner kriminalisieren wollten. Solche Erfahrungen verleiten manchmal, gleichgültig zu werden. Doch meine Liebe und mein Respekt für dieses Land haben mich für einen harten Kampf geschmiedet.

Wir hoffen, dass Länder in Europa und insbesondere Deutschland – als Land, das sich um ökologische Nachhaltigkeit und Menschenrechte bemüht – weiterhin ein Klima der Demokratie schaffen. Ein Klima, das eine ökologische Perspektive vermittelt und die Umwelt und die gesamte Schöpfung schützt. Darüberhinaus hoffen wir auch auf eine Anerkennung und Unterstützung für die indigenen Völker, weil diese ausgezeichnete Umweltschützer sind: Sie sehen die Wälder als ihre „Mütter“ und den Schutz der Natur setzen sie gleich mit dem Schutz der Gebärmutter der Menschheit. Wir müssen von unseren Vorfahren lernen, wie wichtig der Schutz der Umwelt für die Erde ist, auf der wir leben. Ich hoffe, dass sie zum Vorbild für die jüngere Generation werden können, um die Umwelt weiter zu bewahren und ökologische Gerechtigkeit zu vermitteln.

 

 

 

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8 Wochen eingesperrt – Kindsein während COVID19

Die Kinder in Paris hatten es nicht leicht in den letzten Jahren: Erst ging man nicht raus wegen der Terroroattacken (Je suis Charlie!), dann wegen der Gelbwesten-Demonstrationen, bei denen die Black-Block-Bewegung jeden Samstag die Innenstadt zerstörte und die Polizei mit Tränengas dagegen hielt, dann kam der Generalstreik und dann die Pandemie. Was macht so eine Aneinanderreihung von Krisen mit den Kindern? Wie erleben sie es, ständig zuhause bleiben zu müssen?

In den Medien kommen zu diesem Thema meist nur Erwachsene zu Wort, Eltern oder Psychologen. Ich wollte aber wissen, was die Kinder denken und habe deshalb einfach eine Reportage mit meinem eigenen Sohn realisiert.

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Das ist das Ergebnis.

Es zeigt mir, dass Kinder viel häufiger selbst zu Wort kommen sollten. Sie haben ihre eigene Meinung und die sollte gehört werden. Auch wenn es um Produkte für sie geht.

Um die Zeit während des Corona-Lock-down zu nutzen und etwas Kreatives mit meinem Kind zu machen, habe ich mit ihm deshalb auch Buchbesprechungen gedreht. Denn auch hier entscheiden meist die Erwachsenen, ob ein Buch gut ist oder nicht. Nicht die Kinder.

 

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Ich hoffe schwer, das wir (mein Sohn und ich) die Reihe weiterführen können. Also bitte klicken und kommentieren. Kinder brauchen Motivation, um sich zu trauen, ihre Stimme zu erheben. Geben wir ihnen die Möglichkeit.

 

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Frauke Petrys Blaue Zukunft gibt es schon: in Finnland

Farbenspiele im winterlichen Helsinki (Foto: Bomsdorf)

Farbenspiele im winterlichen Helsinki (Foto: Bomsdorf)

Frauke Petry verlässt die AfD und gründet angeblich eine neue Partei mit “blau” im Namen. Schon ihr Vorwurf an die neuen Chefs (wenn man Gauland, Weidel so bezeichnen mag), dass sie ihr zu rechts geworden seien, erinnert sehr an Finnland. Nun also angeblich auch der Name “Die Blauen”.

In Finnland wählten die Wahren Finnen (auch Basisfinnen genannt) mit Jussi Halla-aho im Juni 2017 einen neuen Parteivorsitzenden, der seinem Vorgänger, Außenminister Timo Soini, zu rechts wahr und zwar so viel, dass er die Partei verließ und damit die Regierung rettete. Soini hat dann die Blaue Zukunft gegründet. Die Abspaltung ist in gewisser Weise mit der von Petry zu vergleichen, einmal war es der frühere Vorsitzende, der in der Regierung war, einmal die amtierende Vorsitzende, die samt ihrer Partei erstmals in das nationale Parlament kam.

Der Blauen Zukunft werden weniger als 2% der Wählerstimmen vorausgesagt während sich die Wahren Finnen noch bei mehr als 10% halten. Womöglich wird Petrys Neugründung auch dieses Schicksal blühen. Einen Artikel von mir zu Dänischen Alternativen für Deutschland gibt es hier.

 

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Podcast #1: Die Weltreporter persönlich

Die Weltreporter im Gespräch – Ab sofort lassen wir Sie noch näher ran, an unsere Arbeit in aller Welt: Im WR-Podcast erzählen künftig alle drei Monate Korrespondenten von Jobs und Recherchen zwischen Durban und Dänemark, geben einen Einblick  in den Korrespondentenalltag, live & lebendig. Wir schalten unsere Mikrophone für Sie auf Empfang und laden ein in unsere Schreib- und Tonbüros auf fünf Kontinenten. Der erste WR-Podcast führt hinter die Kulissen des größten Korrespondenten-Netzwerks freier Auslandsjournalisten, das über 47 deutschsprachige Reporter in fast ebenso vielen Ländern vereint.

Kerstin Zilm im per Wolldecke isolierten Studio.

Wer sind die Weltreporter-Journalisten und was bewegt sie? Erfahren Sie, unter welchen Bedingungen Geschichten entstehen, die Sie später gut gemischt online oder im deutschen Radio hören. Verbringen Sie 20 Minuten mit uns – jenseits der Schlagzeilen. In diesem ersten Podcast treffen Sie einen Weltreporter-Gründer, hören, welches amerikanische Geräusch unsere Kollegin in Los Angeles zuweilen von der Arbeit abhält und was Kollegen in Krisenregionen auch in schwierigen Zeiten zum Durchhalten motiviert.
Ganz nebenbei bekommen Sie Antworten auf eine Reihe von Fragen, die Sie sich vielleicht noch nie so gestellt haben 😉 Zum Beispiel:

  • Wie lange dauert es, einen Dänen kennenzulernen?
  • Wer ist die erfolgreichste Immigrantin der Niederlande?
  • Wo treffen sich Karel Gott und Prager Hochkultur?
  • In welcher Region ist ein Plan B überlebenswichtig?
  • Was bedeutet Reporterglück in Tunis?
  • Und wie genau klingt es, wenn ein südafrikanisches Nashorn ins Mikrophon atmet?

Ägypten-Korrespondent Jürgen Stryjak während des Volksaufstandes 2011 auf dem  Tahrir-Platz.

Der erste Weltreporter Podcast widmet sich aber auch ernsteren Themen: Im Interview berichtet Jürgen Stryjak, der seit 17 Jahren in Kairo arbeitet, vom Arbeit und Leben in einem Land, in dem Anschläge und Unterdrückung zum Alltag gehören. Er schildert, welche Spuren es hinterlässt, wenn man tagein tagaus über Menschen berichtet, die Gewalt oder Terror erleben, die desillusioniert oder hoffnungslos sind. Jürgen Stryjak erzählt auch, was ihn motiviert, sich von schwierigen Situationen nicht unterkriegen zu lassen. Er erzählt von einer Begegnung mit Amir Eid und seiner Indie-Band Cairokee, die er bei Proben in Kairo traf. Auch sie lassen sich nicht einschüchtern. Eines ihrer jüngeren Lieder heisst Akhr Oghniyya – zu deutsch: »Das letzte Lied«. Selbst wenn dies mein letztes Lied wäre, singt Amir Eid im Refrain, selbst dann würde ich noch von der Freiheit singen.

Janis Vougioukas nach der WR-Gründung im Jahr 2007 während einer Recherche über Folgen der Umweltverschmutzung in China.

Außerdem lernen Sie Janis Vougioukas kennen. Janis ist heute Stern-Reporter in Shanghai. Er war es, der im Jahr 2000 mit einer Handvoll anderer Journalistenschüler die Idee hatte, das Weltreporter-Netzwerk zu gründen. Im Gespräch erinnert sich Janis daran, wie damals auch die Einsamkeit als Freischaffender mit ein Motiv dafür war, das Abenteuer Weltreporter zu wagen. “Wir waren überrascht, wie viel man über Internet-Abstimmungen und Skype effizient, global und günstig organisieren konnte”, erzählt Janis Vouigoukas als ihn Kerstin Zilm über diverse Zeitzonen hinweg während einer Recherche in Hongkong erreicht. Damals begann die Medienkrise, und er und die 20 ersten Weltreporter waren begeistert, wie rasch sich die Existenz des weltweiten Reporternetzwerks in den Redaktionen herumsprach: “Es war toll zu sehen, wie dankbar die Redaktionen, die nicht mehr selbst schnell jemanden losschicken konnten oder wollten, unser Angebot angenommen haben.” Heute gehören zum Netzwerk 47 freie Korrespondenten in aller Welt und 27 Kollegen, die inzwischen nicht mehr als freie Journalisten arbeiten oder wieder von Deutschland aus berichten.

Leonie March interviewt einen Fährtenleser.

Zusammengestellt haben diese “20 Minuten Weltreporter persönlich” unser Podcast-Team in drei Kontinenten und diversen Zeitzonen. An Mikro und Mischpult agierten Kerstin Zilm in Los Angeles, Leonie March in Durban und Sascha Zastiral in London.

Viel Spaß beim Zuhören, und bis zum nächsten Podcast – in spätestens drei Monaten.

Im Helikopter über Durban

 

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Die Rückkehr der Angst – Feature bei SWR2

2017 ist Putin seit fünf Jahren wieder Präsident Russlands. In der Zeit hat sich viel verändert. Am schlimmsten ist, dass die Angst zurückgekehrt ist.
Wie das geht und welche Folgen das für Demokraten hat, erzählt das Feature anhand von vier Menschen, die ich seit dem Winter 2011/2012 immer wieder getroffen habe. www.russianangst.de

Die Sendung kann man hier hören:
http://nachmoskau.de/archives/2997

Und man kann das Buch lesen, das die “Russian Angst” beschreibt.
http://www.russianangst.de

 

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Frankreich wählt – weiter

Der Zeitungsverkäufer ist guter Laune – obwohl er heute am Feiertag arbeiten muss. „Neun von zehn Parisern haben für Emmanuel Macron gestimmt“, sagt er erfreut und ist stolz auf seine Stadt. Er sei erleichtert über das Wahlergebnis. „Das ist ein Sieg für die Republik und für Europa.“ Der symbolhafte Auftritt Macrons mit der Europahymne „Ode an die Freude“ vor dem Louvre habe ihm gefallen nach den vergangenen Wahlkampfwochen voller Aggressionen und Hassparolen. Doch dann runzelt er die Stirn und sagt: „Wir haben ja leider noch den dritten und vierten Wahlgang vor uns.“

Er meint damit, dass im Juni noch die beiden Wahlgänge der Parlamentswahlen bevorstehen. Wird Macron mit seiner Bewegung „En marche“ es dann auch schaffen, eine Regierungsmehrheit zu holen? Eine erste Umfrage von Ipsos/Sopra Steria hat ergeben, dass 61 Prozent der Franzosen nicht wollen, dass der neue Präsident mit seiner Partei in der Nationalversammlung eine absolute Mehrheit hat. Wird der neue Präsident tatsächlich die Macht haben, seine Reformen durchzusetzen oder werden ihn die Franzosen ausbremsen, weil sie ihm einen Premier aus einem anderen Lager zur Seite stellen? Macron habe erst gewonnen, wenn er am 18. Juni eine Mehrheit habe, kommentierte ein Politologe am Wahlabend.

Tatsächlich geht der Wahlkampf schon längst weiter. Politiker der traditionellen Parteien bringen im Fernsehen ganz schnell ihre Glückwünsche für den neuen Präsidenten über die Lippen, um dann für sich zu werben. Der stramme Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon von „La France insoumise“ sprach bereits von „résistance“, Marine Le Pen will den Front National umbauen und sieht ihre rechtsextreme Partei als erste Oppositionspartei im Land. Die Republikaner sinnen auf Rache – hatten sie doch vor einem halben Jahr bereits an den sicheren Sieg geglaubt. Und auch die Sozialisten wollen Macron „keinen Blankoscheck ausstellen“.

Zudem machen folgende Zahlen deutlich, dass Macrons weiterer Marsch kein leichter sein könnte: Zwar hat er 66,1 Prozent der gültigen Stimmen erhalten. Aber nur 44 Prozent der eingeschriebenen Wahlberechtigten haben für ihn gestimmt, 22 Prozent für le Pen, 25 Prozent sind nicht zur Wahl gegangen, neun Prozent der Wähler haben einen weißen Zettel in den Wahlumschlag gesteckt oder einen ungültigen Stimmzettel – das ist ein Rekord. Und klar ist auch: Sehr viele Wähler haben am Sonntag für die Republik gestimmt und gegen die rechtsextreme Le Pen, nicht unbedingt für Macrons Wahlprogramm.

Und dennoch: Der jüngste Präsident Frankreichs macht vielen Franzosen Hoffnung. Immer wieder ist von einem Generationswechsel die Rede, von einer Chance für die jungen Franzosen. Vor vier Jahren hatte noch niemand diesen Mann auf dem Schirm. Dass er jetzt Präsident ist, grenzt in diesem fest gefügten Politik-System an ein kleines Wunder. Wer das geschafft hat, der sorgt vielleicht noch für andere Überraschungen.

 

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Nach Stockholm: Ein Beitrag zur Debatte um Terror und Journalismus

Vorvergangenen Freitag, 7. April 2017, wurde ein Anschlag in der Stockholmer Innenstadt verübt. Ähnlich wie in Berlin raste ein LKW durch die Fußgängerzone und der Fahrer ermordete so vier Menschen. Vier Menschen, die ihren Angehörigen entrissen wurden und deren Leben durch Terror gewaltsam beendet wurde. Eine schreckliche Tat, die dazu geführt hat, dass viele Schweden öffentlich ihr Mitgefühl ausgedrückt sowie der Polizei gedankt haben.

Kommentare zu meinem DW-Kommentar

Kommentare zu meinem DW-Kommentar (Screenshot)

Über die Hintergründe des mutmaßlichen islamistischen Terroristen habe ich unter anderem für Zeit online (hier über die schwedischen Reaktionen und hier unmittelbar nach der Tat) berichtet und auch einen Kommentar für die Deutsche Welle geschrieben. Auf Artikel und Kommentar wurde wiederum mit einigen Leserkommentaren geantwortet. Die Debatten, die das Internet ermöglicht, sind eine hervorragende Möglichkeit, das Meinungsmonopol (wenn man es denn so nennen möchte) der Journalisten zu brechen.

Ziemlich häufig jedoch, geht es längst nicht um Debatten, sondern was in den Kommentarspalten zu lesen sind, sind Pauschalverurteilungen und Wutausbrüche. Als Antwort auf einige Kommentare unter meinem Kommentar für die Deutsche Welle habe ich selber eine Antwort verfasst. Denn Debatten sind es, die nötig sind, und nicht Pauschalvorwürfe. Hier also meine Antwort (die bei DW nicht mehr veröffentlicht werden konnte, da die Kommentarfunktion nur kurzzeitig offen ist):

“Vielen Dank für die zum großen Teil kritischen Kommentare, auf die ich gerne kurz antworten möchte. Die Angehörigen der Opfer dieser grausamen Tat verdienen unser aller Mitgefühl und denen, die in Stockholm getötet worden sind, gilt es zu gedenken. Das ist bei einer solchen Tat eine Selbstverständlichkeit und anders als manch Kommentator schreibt, meine ich nicht, dass „die Opfer und ihre Familien schnell vergessen werden müssen“. Derartiges steht in meinem Kommentar nicht. Das wird jedem, der diesen wirklich gelesen hat, klar sein.

Was ich in meinem Kommentar hingegen tue, ist auf die gesellschaftlichen Folgen einer derartigen Terrortat zu fokussieren. Das heißt ganz und gar nicht, die schrecklichen Folgen für die Familien in Abrede zu stellen. Dass manch ein Leser es so gelesen hat, gibt mir zu denken, manchmal kommt man nich umhin zu erwägen, ob es Leser gibt, die aus einem Text nur das herauslesen, dass sie lesen möchten. Für eine Familie ist es grausam, einen Angehörigen durch eine derartige Terrortat zu verlieren, diesen gilt unser Mitgefühl.

Im Text erwähne ich auch andere Taten und Unfälle, die in Teilen dem aktuellen Attentat ähneln. Immer wieder wird einem bei Vergleichen der Vorwurf gemacht, gleichzusetzen. Doch vergleichen und gleichsetzen sind verschiedene Dinge. Von daher wird in diesem Text Terror nicht mit einem Unfall gleichgesetzt. Verglichen werden kann, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Das mag manchmal schwieriger sein als einfach gleichzusetzen, doch es sind die differenzierten Betrachtungen, die Diskussionen ermöglichen, die Politik und Gesellschaft weiterbringen können. Wer die Terrorgefahr überhöht und andere Risiken verdrängt (so sind alleine im Januar auf Deutschlands Straßen 234 Menschen ums Leben gekommen – Tendenz glücklicherweise fallend), hat einen großen Wunsch der Terroristen womöglich schon erfüllt: panisch und irrational zu reagieren.

Zuletzt noch kurz zum Zitat des israelischen Historikers Yuval Noah Harari. Es handelt sich selbstverständlich um eine Art bildhaften Vergleich. Ihm geht es explizit darum, was derartiger Terror (die Fliege) mit Europa (der Porzellanladen) macht. Auch Harari spricht also von gesellschaftlichen Auswirkungen und nur weil er die schrecklichen Folgen für die einzelnen Familien nicht erwähnt, negiert er diese noch lange nicht. Es geht auch ihm um eine Betrachtung der möglichen gesellschaftlichen Bedrohung. Das gesamte Interview mit ihm ist im Spiegel 12/2017 erschienen und auch online zu lesen (derzeit jedoch nur gegen Bezahlung). Dass Terrorismus (die Fliege) bekämpft werden sollte, dafür würde sich sicherlich auch Harari aussprechen.

Dass Terror durch geschlossene Grenzen nicht verhindert wird, zeigen Beispiele der letzten Jahrzehnte wie NSU und RAF. Und: Nein, andere (rechts- wie linksxtremistische) Terrortaten zu erwähnen, ist weder Gleichsetzung noch Verharmlosung islamistischen Terrors, sondern lediglich ein differenzierter Beitrag zur Debatte.”

 

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Aarhus – Europäische Kulturhauptstadt schaut aufs Umland

 Gleich am Tag nach dem Donald Trump zum US-Präsidenten gekürt wird, übernimmt das dänische Aarhus die Rolle als Europäische Kulturhauptstadt 2017 (zweite im Bunde ist dieses Jahr Pafos in Zypern). Kurz nachdem einer, der von der EU wenig hält, seine Position an der Spitze der US einnimmt, versucht ebenjene Institution bei Ihren Bürgern einmal mehr ein Gemeinschaftsgefühl entstehen zu lassen.

Dass Aarhus zur europäischen Kulturhauptstadt 2017 in Dänemark ernannt wurde, hat in Norddeutschland viele enttäuscht. Schließlich hatte sich Konkurrent Sonderburg mit Flensburg beworben und hätte so – obwohl noch gar nicht wieder an der Reihe – auch Deutschland zu ein wenig europäische Kulturhauptstadt verholfen.

Theater in der Kulturhauptstadt Aarhus (Foto: Bomsdorf)

Theater in der Kulturhauptstadt Aarhus (Foto: Bomsdorf)

Nun also Aarhus und auch das hat für Norddeutschland seinen Reiz. Schließlich ist es von Hamburg in nur ein paar Stunden zu erreichen. Zudem wird ein großer Teil Dänemarks mit einbezogen.

Zu einer Zeit, wo immer mehr von abgehängten Randgebieten die Rede ist, setzt Dänemark auf die weniger bekannten Ortschaften und versucht Gäste dorthin zu locken und den Einheimischen etwas zu bieten.

Die bildende Kunst nimmt einen ziemlich großen Raum ein. Internationale Zugpferde wie Olafur Eliasson (darf in Dänemark, wo er aufgewachsen ist, eigentlich nie fehlen), Barbara Kruger und Thomas Hirschhorn werden mit weniger bekannten Namen kombiniert.

Gleich zu Anfang, ab 21. Januar, wird Signe Klejs für „Hesitation of lights“ eine zentrale Brücke in Aarhus in wechselndes Licht tauchen. Sie bezieht sich auf den dänischen Astronomen Ole Rømer, der herausfand, das Licht sich bewegt. Viele Besucher werden aber wohl eher an Eliassons bunte begehbare Installation auf dem Dach des nahen Museums Aros denken.

Randers wird mit seinem Gaia Museum für Outsider Art einbezogen und in Silkeborg eröffnet die Osloer Schau, die Asger Jorn und Edvard Munch zusammenbringt.

In Herning, nicht weit von der bei Surfern und Familien aus Deutschland so beliebten dänischen Nordsee wird die diesjährige Ausgabe der „Socle du Monde Biennale“ ins Programm einbezogen.

Auch das Dänemark fernab der Großstadt Aarhus wird mit ins Programm aufgenommen. (Foto: Bomsdorf)

Auch das Dänemark fernab der Großstadt Aarhus wird mit ins Programm aufgenommen. (Foto: Bomsdorf)

Das dortige Kuratorenteam ist ganz anderen Biennalen würdig, so gehört dazu auch Daniel Birnbaum, früherer Venedig Biennale Kurator und jetzt Direktor des Moderna Museet in Stockholm. Die Biennale in Herning ist – der Titel lässt es erahnen – dem italienischen, aber etliche Jahre in Dänemark lebenden Piero Manzoni gewidmet. Der hat einst in Herning einen Sockel aufgestellt auf der die ganze Erdkugel ruhen soll. Im kommenden Jahr wird die Ausstellung sich dem Thema „Scheiße und Körper“ widmen. Das steht zwar so nicht offiziell im Programm, so fasste es im Gespräch in Aarhus aber eine Mitarbeiterin mit der vielen Dänen so üblichen bodenständigen Offenheit zusammen.

Wer die Liste der beteiligte Künstler anschaut, kann sich schon denken, warum sie die Thematik so zusammengefasst wird. Wim Delvoye wird sein künstliches Verdauungssystem „Cloaca“ zeigen und Pierre Manzonis „Merda d’artista“ gehört ohnehin zum örtlichen Museum.

Im Jorn Museum in Silkeborg wird ab Mitte Februar die Schau “Jorn + Munch” aus dem Osloer Munch Museum gastieren (zum Konzept der Ausstellungsserie mehr in meinem Artikel für The Wall Street Journal zur Ausstellung Melgaard + Munch).

Natürlich ist auch der in Dänemark aufgewachsene und in Berlin arbeitende isländische Künstler Olafur Eliasson mit von der Partie in Aarhus (nicht aber in Herning). Er ist durch seine Mitarbeit am Bühnenbild für das aus New York kommende Ballet „Tree of Codes“ vertreten. Tickets dafür versucht Aarhus 2017 seit Wochen wie ein Circus unter die Leute zu bringen, indem behauptet wird, es sei nun aber wirklich bald ausverkauft.

 

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Zygmunt Bauman ist tot, sein Wunsch noch nicht erfüllt

Der ältere, sehr ruhige sprechende, aber doch energische Herr, der mir vor etwas mehr als fünf Jahren in Breslau für eine gute Stunde zum Gespräch gegenübersaß, war mit Sicherheit einer der beeindruckendsten Interviewpartner, die ich je gehabt habe. Natürlich, weil er so klug war, aber nicht nur deshalb, sondern auch wegen seiner Milde und Nachdenklichkeit, wird mir Zygmunt Bauman und wird mir das Gespräch sicher auf ewig in Erinnerung bleiben. Dass die manchmal so vertrackte Autokorrektur des Computers aus seinem Nachnamen gerade Batman machen wollte, passt da. Die Künstlerin Shirin Neshat, die norwegische Königin – das sind zwei weitere Gesprächspartner, die lange nachwirkten.

Batman traf ich am Rande, schon wieder der dubiose Autokorrektur-Fehler. Also: Bauman traf ich während des Europäischen Kulturkongresses in Breslau 2011 (hier der Link zu seinem Abschlussvortrag). Ob Polen heute noch so eine Veranstaltung machen würde? Ich weiß es nicht. Baumans Wunsch von damals jedenfalls ist weiterhin aktuell: Zerschneiden wir den Gordischen Knoten, sagte er mir für das Interview in Die Welt:

“Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist ein gordischer Knoten. Er kann nicht gelockert werden. Wenn er zusammenbleibt, wird er nur fester. Wie Alexander der Große uns gelehrt hat, kann er nur durch Zerschlagen gelöst werden. Es ist ohne Frage sehr riskant, Palästina die Unabhängigkeit zu erlauben, denn das wird auf die eine oder andere Art zu einer neuen Front führen. Aber ich denke, das Risiko einer weiteren Verweigerung der Unabhängigkeit ist größer. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist geprägt von lebhafter Feindschaft, vom Unwillen, miteinander zu sprechen, Kompromisse einzugehen und so weiter. Wenn die aktuelle Situation beibehalten wird, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation.

Die Welt: Sie meinen, den Palästinensern Eigenständigkeit zuzusagen, würde den gordischen Knoten durchschlagen?

Zygmunt Bauman: Lasst es uns versuchen und den Palästinensern eine Stimme geben. Auch aus israelischer Sicht sollte es die bessere Lösung sein, denn zumindest haben die Palästinenser dann eine Wahl. Was sie dann machen, wird ihre Entscheidung als Staat sein. Sie werden dafür verantwortlich sein, was sie tun. Das sind sie jetzt nicht, denn sie sagen: ‘Wir sind besetzt, wir können nichts tun.’ Es geht hier nicht nur darum, palästinensische Wünsche zufriedenzustellen, sondern den Konflikt zu lösen. ”

Heute ist Zygmunt Bauman verstorben, der Konflikt aber dauert weiter an, ja, hat sich sogar verschärft. Auch seine Hoffnung für und seine Aufforderung an Europa, so richtig die Analyse natürlich ist, ist heute – Anfang 2017 – der Realisierung nicht näher gekommen:

“Der einzige Bereich, in dem Europa der Welt wirklich etwas bieten kann, ist die Kultur. Das meine ich in einem anthropologischen Sinne. Vielleicht sollte man besser von einer europäischen Zivilisation sprechen. Europa hat die schwere Kunst gelernt, jahrhundertealte Konflikte, Vorurteile und Feindschaften hinter sich zu lassen.”

Dieses Jahr, wo in Frankreich und in Deutschland gewählt wurde, auch nochmal Baumans Hinweis auf die zwei zentralen europäischen Akteure und ihre gemeinsame schreckliche Historie sowie positive Gegenwart:

“Europa kann dem Rest der Welt und vor allem dem Nahen Osten etwas bieten. Schauen Sie sich Frankreich und Deutschland an, heutzutage lieben diese Länder sich. Es ist also machbar und kein Wunder.”

Das ganze Interview erschien im September 2011 im Feuilleton von Die Welt und ist heut so lesenswert wie damals. Hier nochmal der Link zum Interview in Die Welt.

Noch ein letzter Ausschnitt, der ein wenig Vorlauf braucht und in dem Bauman so souverän mit möglichen Zuspitzungen von Journalistenkollegen umgeht, wie es häufiger sein sollte:

“Die Welt: Kürzlich haben Sie der polnischen Zeitung “Polityka” ein Interview gegeben, das auch in Deutschland Reaktionen hervorrief. Es geht vor allem um eine Passage. Da ich nur aus einer Übersetzung zitieren kann, korrigieren Sie mich bitte gegebenenfalls. Sie sagten, dass die von Israel erbaute Mauer …

Zygmunt Bauman: Da gab es eine Verzerrung. Ich wollte darauf hinaus, dass die Erinnerung an das Getto tief im jüdischen Bewusstsein ist. Ich überlegte, ob es den Regierenden in Israel in den Sinn gekommen wäre, eine Mauer zu bauen, wenn es dieses Trauma nicht gäbe. Immerhin haben Ihre Landsleute, die Deutschen, ihre Unannehmlichkeiten gelöst, indem sie eine Mauer gebaut haben und sich abgrenzten. Das Gleiche wurde von den Israelis mit der palästinensischen Mauer getan. Ich habe nicht impliziert, dass hinter der Mauer wie im Falle von Warschau Massenmord stattfindet. Die Israelis stellten fest: Hier sind Leute, mit denen wollen wir nicht kommunizieren, von denen wollen wir uns abgrenzen. Da kamen sie auf die Idee, eine Mauer zu bauen.

[…]

Die Welt: Günter Grass hat in einem Interview mit “Ha’aretz” kürzlich von sechs Millionen deutschen Kriegsgefangenen gesprochen, die in Russland ermordet worden seien. Das ist ihm zum Vorwurf gemacht worden.

Zygmunt Bauman: Ich habe davon gehört, aber das Gespräch nicht gelesen. Meine Worte sind verzerrt worden, also denke ich, da hat auch jemand seine Worte verzerrt. Solange ich es nicht von ihm gehört habe, möchte ich mich nicht dazu äußern. In jedem Fall stimmt es, dass der Krieg unglaublich unmenschlich ist. Das habe ich auch im Interview mit “Polityka” klargemacht, aber es ging dann leider unter: Ich bin besorgt über die moralische Verwüstung, die die Besetzung Palästinas bei den Israelis anrichtet, besonders bei Jüngeren, die direkt als Teil einer Besatzungsmacht geboren werden. Krieg ist für beide Seiten zerstörerisch, es gibt keine Sieger. Wer angefangen hat, ist eine andere Frage, aber sobald der Krieg einmal begonnen worden ist, gibt es auf beiden Seiten Opfer.

Die Welt: Eine solche Aussage heißt aber nicht, die Singularität des Holocaust infrage zu stellen?

Zygmunt Bauman: Nein. Der Holocaust war eine organisierte, bürokratische Operation mit klarem Zweck. Es waren keine spontanen Tötungen, es war organisiert und geschah über Jahre hinweg. Das Ziel war eines, das den Sowjets mit den deutschen Kriegsgefangenen nicht in den Sinn kam: die Vernichtung einer ganzen Nation und nicht nur des Militärs. Ich habe Günter Grass nicht gelesen, aber nehme nicht an, dass er eine Gleichsetzung im Sinn hatte. Vermutlich meinte er: ‘Ja, wir sind schuld am Holocaust, aber viele von uns sind auch ermordet worden’, und das stimmt. Es gibt bei einem Krieg nicht die Möglichkeit, dass eine Seite ohne Verluste bleibt. Deshalb muss Krieg ein für allemal beendet werden. Das ist genau das, was Europa dem Rest der Welt bieten kann.”

 

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So tickt(e) die mögliche neue Regierungschefin Islands

Kathrin Jakobsdóttir, damals isländische Kultusministerin, im Interview mit think:act

Katrin Jakobsdóttir, damals isländische Kultusministerin, im Interview mit think:act

Zwei Frauen dürften in Island nach der gestrigen Parlamentswahl künftig eine stärkere Rolle spielen: die Piratin Birgitta Jónsdóttir und die Linksgrüne Katrín Jakobsdóttir. Erstere hat zwar bisher vor allem im Ausland mehr Medienaufmerksamkeit genossen, doch letztere steht der Partei mit den zweitmeisten Stimmen vor (hier Links zu meinem Vorbericht zur Wahl am 29.10.) und hat bereits Regierungserfahrung. Jakobsdóttir hat also bessere Aussichten in einer neuen Koalition links der Mitte Regierungschefin zu werden. Vor einiger Zeit hatten die Piraten zudem gesagt, dass sie selbst wenn sie der größere Koalitionspartner sind, lieber eine Linksgrüne Premierministerin hätten.

Grund genug, sich Jakobsdóttir einmal genauer zu widmen. Ich habe sie mehrfach in Island und andernorts getroffen und publiziere hier gerne die deutschsprachige Version eines Interviews, das ich im Herbst 2012 am Rande der Buchmesse in Göteborg mit ihr für think:act, das Magazin von Roland Berger, führte.

„Was wir jetzt in Island erleben, ist die positive Seite der Krise“

Clemens Bomsdorf: Die europäische Banken- und Finanzkrise begann in Island. Nach dem Kollaps der isländischen Wirtschaft folgte der Einbruch in Europa. Solche Krisen kennen wir aus Filmen und Büchern, aber nicht aus dem echten Leben. Wo sehen Sie als Literaturwissenschaftlerin, die die isländische Wirtschaftskrise hautnah miterlebt hat, die Unterschiede zwischen Fiktion und Realität?

Katrín Jakobsdóttir: In der Literatur haben Krisen etwas Romantisches. Doch die Krise in Island war überhaupt nicht romantisch. Es kam alles sehr plötzlich: Wir waren vielleicht das erste Land, das abstürzte. Wir hatten dieses riesige Bankensystem, zwölfmal so groß wie unser BIP, und es brach einfach zusammen. Die Krise war in Island sehr ernst. Jetzt sehen wir die Gegenwart und die Zukunft positiver. Vielleicht werden uns diese Ereignisse eines Tages wie ein Roman vorkommen.

CB: Kurz bevor die isländischen Banken nach dem Crash nationalisiert wurden, schloss der damalige Premierminister Geir Haarde eine Ansprache mit „Gott rette Island“. Das klang wie ein Stoßgebet. Was dachten Sie, als Sie diese Worte hörten?

Kathrin Jakobsdóttir, damals isländische Kultusministerin, im Interview mit think:act

Katrín Jakobsdóttir, damals isländische Kultusministerin, im Interview mit think:act

KJ: Wir waren alle sehr überrascht. Natürlich hatten sich die Geschehnisse abgezeichnet. Meine Partei hatte schon einige Zeit Schwächen des Finanzsystems aufgezeigt. Doch niemand hatte mit diesen Worten gerechnet. Dieser Moment fühlte sich surreal an, wie aus einem Film. Island hat nur knapp über 300.000 Einwohner, und wir alle erlebten diesen Moment. Alle sahen die Rede – selbst Isländer im Ausland, die sich noch als Teil unserer winzigen Nation fühlten. Jeder weiß noch, wo er war, als er diese Worte hörte.

CB: Würden Sie jetzt, vier Jahre später, sagen, dass Gott Island tatsächlich gerettet hat? Was ist mit dem Land und seinen Menschen seitdem passiert?

KJ: [lacht] Nun, wir sind immer noch da. Vielleicht hat sich das isländische Volk seitdem nicht sehr verändert. Vieles, was Island ausmacht, seine Menschen und die Gesellschaft, gibt es immer noch. Ich weiß nicht, ob Gott Island gerettet hat, aber die Dinge haben sich definitiv nicht ganz so schlecht entwickelt wie erwartet.

CB: Ihre Partei ist schon immer dagegen, dass Island der EU beitritt. Trotz aller Probleme in der Euro-Zone – hätten eine Mitgliedschaft und eine gemeinsame Währung nicht geholfen, die isländische Krise zu verhindern?

KJ: Als Politikerin weiß ich, dass man keine hypothetischen Fragen beantworten sollte! Doch die beste Antwort auf diese Frage ist wahrscheinlich Irland. Leider gab es in Irland trotz seiner Mitgliedschaft eine ähnliche Krise wie bei uns. Beide Länder hatten gemeinsam, dass sie in den letzten zwei Jahrzehnten neoliberale Politiken umgesetzt hatten. Meines Erachtens ist das der Hauptgrund für die Krise.

CB: Als die Krise ausbrach, gab es in Island Demonstrationen, die aber im Vergleich zu denen in Spanien und Griechenland kleiner und gewaltlos waren. Warum reagieren Isländer so anders als Südeuropäer?

KJ: Wenn man bedenkt, wie wenig Einwohner Island hat, dann waren die Demonstrationen gar nicht so klein. Sie zogen 15-20.000 Menschen an, also 5-7 % unserer Bevölkerung – das entspräche in Spanien 3 Millionen Menschen und 700.000 in Griechenland. In meinem Land haben Proteste keine lange Tradition. Die einzigen richtigen Demonstrationen, die es vor der Krise gegeben hatte, fanden 1949 statt, als Island der NATO beitrat.

CB: Versuchen die Isländer – statt sich zu beschweren oder zu demonstrieren – lieber, mit den Dingen klarzukommen und das zu verändern, was sie können?

KJ: Da ist vielleicht was dran. Isländer arbeiten gern an den Dingen, statt nur gegen sie zu protestieren. In der Krise ist viel Positives passiert. Ich denke da an die Nationalversammlung, wo 1.800 zufällig ausgewählte Isländer in einem Stadion zusammenkamen und über die Werte für unsere Zukunft diskutierten. So steht z. B. Vertrauen hoch im Kurs.

CB: Oft heißt es, Island könne man aufgrund seiner Größe nicht mit anderen Ländern vergleichen. Stimmt das wirklich, oder ist das nur eine Ausrede, um eine Politik wie in Island nirgendwo anders umzusetzen?

KJ: Natürlich ist es ein kleines Land, und das hilft, wenn es um demokratische Teilhabe geht. Was wir jetzt in Island erleben, ist die positive Seite der Krise. Die Menschen sind sich ihrer Rollen und Möglichkeiten besser bewusst. Das ist die wichtigste Lektion, die uns die Krise erteilt hat: Dass wir alle für unsere Gesellschaft verantwortlich sind. Jeder kann etwas tun. Ich glaube, das gilt auch für größere Länder, obwohl manche Dinge in kleineren Ländern wahrscheinlich schneller gehen.

CB: Ihre politische Karriere ist durch die Krise erst richtig in Schwung gekommen. Die Neuwahlen brachten Ihre Partei in die Regierung. Wie hat die Krise Sie noch beeinflusst? Ohne zu persönlich zu werden: Hat sich die Krise auf Ihr Konto ausgewirkt?

KJ: Fast jeder in Island war von der Krise betroffen. Als der Crash kam, sanken die Hauspreise dramatisch, und die Hypothekenrückzahlungen stiegen, da sie inflations- oder an ausländische Währungen gebunden waren. Eine Freundin meinte neulich, es sei komisch, dass ich als Regierungsmitglied denselben Ärger mit meinen Hypothekenzahlungen habe wie sie. Aber das gilt für viele isländische Politiker. Dadurch können wir die Probleme der Isländer besser verstehen. Wie wir in Island sagen: Wir bzw. die meisten von uns sitzen in derselben Suppenschüssel.

CB: Welche politischen Entscheidungen haben Ihr Ministerium und andere getroffen, um die Krise zu bewältigen?

KJ: Wir mussten drastische Haushaltskürzungen vornehmen. Wir zahlen jetzt große Summen, um unsere Schulden zu tilgen. Wir wollten das Gesundheitssystem, die Schulen und das Wohlfahrtssystem verschonen. Doch wir haben auch dort gekürzt – bis zu 10 % in drei Jahren. Die öffentlichen Ausgaben in anderen Bereichen wurden in drei Jahren um 20 % gekürzt. In meinem Ministerium haben wir bei staatlichen Einrichtungen wie Museen und Bibliotheken gekürzt. Für mich war es wichtig, die Schulen zu verschonen, nicht nur als Bildungsstätten, sondern weil dort Menschen zusammenkommen. Wenn man seinen Job verliert, ist es wichtig, nicht allein zu sein. Durch den Ausbruch der Krise haben die Menschen das Vertrauen in das Finanzsystem und die Politiker verloren, aber sie glaubten immer noch an das Bildungssystem. Alle, ganz gleich welcher Herkunft, gehen zur Schule. Bildung ist kostenlos, und Schulen schaffen demokratisches Bewusstsein und Gleichheit.

CB: Island hat vom Internationalen Währungsfond (IWF), der von einigen für seine neoliberale Politik kritisiert wird, einen Kredit bekommen. Es heißt, die von Ihrer Regierung ergriffenen Maßnahmen entsprächen nicht den vom IWF in der Regel geforderten Reformen. Stimmt das?

KJ: Nun, wir sind noch nicht mit allen Maßnahmen fertig. Aber alles in allem haben Sie Recht. Die Beantragung des IWF-Kredits war m. E. ein verzweifelter Akt. Ich hatte gesehen, was der IWF von afrikanischen Ländern verlangt – drastische Haushaltskürzungen, Privatisierung etc. Wir haben Haushaltskürzungen vorgenommen, aber wir haben nicht viel von dem umgesetzt, was der IWF i.d.R. empfiehlt. Privatisierung stand nach der Krise nicht auf dem Plan, nur vorher, als wir eine rechte Regierung hatten. Aber die Menschen stehen diesem Prozess mittlerweile kritisch gegenüber, da sie merken, dass sie weniger Macht haben, wenn man Dienstleistungen privatisiert, und dass Abgeordnete nichts mehr zu sagen haben. Ich denke, Island hat die Krise ganz gut überstanden.

CB: Island hat Kapitalkontrollen eingeführt, um die Wirtschaft besser zu lenken. Momentan sind die Wechselkurse künstlich. Es sieht aus, als gehe es Island relativ gut. Aber ist das nicht eine weitere Blase – eine, die platzen könnte, wenn die Kapitalkontrollen gelockert werden?

KJ: Die Lockerung der Kontrollen wird sich auf jeden Fall auswirken. Wie das aussehen sollte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Eine sehr schnelle Lockerung, wie sie einige wollen, würde der Wirtschaft definitiv einen Schlag versetzen. Die jetzige Regierung findet, man solle die Dinge langsam angehen.

CB: Um zur Literatur zurückzukommen: Bücher fordern manchmal unsere Ansichten und Gedanken heraus, indem sie uns neue Dinge erleben lassen. Die Isländer lesen mehr als andere Nationen. Hat ihnen die Literatur durch die Krise geholfen?

KJ: Ich glaube, schon. Isländische Autoren haben die Krise als Hintergrund für ihre Bücher genommen. Ich habe meine Magisterarbeit über isländische Kriminalliteratur geschrieben: Viele Krimis aus den Jahren 2008 und 2009 handeln von unehrlichen Bankern oder Politikern, die ermordet wurden. Also ja, ich glaube, wir haben die Literatur – Kriminalromane, aber auch ernstere Stoffe – therapeutisch genutzt.

 

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Island weg von Panama, hin zu Europa?

Auf dem Flughafen (fernab sowohl von Panama als auch von Island) sitzend, wird dies nur ein kurzer Blog-Post vor allem mit Hinweisen zu meinen Artikeln in Die Zeit online und Das Parlament.

Auf Island wird es sich nach dem kommenden Wochenende (Samstag, 29.10.) zeigen, wie es weitergeht. Nachdem das offshore-Konto seiner Frau (hier dazu mein Text für Zeit online) den Premier Sigmundur David Gunnlaugsson von der Fortschrittspartei im April zu Fall gebracht hat, steht der andere – und kaum weniger skandalöse – Koalitionspartner Unabhängigkeitspartei in Umfragen erstaunlich gut da. Doch zu einer Neuauflage der konservativen Zweierregierung dürfte es kaum reichen.

Also Zeit für die Opposition, die erheblich EU freundlicher ist. Oder es wird die neue liberal-konservative Partei “Reform” mit ins Bündnis aufgenommen. Auch das geht kaum, ohne wieder mit der EU über einen möglichen Beitritt zu sprechen. So ist unabhängig vom Wahlausgang die isländische EU-Annäherung ziemlich wahrscheinlich. Dazu und dazu wieso die Piratenpartei auf Island anders als in Deutschland und Schweden weiter gut da steht, mehr in meinem heutigen Artikel für Das Parlament, den es hier online zu lesen gibt.

 

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ORF berichtet: Die Welt(reporter) zu Gast in Raiding

Gestern ging die Weltreporter-Jahreskonferenz in Raiding, Österreich, zu Ende. Drei Tage tagten Weltreporter aus allen Kontinenten. Zur öffentlichen Diskussion am Samstag hatten wir neben Weltreportern wie Kilian Kirchgessner, Prag, und Karim El-Gawhary, Kairo auch Hasnain Kasim vom Spiegel zur Diskussion geladen. Ganz aktuell hier schon einmal ein Link zu dem Beitrag den das österreichische Fernsehen ORF zur Veranstaltung brachte [NB: Ab Ende Juli vermutlich nur noch hier bei YouTube zu sehen.].

 

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Nexit in Sicht?

Er sieht sich bereits als nächster Ministerpräsident der Niederlande. Um die Grenzen hermetisch zu schliessen, den Bau von Moscheen samt Koran zu verbieten und mit einem Referendum dafür zu sorgen, dass dem Brexit möglichst schnell ein Nexit folgt: Geert Wilders, 52 Jahre alt, erklärter Feind von Islam und Europa.

“Jetzt sind wir an der Reihe!” frohlockte der blondierte Populist nach dem Brexit.  Schon seit Jahren warnt Wilders ebenso unermüdlich wie erfolgreich vor einem Asyltsunami, schimpft über die Milliarden, die an Brüssel verschwendet werden, und plädiert auf einen Nexit.

Im europäischen Parlament hat er genügend Bündnispartner für eine eigene Fraktion gefunden. Im Sommer 2014 präsentierte er sie zusammen mit Marine LePen vom Front National erstmals den anderen Abgeordneten. Er sprach von einem neuen D-Day, “einem Befreiungstag für Europa – von Europa”.

Auf nationaler Ebene musste Wilders bei den letzten Wahlen ein paar Niederlagen einstecken. Aber dank sei Flüchtlings- und Europakrise liegt er in den Umfragen nun so weit vorne wie nie zuvor in seiner Karriere: Seine “Partei für die Freiheit” PVV könnte bei den nächsten Parlamentswahlen im März 2017 stärkste Fraktion werden und die Zahl ihrer Sitze fast verdreifachen auf 36 der insgesamt 150 Mandate.

Dabei ist sie innerlich zerissen und keine richtige Partei, denn sie hat nur ein einziges Mitglied: Wilders. In Deutschland würde die PVV nicht zu Wahlen zugelassen, die niederländischen Gesetze sind weniger streng. Auf diese Weise will Wilders die Kontrolle und alles fest im Griff behalten. Auf staatliche Zuschüsse muss er verzichten; wie sich die PVV finanziert, ist nicht transparent.

Aber selbst wenn Wilders 2017 tatsächlich der neue Ministerpräsident der Niederlande werden sollte: Von einem Nexit ist er weit entfernt. Zwar tendieren einer jüngsten Umfrage zufolge 48 % der Niederländer zu einem EU- Austritt. Aber dazu bräuchte Wilders eine Mehrheit im Parlament – und so weit will es bis auf seine PVV keine andere niederländische Partei kommen lassen.

 

 

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Weltreporter-Forum 2016 – hier ist das Programm!

Das Programm des Weltreporter-Forums 2016 in Raiding/Burgenland steht:

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Wir freuen uns mit unseren internationalen Gästen auf einen spannenden Sommer-Nachmittag auf dem Land. Und auf Sie!

 

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WELTREPORTER-FORUM
»Die Welt in Bewegung«
Samstag, 23. Juli in Raiding bei Wien

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Noch nie schien die Welt so instabil und aus den Fugen geraten wie jetzt – zumindest aus europäischer Sicht. Globalisierung, Terror, Kriege und blutige Konflikte. Migranten, Flüchtlinge und Finanzströme: Die Ratlosigkeit ist bei Wählern wie Politikern gleichermaßen groß.

Transparenz herzustellen und Zusammenhänge aufzuweisen gehört zu den Hauptaufgaben von Journalisten im Allgemeinen und Auslandskorrespondenten im Besonderen. Denn sie sind die Experten vor Ort, sie erleben die Wirklichkeit jenseits der Grenzen hautnah. Lösen lassen sich die Probleme der Welt an einem Nachmittag nicht. Aber gemeinsam einen Blick hinter die Kulissen werfen, das können wir:

Beim WELTREPORTER-FORUM am 23. Juli berichten die Weltreporter und ihre Gäste von dem, was in ihren Welten gerade in Bewegung ist.

WELTREPORTER-FORUM
»Welt in Bewegung«

Keynotes, Kurzvorträge im Pecha-Kucha-Format + eine Podiumsdiskussion

mit Alexandra Föderl-Schmid (Chefredakteurin Der Standard), Karim El Gawhary (Weltreporter + ORF-Korrespondent), Hasnain Kazim (Spiegel), Florian Klenk (Chefredakteur Falter), Wieland Schneider (stellv. Auslandschef Die Presse), Cornelia Vospernik (Moderatorin ORF), Autor & Bruno-Kreisky-Preisträger Najem Wali & Weltreportern von allen Kontinenten

Samstag, 23. Juli 2016
14:00 – 18.30 Uhr
Franz Liszt-Konzerthaus
A-7321 Raiding

Eintritt frei

ANFAHRT:

Für Interessenten steht ein Bus-Service von Wien nach Raiding zur Verfügung:

Abfahrt Wien am Karlsplatz am 23. Juli ist um 12:00  hinter dem Musikverein, Bösendorferstr. 12
Abfahrt Raiding zurück nach Wien um 20:00.
Kosten: 12 Euro

Anmeldung unter raiding@weltreporter.net

 

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Das große Klimatreffen in Paris

Historisch. An Tagen wie diesen fällt dieses Wort recht häufig. Nicht nur François Hollande sagt es in seiner Auftaktrede, um auf die Bedeutung des UN-Klimagipfels hinzuweisen. „Es geht um die Zukunft des Planeten, um die Zukunft des Lebens“, sagt Frankreichs Präsident. (Und ein klein wenig geht es auch um seine Zukunft, denn ein Erfolg dieser Mega-Konferenz könnte seine Umfragewerte verbessern helfen – 2017 ist bereits Präsidentschaftswahl.)

Aber auch ein COP-21-Besucher aus Paris sagt am Morgen im Pendelbus zum Gipfel-Gelände beim Blick auf die benachbarte Autobahn: „An einem Montagmorgen eine leere Autobahn bei Paris – das ist historisch.“ Tatsächlich wurde die A1 gesperrt, um die Sicherheit der anreisenden 151 Staats- und Regierungschefs zu gewährleisten. Eine Autobahn also nur für die VIPs. Nur ein Fahrzeug der Gendarmerie steht einsam und allein auf der Abfahrtsspur.

Paris ist im doppelten Ausnahmezustand. Zum einen hat die Regierung nach den Terroranschlägen am 13. November den Ausnahmezustand für drei Monate ausgerufen. Zu Beginn der Konferenz gedenken die Staatschefs den Opfern mit einer Schweigeminute. Gleichzeitig ist Paris an diesem Montag in einem Verkehrs-Ausnahmezustand. Die Pariser sollten auf das Auto verzichten an dem Tag, hieß es, am besten sogar zu Hause arbeiten.

Die Konferenz findet genau gesagt gar nicht in Paris statt, sondern in einer Vorstadt im Norden: Le Bourget ist bekannt für seinen bereits 100 Jahre alten Flugplatz (vor allem Geschäftsflugverkehr) und sein Messegelände, wo alle zwei Jahre die Pariser Luftfahrtschau stattfindet. Von hier aus sind es noch 20 Kilometer bis zum Hauptstadt-Flughafen Charles-de-Gaulle, das Stade de France ist gleich nebenan. An jeder Straßenkreuzung dieses kleinen tristen Vorort-Städtchens stehen nun Polizisten. 2800 Beamte schützen die Konferenz-Festung rund um das Messegelände. In den großen Messehallen ist aber die eigene UN-Polizei für die Sicherheit zuständig. „Ein großer Teil von uns kommt aus New York“, sagt der UN-Sicherheitsmann im blauen UN-Kostüm.

Vor den Toren von Paris sollen sich die über 40 000 Konferenzteilnehmer trotzdem wie mitten in Paris fühlen. Die Plenarsäle heißen hier „Seine“ oder „Loire“. Eine Allee zwischen den Hallen hat den Namen „Champs-Elysées“. Am Ende steht ein kleiner Eiffelturm, zusammengebaut aus roten Metallstühlen.

Der Gipfel habe von Anfang an ein großes Problem, sagt ein Experte am ersten Tag: nämlich die riesigen Erwartungen, die in den Auftakt-Reden erneut geschürt werden. Als ob hier in Paris die Welt gerettet werden könnte mit dem Vertrag, der nach zwei Wochen verabschiedet werden soll. So einen Wunder-Vertrag werde es nicht geben. Aber vermutlich einen wichtigen, großen Schritt auf dem weiterhin schweren, langen Weg im Kampf gegen die Erderwärmung.

 

 

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Wird diese strenge Dänin die neue UN-Flüchtlingskommissarin?

Die damalige dänische Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt mit dem damaligen afghanischen Präsidenten Hamid Karzai in Kopenhagen am 2. Mai 2013 (Foto: Bomsdorf).

Eine internetaffine Überschrift für die dänische Selfie-Queen… Der UNHCR ist seit Monaten wieder einmal eine vielzitierte Institution, schließlich ist es jene UN-Einrichtung, die sich um die Flüchtlinge dieser Welt kümmert. Und die chronisch unterfinanziert ist, was mit zu den vielen syrischen Flüchtlingen beitrug wie Thomas Gutschker vor kurzem in der FAZ schrieb. Demnächst tritt der derzeitige UN Flüchtlingshochkommissar Antonio Guterres ab und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt wird hinter den Kulissen bereits ein Nachfolger gesucht.

Offizielle dänische Kandidatin ist die ehemalige dänische Premierministerin Helle Thorning-Schmidt. Wegen ihrer strammen Asylpolitik erscheint die auf den ersten Blick wenig geeignet. Doch gerade das könnte ihr helfen gegen den Deutschen Achim Steiner zu gewinnen, schrieb ich kürzlich in Das Parlament.

„Wir haben die Asylregeln drastisch verschärft, als die ersten in 12 Jahren,“ sagte Helle Thorning-Schmidt im diesjährigen dänischen Wahlkampf. Unter anderem wurde der Familiennachzug erschwert.

Zwar verlor sie die Wahl, wurde aber vor kurzem von ihrem Nachfolger im Amt des Premiers als Chefin des UNHCR nominiert. Aus Deutschland kandidiert Achim Steiner, derzeit Chef des UN-Umweltprogramms.

Die strenge dänische Asylpolitik, die nach Thorning-Schmidts Abwahl im Sommer von ihrem Nachfolger weiter verschärft wurde, passt kaum zum UNHCR. Schließlich will der die Rechte von Flüchtlingen sichern und dafür sorgen, dass diese Asyl beantragen und eine sichere neue Heimat finden können. Dänemark hingegen wird vorgeworfen, Probleme auf die Nachbarländer Deutschland und Schweden abzuwälzen. Es gilt deshalb als „Ungarn des Nordens“.

Doch die strikte Haltung könnte Thorning-Schmidts Vorteil werden. Denn die Politiker vieler Länder stehen der dänischen Position näher als der deutschen. Angesichts der zunehmenden Anzahl von Flüchtlingen, die weltweit Sicherheit und eine neue Heimat suchen, sehen sie sich und ihre Länder überfordert. Eine UNHCR-Chefin, die für eine restriktive Flüchtlingspolitik steht, wäre da – so widersprüchlich das auch klingen mag – womöglich gewünscht.

In ihrer Heimat allerdings regt sich Kritik daran, ausgerechnet Thorning-Schmidt zur Flüchtlingskommissarin zu machen. „Ernennt Steiner!“, überschrieb die linksalternative Zeitung Information einen Kommentar. Der deutsche Kandidat sei fachlich besser qualifiziert, hieß es. Und der Publizist Herbert Pundik kritisiert Thorning-Schmidts Asylpolitik als „kleinlich“. Angesichts dessen sei es jetzt allenfalls „opportunistisch“, wenn sie sich nun plötzlich für Flüchtlinge einsetzen werde.

 

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Standortvorteil “Verbuschung”

Katalanische DNIEigentlich wollte ich an dieser Stelle schon längst über die zum Quasi-Referendum erklärten, katalanischen Wahlen geschrieben haben, aber ich kam bisher nicht dazu, weil ich mit den Nachwehen eines zum Politikum gewordenen Interviews beschäftigt war. Ein ARD-Kollege und ich haben uns am Freitag vor der Wahl mit Oriol Amat, Wirtschaftsprofessor und Nummer 7 der separatistischen Junts pel Si-Liste getroffen. Ursprünglich sollte es um mögliche wirtschaftliche Konsequenzen einer Sezession gehen, das Interview mit dem Experten der Gegenseite war bereits geführt. Aber schon bald sprachen wir von möglichen Szenarien nach einem Regierungswechsel in Spanien. Als ein sehr wahrscheinliches Szenario schien Amat ein Madrider Angebot zu Verhandlungen um ein neues Autonomiestatut. Dass eine solche Offerte von den Katalanen angenommen würde, schien ihm wahrscheinlich. Ich war überrascht: Seit Jahren demonstrieren regelmäßig Hunderttausende für einen „eigenen Staat“, die „In-, Inde-, Independència“-Rufe sind fester Bestandteil der politischen Folklore und in jedem zweiten Interview beschwören Politiker, „es gebe keinen Weg zurück“. Zwei Tage vor der „plebiszitären“ Wahl ein Autonomiestatut als mögliche Lösung zu präsentieren, ist etwa so, als lasse man Sprinter monatelang im Hochland für Olympia trainieren, nur um sie dann zur Bushaltestelle joggen zu lassen. Ich fragte nach. Amat blieb dabei.

Was der Wirtschaftsprofessor da sagte, bestätigte, was viele langjährige Korrespondenten vermuten: dass es innerhalb der heterogenen Junts pel Sí-Liste Differenzen über Weg und Ziel gibt, dass der Minimalkonsens nicht Unabhängigkeit um jeden Preis, sondern Verhandlungen mit Madrid und Brüssel sind. Vom Gezerre um Freigabe des Gesamtinterviews (einen Tweet hatte ich unmittelbar nach Interview abgesetzt), vom Druck und den widersprüchlichen Gedanken, die mir dabei durch den Kopf gingen, von der Unterstützung durch die Kollegen vor Ort und vom Círculo de corresponsales, erzähle ich gern mal an anderer Stelle. Samstag Nachmittag packte ich jedenfalls einen Ausschnitt aus dem Interview auf Soundcloud, die Online-Zeitung Eldiario.es brachte die Geschichte, El País, La Vanguardia, Antena 3 und ein halbes Dutzend anderer Medien nahmen das Thema auf, die beiden Unabhängigkeitslisten veröffentlichten Kommuniqués. Natürlich schmeicheln solche 15 Minuten Ruhm dem journalistischen Ego, wesentlicher ist für mich eine andere Erkenntnis: Freie Korrespondenten haben einen Standortvorteil. Wir sind meist lange genug in einem Land, um auch die Zwischentöne einer Debatte zu verstehen.  Botschaften und Sender wechseln ihre Mitarbeiter gerne aus, um einen “frischen Blick von außen” zu garantieren oder – weniger nett gesagt – “Verbuschung” zu vermeiden. Aber genau diese Expertise ist unser großes Kapital. Und unverzichtbar, wenn es um Analyse, Interpretation, um Hintergrund geht. Das hoffe ich zumindest.

 

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Gefährliche Seilschaften in Dänemark

Es mag nach Dänischer Volkspartei klingen, aber hier gehen die Sozialdemokraten mit strafferen Asylgesetzen auf Wählerjagd

Es mag nach Dänischer Volkspartei klingen, aber hier gehen die Sozialdemokraten mit strafferen Asylgesetzen auf Wählerjagd. (Foto: Bomsdorf)

Nun ist es doch so gekommen wie es kurz vor der Wahl niemand erwartet hatte: die Dänische Volkspartei ist stärkste Kraft im bürgerlichen Lager geworden und Europa stellt sich schon auf neue Grenzkontrollen, zunehmende dänische Sympathie für britische EU-Kritik und noch mehr Einwanderungskritische Töne aus dem Norden ein.

Zu recht, denn die 21.1% der Stimmen dürfte die DF für eine entsprechende Politik nutzen. Und für an die Sozialdemokraten erinnernde Sozialpolitik. Das nämlich wird im Ausland häufig vergessen. Die DF verbindet Anti-Migrations-Politik mit Plänen den Wohlfahrtsstaat weiter auszubauen (zumindest für die, die dann noch im Land sind).

Allerdings ist noch lange nicht ausgemacht, ob DF auch in die Regierung gehen wird. Derzeit sieht es eher nicht danach aus. Denn in Dänemark ist der Wahlverlierer zum Sieger auserkoren worden. Lars Løkke Rasmussen dürfte Regierungschef werden obwohl seine liberale Partei Venstre das schlechteste Ergebnis seit einem Vierteljahrhundert einfuhr und nur drittstärkste Kraft bei der Wahl am 18. Juni wurde.

Trotz des Wahlerfolgs der DF möchte Parteichef Kristian Thulesen Dahl nämlich nicht Premierminister werden, ja womöglich will er seine Partei nicht einmal in der Regierung haben. „Es bringt nicht immer die stärkste Macht mit sich in den Ministerautos zu sitzen. Wir sind dort, wo der politisch Einfluss am Größten ist und das bedeutet nicht automatisch in der Regierung“, so Thulesen Dahl. In jedem Fall wolle er für Rasmussen als Premier stimmen, so der DF-Chef. Koalitionsgespräche sollen Anfang Juli abgeschlossen sein.

In Dänemark sind Minderheitsregierungen üblich und um nicht im Koalitionspoker zu viele Kernanliegen aufzugeben könnte Thulesen Dahl es vorziehen, Venstre lediglich prinzipiell zu unterstützen. Dann könnte seine Partei in bestimmten Punkten die Gefolgschaft verweigern. „Wenn wir an einer Regierung beteiligt sind, dann sind wir von deren Übereinkunft gebunden. Wenn nicht, dann sind wir frei, stets für unsere Hauptpunkte zu kämpfen“, so Thulesen Dahl.

Damit räumt er ein, dass er wenig davon hält Kompromisse zu suchen. Dabei macht das doch eigentlich Politik aus. Lieber möchte der DF-Chef weiterhin die Möglichkeit haben Oppositionspolitik betreiben zu können und nicht beweisen zu müssen, seine Ideen auch wirklich umsetzen zu können. Wenn seine Rechnung aufgeht, dann bringt dass seiner Partei in Zukunft noch mehr Stimmen.

Analysen zum Thema von mir in der heutigen Schweizer Sonntagszeitung (hier gegen Bezahlung), beim Sender SRF (leider nicht online verfügbar) und in Das Parlament.

 

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Fettnäpfchenführer Paris erschienen

Wärmt Paris? Oder bringt einen die Stadt eher zum Frösteln? Das fragte sich unser Paris-Weltreporter Michael Neubauer, als er morgens an der Metro einmal eine Pariserin mit einem Strickpulli gesehen hat, auf dem eine Wärmflasche abgebildet war. Sein jetzt erschienener „Fettnäpfchenführer“ über Frankreichs Hauptstadt erzählt viel darüber, wie die Pariser ticken. In der Métro, im Restaurant, in ihrer Freizeit, am Nationalfeiertag oder an Silvester. Er liefert Geschichten über Mentalitätsunterschiede, warnt vor der Andouillette und spricht mit einem Liftboy auf dem Eiffelturm über diesen Sehnsuchtsort. Es gibt eine Anleitung zum Glücklichsein im Restaurant, Ausgeh- und Spartipps, Informationen über das Hochhaustrauma der Pariser und über die Rettung des Qualitätsbaguettes. Für nach Paris Ausgewanderte dient der Reiseknigge auch als Ratgeber bei Heimweh – mit Adressen, wo man an Schwarzwälder Kirschtorte und Oktoberfestfähnchen rankommt.

Fettnäpfchenführer Paris. Ein Reiseknigge für die Stadt unterm Eiffelturm. Conbook Verlag, 352 Seiten.

http://www.conbook-verlag.de/buecher/fettnaepfchenfuehrer-paris/

 

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Die Dänin, die gegen Googles gefährliche Machenschaften kämpft

Magrethe Vestager? Nie gehört! Das dürfte bis vor kurzem außerhalb Dänemarks das Standard-Frage-Antwort-Spiel gewesen sein. Doch jetzt macht Vest-äjer (so ungefähr sollte man den Nachnamen aussprechen) Giganten wie Google und Gazprom Konkurrenz. Und bekommt dafür jede Menge Aufmerksamkeit.

Sie ist seit November 2014 EU-Wettbewerbskomissarin und seit ein paar Tagen international in den Schlagzeilen.

Wer wie so viele Briten, Amerikaner, Deutsche etc. die dänische Tv-Serie “Borgen” (in Deutschland gelaufen unter dem Titel “Gefährliche Seilschaften”) gesehen hat, hat mit Vestager schon ein wenig Bekanntschaft geschlossen. Denn die Hauptperson, Spitzenpolitikerin Birgitte Nyborg, ist ihr und Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt nachempfunden.

Mehr zu Vestager in meinem aktuellen Porträt für Zeit Online.

 

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Smog in Paris

Die Dame versucht, am Metro-Eingang ihr Ticket zu entwerten – doch es funktioniert nicht. „Madame, heute ist die Metro gratis, Sie können einfach durch die Schleuse gehen“, sagt ein junger Franzose. Noch hat es sich nicht überall herumgesprochen: Seit drei Tagen ist der Nahverkehr in und um Paris umsonst. Das freut viele, auch die Touristen. Doch der Grund dafür ist weniger schön: Frankreichs Hauptstadt leidet unter Smog.

Die Pariser husten sich mal wieder durch ihre Stadt. Wie bereits genau vor einem Jahr hängt eine Smog-Wolke über der Metropole. Mehrere Tage hintereinander wurden die Feinstaub-Grenzwerte überschritten. Die Luftqualität ist an solchen Smog-Tagen in Paris zeitweise genauso schlecht wie in einem nicht gelüfteten Zimmer von 20 Quadratmetern, in dem acht Raucher gleichzeitig rauchen, stellten im vergangenen Jahr Forscher fest. Die ganze Region leidet immer wieder unter der miesen Luftqualität: 2013 sind in der Region Île-de-France die Feinstaub-Grenzwerte an 135 Tagen überschritten worden, die EU erlaubt nur 35.

Über den Dächern von Paris herrscht dicke Luft

Über den Dächern von Paris herrscht dicke Luft

Wie genau vor einem Jahr greift die Regierung zu drastischen Mitteln: Heute gilt ein Teil-Fahrverbot. Das heißt: In Paris und in 22 angrenzenden Vorstädten dürfen nur die Autos und Motorräder fahren, deren Kennzeichen mit einer ungeraden Zahl enden, alle anderen müssen stehen bleiben. In der ganzen Stadt kontrollieren 750 Polizisten, ob die Fahrer sich daran halten. 22 Euro kostet die Strafe für denjenigen, der trotzdem mit seinem Auto losdüst. Gleichzeitig wurde auf den meisten Straßen die Höchstgeschwindigkeit um 20 Stundenkilometer reduziert.

Vor einem Jahr zeigte das Fahrverbot Wirkung: Die Feinstaubbelastung nahm um sechs Prozent ab. Warum wartete die Regierung also jetzt tagelang? Wohl weil man vor den Départementswahlen am Sonntag die Wähler nicht verärgern wollte. Die Zeitung “Le Monde” fragte deswegen kritisch: „Wie viele Leben ist eine Wählerstimme wert?“

Die Behörden geben dem Wetter Mitschuld am Smog: ein Hochdruckgebiet über Frankreich, kein Wind und Regen, der den Dreck in der Luft wegpustet und fortspült. Doch die eigentlichen Verursacher sind andere: Die Schwerindustrie mit ihren Abgasen, das Düngen in der Landwirtschaft und vor allem die endlosen, stinkenden Blechlawinen in der Stadt. Täglich rollen auf dem 35 Kilometer langen „Périphérique“, der Pariser Stadtautobahn, 1,3 Millionen Fahrzeuge. Zwar haben die Pariser selbst oft gar kein Auto – nicht mal jeder zweite besitzt eines. Aber es  sind vor allem die vielen Pendler aus dem Umland mit ihren Dieselfahrzeugen, die den Smog verursachen: Dieselmotoren erzeugen besonders viele gefährliche Feinstaubpartikel.

Zwei von drei Autos in Frankreich fahren mit Dieselkraftstoff. Denn die französischen Regierungen förderten den Kraftstoff seit Jahrzehnten, indem sie ihn weniger besteuerten als normales Benzin. Viele französische Großstädte leiden nun dauerhaft wegen dieser Diesel-freundlichen Politik. Aber auch die vielen privaten Kamine der Region verpesten im Winter die Luft. So wird immer wieder heftig darüber gestritten, ob es im Großraum Paris verboten werden soll, in Wohnungskaminen ein gemütliches Feuerchen zu schüren.

Die sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo macht den Kampf gegen Luftverschmutzung zur Chefsache. Das Rathaus kündigt einen radikalen Umweltplan für die kommenden Jahre an. Denn die Feinstaubbelastung verkürze die durchschnittliche Lebenserwartung der Pariser um sechs bis neun Monate, heißt es. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO sterben 42000 Menschen in Frankreich an den Folgen der Luftverschmutzung. Die Partikel verursachen Lungenkrebs und Atemwegskrankheiten.

Pariser, die ihr (vor 2001 angeschafftes) Dieselauto abschaffen wollen, werden unterstützt: mit Vergünstigungen für Abonnements für das Autoverleihsystem Autolib oder Fahrradverleihsystem Velib. Aber auch mit bis zu 400 Euro für den (Elektro-)Fahrradkauf oder einer Jahreskarte für die Metro. Auch Firmen bekommen Zuschüsse, wenn sie ihre Lieferwagen ausmustern und auf ein Elektrofahrzeug umsteigen. Schrittweise soll es für ältere Diesel-Laster und -Busse sowie auch für Pkw Fahrverbote geben – bereits ab Juli 2015, aber vor allem ab Juli 2016.

Anne Hidalgo will zudem mehr Fußgängerzonen. In den vier zentralen Arrondissements sollen neben Fahrrädern, Bussen, Radlern und Taxis nur die Anwohner, Lieferanten und Notärzte fahren dürfen: Das beträfe die Gegend von der Place de la Concorde über den Louvre vorbei an Notre-Dame und dem Rathaus bis zur Place de la Bastille und der Place de la République. Es soll Versuche geben, große Boulevards wie die Champs-Elysées oder die Rue Rivoli nur noch für besonders abgasarme Autos zu öffnen. Bis 2020 sollten die gesundheitsschädlichen Dieselautos sogar ganz aus der Stadt verbannt werden – und die Länge der Fahrradspuren verdoppelt werden.

Doch das ist Zukunftsmusik. Schon morgen dürfen erst einmal wieder alle Autofahrer fahren und die Metro kostet wieder Geld – denn es sind Wind und Regen angekündigt.

 

 

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Die Stille nach den Schüssen

Es ist leider so: wirklich überrascht hat das Attentat in Kopenhagen nur wenige. Lange war bekannt, dass die dänische Hauptstadt Anschlagsziel islamischer Terroristen ist.

Es ist das zweite Mal binnen nicht einmal vier Jahren, dass ich Terror in Nordeuropa hautnah miterleben muss.

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Trauernde vor der Hauptsynagoge von Kopenhagen (Foto: Bomsdorf)

Oslo, 22. Juli 2011 und nun Kopenhagen, 14. Februar 2015.

Die Anschläge in Norwegen haben die dortige Gesellschaft viel stärker getroffen. Das liegt natürlich daran, dass so viel mehr Menschen ermordet wurden, aber sicher auch daran, dass der Attentäter noch mehr aus der so genannten Mitte der Gesellschaft kam.

Anders Behring Breivik war norwegischer Christ und ein Islamhasser. Der Muslim Omar Abdel Hamid El-Hussein (die Polizei hat soeben seine Identität bestätigt) war als Sohn palästinensicher Eltern in Dänemark geboren und aufgewachsen, er war Judenhasser.

Dänemark ist durch den Anschlag kein anderes Land geworden, der 16. Februar, erster Wochentag nach den Anschlägen, war nicht so anders vom Freitag vor dem Terror.

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Unter Polizeischutz auf dem Weg zur Gedenkveranstaltung (Foto: Bomsdorf)

In den vergangenen Tagen habe ich für diverse Medien über die Attentate und die Lage im Lande berichtet. Ich hoffe, dass vor allem die einordnenden Stücke auch später noch lesens- und hörenswert sind.  Die ersten Nachrichten gab es bei Die Welt, wie die Dänen reagiert haben beschrieb ich ebenfalls für Die Welt, ausführlicher dann über die dänische Gelassenheit in einem Beitrag für Zeit Online und einer Kolumne für stern. Schließlich von der Gedenkveranstaltung und den Trauernden vor der Synagoge für FAZ.net.

Dem Künstler Lars Vilks, dem der Anschlag wohl gegolten hatte, habe ich mich in Gesprächen mit SRF aus der Schweiz und BR2 sowie Deutschlandradio Kultur gewidmet.

Bleibt zu hoffen, dass der Terrorismus in Europa nicht zunimmt. Doch zu befürchten ist, dass es weitere Anschläge geben wird.

 

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Unser 11. September

Der Angriff auf “Charlie Hebdo” war nicht das schlimmste Attentat in Europa. Doch die Reaktion in Paris und ganz Europa zeigt, dass dies ein Wendepunkt war wie der 11. September in New York. Was folgt daraus?

Madrid, London, Toulouse, Brüssel – seit dem 11. September hat es in Europa schon viele schlimme Attentate gegeben, die auf radikale Islamisten zurückgehen.

Doch noch nie zielten Terroristen so direkt und so brutal auf einen Grundpfeiler der europäischen Kultur: Die Meinungs- und Pressefreiheit.

Und noch nie war die Reaktion von Politik und Gesellschaft so eindeutig und entschieden wie in Paris, wo am Sonntag mehr als eine Million Menschen auf die Straße gegangen sind.

Sogar Präsident Hollande war dabei, obwohl französische Staatschefs sonst (fast) nie demonstrieren. Auch viele EU-Politiker kamen, darunter Kommissionschef Juncker und Kanzlerin Merkel.

Die richtigen Lehren ziehen

Es ist gut und wichtig, dass die Europäer ein Zeichen setzen gegen Terror, Fremdenhass, Antisemitismus und einen Gewaltkult, der ans finsterste Mittelalter erinnert.

Doch was kommt danach? Werden die EUropäer endlich die Lehren aus dem 11. September 2001 ziehen – und ihre Fehler im Irak, in Syrien und in Nahost korrigieren?

Das sind die Brandherde, die derzeit tausende junge Europäer anziehen und zu Terroristen machen. Man darf gespannt sein, was unsere EU-Außenpolitiker dazu sagen, vor allem die “neuen Europäer”.

Völlig falsche Prioritäten

Bisher setzen sie falsche Prioritäten – und verteufeln Putin, statt den wahren Gefahren für die “europäische Friedensordnung” ins Auge zu sehen, die übrigens auch in der Türkei lauern.

Mindestens genauso wichtig ist aber die Reaktion nach innen. Natürlich müssen jetzt die Sicherheits-Maßnahmen überprüft und ggf. verschärft werden.

Klar ist aber auch, dass neue Passagierdaten-Abkommen, wie sie etwa EU-Ratspräsdient Tusk fordert, im Fall “Charlie Hebdo” nichts gebracht hätten.

Bedrohung aus dem Homeland

Gegen die Bedrohung von innen – aus dem “Homeland”, wie es neudeutsch heißt – nutzen die meisten aktuellen Antiterror-Maßnahmen nichts; das ist offensichtlich.

Viel wichtiger wäre daher, endlich das leere Versprechen einzulösen, etwas gegen Jugendarbeitslosigkeit und Ausgrenzung in den Problemvierteln von Paris, London oder Hamburg zu tun.

Dazu müsste sich allerdings auch die Wirtschafts- und Sozialpolitik insgesamt ändern. Ich habe Zweifel, ob Tusk, Merkel & Co. dazu bereit sind…

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog “Lost in EUrope”

photo credit: OlivierdeBrest via photopin cc

 

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Die Nationen trauern vereint

Der Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo in Paris, kaum mehr als drei Zugstunden von Genf entfernt, hat im Völkerbundpalast Trauer und Entsetzen ausgelöst. Krisen, Krieg und Gewalt gehören für die UN und für die Korrespondenten hier zum Arbeitsalltag. Und trotzdem trifft das Attentat von Paris die Organisation, die UN-Menschenrechtskommissar Zeid al-Hussein bei einem Gedenken am Freitag als globale Familie bezeichnet, ins Herz.

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid al-Hussein, bei einer Schweigeminute am 9.1.15 im Genfer Palais des Nations

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid al-Hussein, bei einer Schweigeminute am 9.1.15 im Genfer Palais des Nations

Das liegt daran, dass nicht nur die Journalisten im Palais das Recht auf freie Meinungsäußerung für eines der unveräußerlichsten Menschenrechte überhaupt halten. “Dieses Recht muss deshalb vehement verteidigt werden, vor allem von den Vereinten Nationen, von mir wie von uns allen”, sagt al-Hussein.

Der gebürtige Jordanier mahnt nach dem Anschlag dazu, innezuhalten anstatt über Rache nachzusinnen. “Es wird noch viel Gewalt geben, und zwar bald, wenn wir uns jetzt nicht klar und menschlich verhalten”, sagt er. “Weder der Islam noch die Multikulturalität Europas sind für den blutigen Überfall vor zwei Tagen verantwortlich, wie es verschiedene rechte Politiker bereits behauptet haben”, betont er.

Al-Hussein, selbst Muslim, geht differenziert auf die umstrittenen Cartoons von Charlie Hebdo ein. “Als Muslim empfinde ich viele der Cartoons, die heute überall wiederveröffentlicht werden, als beleidigend, so wie alle Muslime in diesem Gebäude und überall auf der Welt, alle 1,6 Milliarden”, sagt er. “Aber die Antwort ist natürlich nicht, jemanden zu ermorden oder zu verletzen. Stattdessen müssen wir das gleiche Recht nutzen, dass die getöteten Redakteure von Charlie Hebdo so meisterlich genutzt haben: das Recht, frei zu schreiben, zu sprechen und zu zeichnen.”

Für den Menschenrechtskommissar ist längst erwiesen, dass das Wort mächtiger ist als das Schwert oder eine andere Waffe. “Wir müssen über die Notwendigkeit sprechen, mehr zu lieben, uns mehr zu kümmern, gütig zu sein, mehr Menschen zu intergrieren und besser integriert zu sein: Wenn wir irgendeine Lehre aus diesen teuflischen Morden ziehen können, dann ist es diese.”

Die UN kranken oft daran, keine klaren Positionen beziehen zu können. Wer 193 Staaten repräsentiert, spricht oft verklausuliert. Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo haben die UN klare Worte gesprochen, in Genf und in New York. Das lässt hoffen, dass sie im Kampf gegen Terror und Extremismus auf allen Seiten in den kommenden Wochen ihr ganzes Gewicht in die Wagschaale werfen wird.

 

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Adventston 16. 12. – Goran Bregovic

Danja Antonovic, Belgrad 2013-05-07 23.59.30“Ich persönlich mag diesen diesen schnellen, lauten, ekstatischen Rhythmus von Bregovic sehr gerne”, schreibt Danja Antonovic, Weltreporterin in Belgrad: “und wenn man ihn hört, dann denkt man an Serbien.”

Tesla, Tito und Trompeten sind Markenzeichen der boomenden Stadt Belgrad an der Save und Donau. Mädchen mit den kürzesten Röcken und den längsten Beinen der Welt spazieren durch die unzähligen Jazzclubs, Bars und Cafées, durch alternative Kunstdistricts in zerfallenen Gründerzeithäusern.  Serbian Sushi als nouvelle couisine vom Balkan im Belgrader Hafen – “und das alles billig” schreibt `Lonely Planet` und macht Belgrad zu einer der zehn “must see destinations” für 2015. Die Touristenzahlen steigen, im letzen Jahr um 15 Prozent.

Und während Belgrad eine “Enjoy-Stadt” geworden ist, stehen dem gegenüber fast 30 Prozent Arbeitslose in Serbien und eine patriarchalische Gesellschaft, in der Frauen, Roma und Schwule nichts zu lachen haben.

Danja Antonovic lebt seit 2006 als Auslandskorrespondentin in Belgrad und bereist von dort aus die ex-jugoslawischen Länder, von Slowenien bis Mazedonien. Dabei wirft sie einen humor- und liebevollen Blick auf die Skurrilitäten der Region – ob Paprika-Erntefeste oder weihnachtlicher Konsumrausch, ob Emir Kustoricas “Küstendorf” in den serbischen Bergen oder das Merchandizing zum neuen Tito-Kult.

 Anhören: zum tönenden Adventskalender

 

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Freedom Rocks – Berliner Mauer Fragmente in Los Angeles

Berliner Mauer Los Angeles

Der längste zusammenhängende Mauerstreifen außerhalb von Deutschland ist – in Los Angeles, auf einer Wiese neben dem Wilshire Boulevard, einer Hauptverkehrsstrecke zwischen West und Ost, gegenüber vom Los Angeles County Museum of Art. Mittags parken hier ein halbes Dutzend Food Trucks, oft sind einer mit Bratwurst und die Currywurst-Konkurrenz dabei.
Die zehn Originalsegmente aus Berlin hat das Wende Museum zum 20. Jahrestag des Mauerfalls nach Los Angeles gebracht. Inzwischen gab es davor Demonstrationen und Picknicks, Konzerte und Hochzeiten.
Viele Fragmente der Berliner Mauer sind in Nordamerika gelandet. Zwei kanadische Künstler haben es sich zur Aufgabe gemacht, zumindest einen Teil von deren Geschichte aufzuspüren und zu dokumentieren. Ihr Projekt heißt Freedom Rocks. Letzte Woche haben Vid Ingelevics und Blake Fitzpatrick dafür Station im Goethe Institut von Los Angeles gemacht.
Vor schlichter Kulisse von Klappstuhl und Tisch mit schwarzer Decke stellten sie Kamera und Scheinwerfer auf. Dann kamen die Besitzer von Mauerfragmenten und erzählten ihre Geschichten.
Die Künstler stellen immer dieselben Fragen: Wie heißt Du? Wo wohnst Du? Woher hast Du die Mauerstücke? Wo bewahrst Du sie auf? Was bedeuten sie heute für Dich?
Sie filmen nur Hände, die die Fragmente halten und haben festgestellt, dass die meisten Geschichten weniger mit dem Kalten Krieg als mit persönlichen Erinnerungen zu tun haben.
fragment rebecca
In Los Angeles erzählt ein Deutschprofessor, wie er 1990 mit Studienkollegen in einer Regennacht Stücke selbst abklopfte. Ein Künstler berichtet, wie er einen Teil der Mauer in Kreuzberg 1987 bemalte, ganau zwei Jahre bevor die Grenze geöffnet wurde. Eine Teilnehmerin ist nicht sicher ob ihre Teile echt sind. Sie hat sie in einem Baumarkt für 20 Dollar gekauft. Einer Germanistin aus Dresden steigen Tränen in die Augen, als sie erzählt wie sie eine Woche nach dem Fall der Mauer zum ersten Mal im Leben durch das Brandenburger Tor ging und von dort Mauerstücke mit nach Los Angeles nahm.

“Solange die Fragmente in Bewegung ist wird sich ihre Geschichte verändern,” fassen die Künstler zusammen. “Wie wir uns an Geschichte erinnern und ihr Denkmale setzen bleibt nie gleich.”

Meine Geschichte für den Deutschlandfunk können Sie hier nachhören: Freedom Rocks

 

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Conchita ist es Wurst

Wieder einmal findet der European Song Contest in Nordeuropa statt und wie letztes Jahr kümmere ich mich ein paar Tage nur am Rande um Wirtschaft und Hochkultur, sondern widme mich vor allem Europas größter Fernsehshow und allem, was drumherum so passiert. Besonders telegen ist die Österreichische Teilnehmerin Conchita Wurst. Groß, Wespentaille und Riesenwimpern – da spielt jemand mit dem Klischee des (Barbie-)Püppchens.

Wurst ist die weibliche Rolle von Tom Neuwirth und nicht nur in Kopenhagen, um zu singen, sondern auch, um für Toleranz zu werben – eigentlich seit langem ESC-Tradition. Einigen Osteuropäern missfällt das und womöglich auch einigen Westeuropäern. Es kam zu Boykottaufrufen, weil die sexuelle Orientierung als nicht telegen angesehen wurde.

Conchita Wurst lässt sich davon nicht allzu sehr berühren. Morgen tritt sie im zweiten Halbfinale auf. Ich habe Conchita Wurst schon einmal in Kopenhagen getroffen und für The Wall Street Journal interviewt. Den Text und sogar ein Video gibt es hier. In dem Film erklärt sie übrigens, was es mit ihrem Namen auf sich hat und was ihr Wurst ist.

 

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Presseurop adé?

Wir Journalisten in Brüssel treffen uns jeden Tag im Pressesaal der EU-Kommission, zum “Midday Briefing” um 12 Uhr. Oder auf der Seite von “Presseurop” – einem Internet-Portal mit den besten Artikeln aus der europäischen Presse.

Doch damit dürfte es bald vorbei sein. Denn die Kommission dreht den Geldhahn für “Presseurop” zu. Schon am 22. Dezember läuft die Finanzierung aus, kurz vor Weihnachten wäre dann Schluss.

Das wäre nicht nur schade für die EU-Korrespondenten, die “Presseurop” für ihre tägliche Arbeit nutzen. Ich habe es sogar auf meinem eigenen Blog “Lost in EUrope” integriert, und zwar hier (Seite 2)

Es wäre vor allem schlecht für die vielen Leser außerhalb des “Raumschiffs Brüssel”, die da draußen im wirklichen Leben. Denn nur auf “Presseurop” können sie sich einen Überblick über die wichtigsten Presseartikel verschaffen – in ihrer eigenen Sprache.

Besonders empörend ist, dass dieser wichtige Dienst ausgerechnet jetzt platt gemacht wird, kurz vor der Europawahl im Mai. Die Redaktion hat daher einen Aufruf zur Rettung gestartet. Wer mithelfen will, findet ihn hier

 

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Mein Nationalfeiertag

Am 26. Oktober war ich nicht in Japan, besuchte mit Architekt Terunobu Fujimori Raiding. Der Geburtsort von Franz Liszt befindet sich im Burgenland – unweit vom ehemaligen Eisernen Vorhang. Die Vortragsscheune war alt, das Architekturthema modern. Zur gleichen Zeit feierte Österreich – wie jedes Jahr, seine wiederhergestellte Souverenität: mit Panzerparaden und Rekruten auf der Wiener Ringstrasse. Und deshalb fiel mir folgende Geschichte mit meinem Armeepullover ein.

roland bundesheer 1974

Sturmgewehr vorn. Pullover nach hinten: Auch ich war einmal Rekrut.

1973 diente ich meiner Heimat, wie man so schön sagt. Während der sechs Monate als Wehrpflichtiger in der Kaserne Leobersdorf bei Wien lernte ich, dass eine Handgranate aus 3000 Splittern besteht und über den Kopf geworfen werden muss – damit sie nicht in den eigenen Reihen explodiert. Das Sturmgewehr konnte ich in stockdunkler Nacht zerlegen, putzen und wieder zusammenbauen. Panzer eleminierte ich mit einem langen Brett, einer Schnur und einer Mine. Kurz vor Eintreffen des „Russen“ zog ich das Brett vom Versteck aus über die Fahrbahn. Bummmm! Heute heisst sowas IED – Improvised Explosive Devise, und die Taliban verwenden statt der Schnur ein Handy. Ausserdem lernte ich, dass es besser ist, den olivgrünen Pullover mit dem V-Ausschnitt nach hinten zu tragen. Das schützt den Hals besser vor Gegenwind. Nach dem Abrüsten durfte ich diesen Pullover, sowie eine Hose – und ich glaube, auch eine lange Unterhose in Tarnfarbe, behalten – für den Ernstfall, sollte der Russe doch noch kommen. Ich nehme an, dass es bei einer Mobilisierung Zeit spart: Kein Armeeunterhosenanziehen in der Kaserne, sondern schon auf dem Weg dorthin. Der Schnitt und die Farbe des Pullovers passte perfekt zu meinen Jeans, und so war er noch Jahre nach meinem aktiven Heimatdienst fester Bestandteil von Disko- und Ausstellungseröffnungsbesuchen – bis er sich irgendwann von selber auflöste.

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Pullover und Unterhose, 30 Jahre alt, für €36.34

Wie gross meine Überraschung, als ich dreissig Jahre später vom Militärkommando eine eingeschriebene Drohung erhalte – getarnt als Grosszügigkeit. Wird der Pullover samt Unterhose nicht retourniert, geht’s vor’s Gericht. Die Grosszügigkeit bestand darin, dass „in Anerkennung meiner geleisteten Dienste“ die Möglichkeit besteht, den dreissigjährigen Pullover und die Unterhose für €36.34 zu erwerben.

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Dank an die Sovietunion für die Befreiung von der Naziherrschaft: Das „Russendenkmal“ auf dem Schwarzenbergplatz in Wien. Heute dient es als Kulisse für russische Musikvideos.

Ob die Betriebsversorgungsstelle des österreichischen Militärkommandos mit der Armeebekleidung immer noch so umgeht, das heisst, im Jahr 2043 zurückverlangt? Wer ist heute der imaginäre Feind? Es muss ihn geben, denn sonst würden am Nationalfeiertag in Wien keine Panzer rollen. Oder ist der Feind unsichtbar, die Militärparade ein Ausdruck der Hilf- und Nutzlosigkeit? Ist der Feind vielleicht sogar einer, der aus meinem Blog Schlüsselwörter wie IDE, Taliban und Handgranate filtert?

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Verfallener Schweinestall im Burgenland: Bauern versteckten hier ihre Frauen während der zehnjährigen russischen Besatzungszeit.

 

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Attacke auf die Sommerferien

Ihr Ende naht, Anfang September ist Schluss. Aber noch dauern die Sommerferien in Frankreich an. Noch sind die Strände voll, die Campingplätze auch. Noch steht an den Türen vieler Geschäfte “Fermeture annuelle” wegen ihres wochenlangen Jahresurlaubs – und ein Hinweis an den Briefträger, was er mit der Post tun soll. Die „grandes vacances“ dauern in Frankreich so lange, dass Schüler anderer EU-Staaten neidisch werden können: zwei Monate. Doch viele Franzosen fragten sich in den vergangenen Wochen: Wie oft werden wir diesen großen Ferienblock noch erleben?

Für Aufregung sorgte ein Interview des sozialistischen Erziehungsministers Vincent Peillon. Sechs statt acht Wochen Sommerferien seien genug, sagte der Minister, der selbst eine Lehrerausbildung hat. Peillon hat gerade eine Schulreform durchgesetzt. Sie sieht unter anderem vor, dass ab dem kommenden Schuljahr viele Grundschulen von der Viertage- zur Viereinhalbtage-Woche wechseln – der schulfreie Mittwoch gehört dann der Vergangenheit an. Als der Minister auch noch verkürzte Sommerferien ins Spiel brachte, ging das Gezeter los: Schüler, Lehrer, Tourismusbranche und Politiker, sie alle meldeten sich sorgenvoll zu Wort.

Les grandes vacances – die großen Ferien, sie sind aus dem Jahreszyklus kaum wegzudenken. Sie gelten als Teil des schönen Lebens in Frankreich. Das Land schaltet einen Gang herunter. Für Schüler sind diese Ferien eine richtige Auszeit. Ihr Ende ist eine Zäsur wie ein Sommersilvester: Kein Wunder, dass danach im September die „Rentrée“ ansteht, die Rückkehr in den Schul- und Arbeitsalltag. Schon gibt es in den Nachrichten die ersten Beiträge über die neuesten Trends der Schulranzen.

Diese lange Ferienzeit hat historische und wirtschaftliche Gründe im 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts, mit ihr wurde den Wünschen der Bevölkerung entsprochen. Denn die Landwirte brauchten für die Ernte auf den Feldern und in den Weinbergen jede helfende Hand, auch die ihrer Kinder. 1950 arbeiteten noch 49 Prozent der Franzosen in der Landwirtschaft. In den 1960er Jahren dauerten die Ferien noch zehn Wochen. Doch die Gesellschaft wandelte sich, die kleinen landwirtschaftlichen Betriebe wurden weniger. Anfang der 1980er Jahre verkürzte die Regierung die Sommerferien auf derzeit acht bis achteinhalb Wochen.

Warum jetzt noch mehr Tage streichen? Die Schüler müssten mehr Zeit fürs Lernen haben, sagt Peillon. Zurzeit stünden sie zu sehr unter Druck. Französische Schüler haben ein sehr kurzes Schuljahr, aber zu lange Schultage, kritisieren Experten schon lange. Nirgendwo in Europa sind die Schultage derart vollgepackt. In den meisten EU-Staaten gehen die Kinder durchschnittlich 180 Tage im Jahr zur Schule. In Frankreich sind es nur 144 Tage. Peillon ist übrigens nicht der erste Minister, der dieses heiße Eisen anpackt. Bereits der konservative Minister Luc Chatel setzte 2010 eine Kommission ein, die Vorschläge ausarbeiten sollte, wie der Schulrhythmus verbessert werden könne. Tausende Schüler gingen damals zum Demonstrieren auf die Straße. Es blieb letztlich bei den acht Wochen.

Auch Erziehungsminister Peillon musste nach seinem Interview erst einmal zurückrudern. Im Erziehungsministerium betont man auf Anfrage vehement, dass das Thema grandes vacances nicht Teil der aktuellen Schulreform sei. Aber Peillon hat bereits ein Datum fallen lassen: 2015 soll die Ferienreform debattiert werden. Während die Sechs-Wochen-Befürworter ein besseres Gleichgewicht im Jahresschulzyklus erhoffen, betonen Psychologen, wie sinnvoll diese lange Auszeit ist: Die Kinder könnten sich wirklich erholen von dem Schuljahr, neue Freunde finden und in der Freizeit andere wichtige Dinge lernen.

Immer mehr Franzosen können sich aber mit Peillons Vorstoß anfreunden. Nach Umfragen sind 43 Prozent den Verkürzungsplänen zugeneigt – vor allem die Eltern. Sie haben natürlich nicht so viel Urlaub. Viele können meist nur zwei Wochen mit den Kindern wegfahren – manche wegen der Wirtschaftskrise gar nicht. Sie haben damit zu kämpfen, ihre Kinder acht Wochen unterzubringen oder zu beschäftigen. Glück haben die Mütter und Väter, die ihre Kinder bei Oma und Opa abgeben können. Oder die genug Geld haben, um die Kleinen in ein Feriencamp zu schicken.

Von der langen Auszeit profitieren übrigens in Frankreich einige Verlage: Viele Eltern kaufen ihren Kindern Aufgabenhefte, die „Cahiers de vacances“. Darin können die Kinder Übungen machen, um den Lernstoff des vergangenen Jahres zu wiederholen. Die Hefte sind ein Renner: Sechs Millionen solcher Hefte werden jährlich verkauft.

 

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Von Freiheit, Glück und der Bombardierung Dresdens

Angela Thompson erzählt gerne aus ihrem Leben und aus dem ihrer Mutter. Über die hat sie sogar ein Buch geschrieben: “Bleib immer neben mir”. Es ist die Geschichte eines Frauenlebens im 20. Jahrhunderts mit eindrücklichsten Schilderungen unter anderen von der Bombardierung Dresdens, von überraschend wertvollen Päckchen die die in den Westen geflüchtete Familie von der in Dresden zurück gebliebenen Omi bekam, von im Rückblick verrückt erscheinenden Entscheidungen der Mutter, schwer zu ertragendem Verhalten des zurück kehrenden Vaters und Andeutungen des neuen Freiheitsgefühls der Autorin, als sie in Kalifornien ankommt und studieren kann.

In Deutschland haben viele längst genug von diesen Geschichten und ich dachte ich gehöre zu dieser Gruppe, die nichts mehr hören mag vom Krieg, von Flucht, von Hitler, von Bomben und dem Kampf ums Überleben. Bis ich Angela traf und sie mir mit Gefühl, Humor und Wissen aus ihrem Leben und dem ihrer Mutter erzählte. Besonders wichtig ist ihr dabei, dass US-Bürger diese Geschichten hören und lesen, um zu verstehen, was in den Menschen vorging, auf die die Bomben ihrer Helden fielen. Sie selbst hat sich in den 70er Jahren von Los Angeles aus für politische Gefangene in der DDR eingesetzt, unter anderen mit dem damaligen Gouverneur Ronald Reagan als Verbündeten. Sie fuhr mit dem Auto quer durchs Land um in Washington mit Kongressabgeordneten und Senatoren über Unterdrückung im Osten Deutschlands zu sprechen und machte heimliche Besuche bei den Familien der Gefangenen.

Für Radio/Audio-Enthusiasten-Truppe ‘Listen Up Los Angeles’ hat Angela einen Teil dieses interessanten Lebens erzählt. Weil heute der Jahrestag der Bombadierung von Dresden ist hier der entsprechende Ausschnitt aus meinem Interview.

 

 

 

 

 

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Mit Kleister und Trillerpfeife

Überlebensgrosse Portraits von Menschen, die kurz vor dem Verlust ihrer Wohnung stehen, Trillerpfeifenkonzerte und eine Postkartenaktion, bei der sich jeder Passant persönlich für einen “Hypothekengeschädigten” einsetzen konnte: So haben letzte Woche in Barcelona Hunderte gegen Zwangsräumungen und die schuldnerfeindliche Bankengesetze protestiert, hier vor der Zentrale der Sparkasse Caixa Catalunya.

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Spanien hält einen traurigen Rekord: Über 126.000 Zwangsvollstreckungen wegen nicht bedienter Kredite wurden im letzten Jahr verhängt. Und wer aus seiner Wohnung geworfen wird, ist deswegen noch lange nicht schuldenfrei. Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern wird die Schuld in Spanien nicht dadurch getilgt, dass die Wohnung an die Bank zurückfällt. Nachdem im letzten Jahr eine Reihe von Selbstmorden die Öffentlichkeit erschütterte, hat die Regierung Rajoy Zwangsräumungen in besonders prekären Fällen zwar gestoppt, an der Situation an sich hat sich allerdings kaum etwas geändert.

Die landesweiten “Plattformen der Hypothekengeschädigten” (P.A.H., Plataforma de Afectados por la hipteca) haben daher für kommende Woche zu Protesten aufgerufen. Am 24. Januar wollen Vertreter dem Parlament 750.000 Unterschriften für eine Gesetzesänderung übergeben, für den 16. Februar sind Grossdemonstrationen geplant.

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Zumindest die Plakataktionen scheinen ihr Ziel zu erreichen: Nachdem vor einer anderen Filiale wochenlang das Portrait eines Schuldners prankte und Aktivisten unter den Passanten Postkarten mit der Kurzfassung seines Falls verteilten, rückte die Bank von der Zwangsvollstreckung ab und hat die Rahmenbedingugnen des Kredits geändert. Die Plakatkampagne ist eine Initiative des Künstlerkollektivs Enmedio, über dessen Arbeit ich am Sonntag im Neonlicht von Deutschlandradio Kultur berichte.

 

 

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Scheidung noch mal verschoben?

Viele Journalisten lieben markige Statements oder eine holzschnittartige Darstellung der Welt. Schwarz und Weiß. Als wären Grautöne unverdaulich. Da Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Hollande nicht als politisches Liebespaar bekannt sind, ist dann schon mal schnell von einer bevorstehenden Scheidung die Rede. So auch gestern wieder in den Hauptnachrichten des französischen Fernsehsenders France 2. Da wurden ernste Gesichter aus Brüssel gezeigt, Merkel und Hollande hätten nicht einmal ein höfliches Lächeln füreinander übrig gehabt. „Steht nun die Scheidung bevor“, fragte daraufhin der Moderator den Brüssel-Korrespondenten.

Die Überzeichnung der inhaltlichen sowie der persönlichen Differenzen zwischen Hollande und Merkel sind in Deutschland wie in Frankreich bei einigen Medien besonders beliebt. Von einem tiefen Einblick in die deutsch-französischen Beziehungen zeugt das nicht. Denn die vor knapp 50 Jahren von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle formal besiegelte deutsch-französische Freundschaft hat inzwischen eine Tiefe und institutionelle Verwebung auf ganz unterschiedlichen Ebenen erreicht, sie würde überleben auch wenn Merkel und Hollande sich abgrundtief hassten und sich politisch überwärfen. Für letzteres sind beide viel zu klug und viel zu diplomatisch.

Dass Berlin und Paris immer mal wieder in politischen Fragen ganz unterschiedlicher Meinung sein werden, tut beiden Seiten und Europa gut. Denn es trägt zu einer fruchtbaren Kompromisskultur bei. Auch zum Innehalten und Überdenken der eigenen Position – falls man dazu Zeit findet. Dass die politischen Überzeugungen selbst bei einer diplomatischen Annäherung der Positionen in Brüssel im Grunde mitunter sehr weit von einander entfernt bleiben, ist schon aus historischen Gründen nicht überraschend. Das staatliche Selbstverständnis und damit auch die Staatsräson Deutschlands und Frankreichs sind keineswegs identisch. Das gilt sowohl für innen- wie außenpolitische Aspekte. Aber es gibt genügend gemeinsam Interessen, die eine Annäherung in der Politik immer wieder lohnend machen.

Bei jedem politischen Schlagabtausch oder jeder Missstimmung zwischen Kanzler(in) und Präsidenten (auf eine französische Präsidentin brauchen wir leider in absehbarer Zeit noch nicht zu hoffen) die „Scheidung“ heraufzubeschwören, ist deshalb reine Effekthascherei, dumm und ermüdend.

 

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Kaltes, klares Wasser

Sparen, sparen, sparen – wohl selten sind diese Worte so häufig gehört worden wie derzeit. Die Euro-Krise soll bewältigt werden und Ausgabenkürzungen scheinen da vielen unabdingbar. Ähnlich sieht das auch die dänische EU-Ratspräsidentschaft. Nur 35 Mio. Euro sind für die kommenden sechs Monate veranschlagt – weniger als ein Drittel des Budgets von Vorgängerland Polen. Symbolisch für die dänische Sparwut steht kaltes klares Wasser. Statt Mineralwasser aus teuren Minifläschchen gibt es “postevand” (Leitungswasser) aus der Karaffe. Dazu heute aktuell ein Artikel in Die Welt und natürlich auch online.

 

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Unsere Diktatoren dürfen das

Ist der Ruf erst ruiniert… Vielleicht denken sie das wirklich. In Washington, in Riyadh und in Manama. Die amerikanische Regierung ruft zu „Zurückhaltung“ auf in Bahrain. Während 1200 saudische Militärs und 800 Polizisten aus den Vereinigten Arabischen Emiraten einrollen, um – wie es heißt – strategisch wichtige Gebäude und die Interessen der Königsfamilie zu schützen. Sie kommen auf Einladung von König Hamad, versteht sich. Eine hübsche kleine Golf-Party wird das werden.

Tommy Vietor, der Sprecher des Weißen Hauses, sagte, die Partner der USA im Golfkooperationsrat sollten die Rechte der Menschen in Bahrain respektieren und mit all ihren Handlungen zum Dialog ermuntern. Das wird bestimmt gelingen mit all den bewaffneten, gepanzerten Fahrzeugen, bemannt mit grimmig drein schauenden Soldaten. Wir dürfen gespannt sein, wie Vietor ein befürchtetes Blutvergießen in Manama schön reden wird. Denn anders als bei dem ohnehin verhassten Muammar Gaddafi handelt es sich bei Bahrains König Hamad um einen wichtigen Partner am ölreichen Golf und einen bislang treuen Alliierten gegen den Iran. Der Schutz von Zivilisten vor militärischer Übermacht steht da gar nicht erst zur Diskussion.

In Nordafrika und selbst in Ägypten kann man, wenn alles nicht mehr hilft, schon mal ausgediente Diktatoren fallen lassen. Aber dort, wo die Energieversorgung auf dem Spiel steht, wo die 5. Flotte der USA vor Anker liegt und wo man die wichtigsten Partner im Machtkampf mit dem Iran ausmacht, dort gelten andere Regeln. Es gilt das Primat der eigenen Interessen vor irgendwelchen demokratischen Idealen oder gar Menschenrechten. Da muss man zusammenhalten, koste es was es wolle.

Die Saudis sind extrem nervös. Sonst hätten die Meister der Scheckbuchdiplomatie nicht plötzlich auf ihr eigenes Militär gesetzt. Das ist ungewöhnlich. Und ging schon vor mehr als einem Jahr im Nordjemen schief, als Riyadh in den Konflikt Sanaa’s mit den Houthis im Grenzgebiet eingriff. Daraus hätte man lernen können. Aber man muss nicht. Das Protestpotential im eigenen Land halten die Saudis noch mit einem massiven Polizeiaufgebot, der Verbreitung islamischer Fatwas gegen Protestkundgebungen sowie mit Schmiergeldern unter Kontrolle. Jedoch die unkalkulierbaren Entwicklungen im benachbarten Bahrain sowie im Jemen machen den von Krankheit und Alter angegriffenen saudischen Herrschern zu schaffen.

Die Verbündeten in Washington werden vermutlich beide Augen zu drücken solange es geht. Denn hier steht eindeutig zu viel auf dem Spiel: Die Ölpreise, die eigene militärische Machtprojektion in die Region sowie der Kampf gegen den Iran. Prognosen möchte man in diesen Tagen in der arabischen Welt nicht mehr wagen. Zu viele Dinge sind im Fluss, alte Regeln gelten nicht mehr, neue sind noch nicht etabliert. Aber wenn dieser von den USA geduldete, saudische Militäreinmarsch in Bahrain zu einem Blutbad führt, dann könnten am Ende diesseits und jenseits des Atlantiks ganz viele Verlierer stehen. Europäer inbegriffen, denn auch wer schweigt, macht sich schuldig. Der Begriff „politische Glaubwürdigkeit“ scheint aus dem Lexikon der modernen Politik gestrichen. Ersatzlos. Wie bedauerlich.  

 

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Die Sehnsucht ist geweckt

Die westlichen Demokratien haben sich bei der tunesischen wie der ägyptischen Revolution gründlich blamiert. Sie hinkten hinter den Ereignissen her, wanden sich in Schmerzen mit vorsichtigen Statements. Ging es doch schließlich darum, den Diktatoren und Unterdrückern die Unterstützung zu entziehen, die sie seit Jahrzehnten in ihren Palästen gehalten hatte. Völlig ungeachtet der Tatsache, dass man in politischen Sonntagsreden immer mehr Demokratie im Nahen Osten forderte. Aber das versteht sich von selbst.

Als es gar nicht mehr anders ging, forderten US-Präsident Barack Obama und seine europäischen Mitläufer einen schnellen aber geordneten Übergang zu einer wirklich demokratischen Regierungsform. Aha. Damit behalten sie sich vor, darüber zu urteilen., was ‘wirklich demokratisch’ ist. Und im gleichen Atemzug drängt man auf die Einhaltung internationaler Verträge und Verpflichtungen. Da nämlich liegt, wenn es um den Nahen Osten geht, für die meisten westlichen Politiker der Hase im Pfeffer: Fast alles darf passieren, aber die beiden Friedensverträge mit Israel (mit Ägypten und Jordanien) dürfen nicht angetastet werden. Außerdem dürfen keine Islamisten an die Macht kommen, wobei am liebsten alle islamistischen Gruppierungen in einen großen Topf geworfen werden. Wie man es in Washington, Berlin und Paris damit hält, wenn demokratische Wahlen Islamisten an die Macht bringen, das haben wir beim Urnengang in den Palästinensergebieten 2006 gesehen. Als die Hamas den Sieg davon trug, brach man schlicht die Beziehungen mit der von ihr geführten Regierung ab.

Die westlichen Regierungen – nicht nur die amerikanische – haben in der arabischen Welt schon längst ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die Menschen in der Region verstehen, dass es nicht um Werte wie Demokratie, Selbstbestimmung und Freiheit geht sondern um politische Interessen. Vornehmlich um solche, die sich mit israelischen Interessen decken. Auch wenn man in vielen Fällen trefflich darüber diskutieren kann, ob sich diese Interessen tatsächlich decken. Oder ob wir uns nicht selbst ins Knie schießen, gerade weil wir dazu tendieren, die Region ausschließlich durch die israelische Brille betrachten.

Auch deshalb können die Ägypter auf gute Ratschläge aus dem Westen derzeit verzichten. Ihnen ist nicht entgangen, dass Washingtons Lieblingskandidat für die Nachfolge Mubaraks sein Geheimdienstchef Suleiman war. Also jemand, der mit Leib und Seele für das alte System stand und steht. Die Armee ist nun die zweitbeste Wahl, arbeitet ihre Führung doch sehr eng mit amerikanischen Militärs zusammen, die eine Finanzhilfe von 1,3 Milliarden US-Dollar jährlich beisteuern. In dem Preis dürfte inbegriffen sein, dass keine Politik erlaubt wird, die den ohnehin kalten Frieden mit Israel einfrieren könnte.

Interessant wird es, wenn eine wirklich demokratische zivile Regierung in Kairo an der Macht ist. Ihr werden vermutlich die ägyptischen Moslembrüder angehören, auch wenn die Menschen auf dem Tahrir-Platz deutlich gemacht haben, dass die Islamisten keine Mehrheit im Land haben.Ein weiterer Schleier ist gefallen: Die Alternative zu autokratischen oder diktatorischen Systemen im Nahen Osten heißt nicht automatisch Chaos und Islamismus. Es dürfte den Regierenden in Washington und Berlin in Zukunft schwer fallen, mit dieser Gleichung zu argumentieren, wenn es um die Unterstützung repressiver Regime in der Region geht, die Menschenrechte verachten aber Stabilität und Kampf gegen Terrorismus versprechen.

Unsere westlichen politischen Moralapostel stehen plötzlich ohne Kleider da. Sieht ganz so aus, als stünden sie auf der Verliererseite nach den erfolgreichen Volksaufständen in Tunis und Kairo. Gemeinsam übrigens mit ihren Erz-Feinden, den islamischen Extremisten aus der Al Qaeda-Ecke. Denn der Sieg der friedfertigen Menschen gegen ein brutales, vom Westen unterstütztes System, nimmt diesen Terroristen den Wind aus den Segeln. Die Jugendlichen, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo den Sturz Mubaraks gefeiert haben, haben es nicht mehr nötig, sich solchen Bewegungen aus Protest oder dem Gefühl der Ohnmacht anzuschließen. Sie haben sich selbst befreit und ermächtigt, sie haben ihren Stolz und ihre Menschenwürde zurück erobert.

Nachdem ich mehr 15 Jahre lang dem politischen Stillstand, der Demütigung und der Entmündigung der Menschen in der Region zugesehen habe, habe ich nun wieder Hoffnung. Auch wenn wir alle wissen, dass die Revolutionen noch nicht gewonnen oder vollendet sind. Aber es wäre schön, noch mehr solch befreite, lachende oder vor Freude weinende Gesichter in Arabien zu sehen. Die Sehnsucht ist geweckt, hoffentlich wird sie nicht in Blutvergießen ertränkt.

 

 

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Truthahn statt Hering

 

Ganz Leiden bereitet sich schon darauf vor, bald ist es wieder soweit. Dann gibt es Jahrmarkt, Feuerwerk und viel Musik. Dann teilt unser Bürgermeister vormittags gratis Hering und Weissbrot aus. Und wer auf sich hält, tischt seiner Familie zum Abendessen „Hutspot“ auf, ein Eintopf aus Rüben, Zwiebeln und Kartoffeln mit einem Stück Rindfleisch. Es schmeckt besser als es klingt.

Einen noch warmen Kessel mit diesen Ingredienzen, so will es die Legende, soll ein Waisenjunge aus Leiden während der Belagerung der Stadt im 80Jährigen Krieg gefunden haben. Der Topf hing ausserhalb der sicheren Deiche, von denen die Stadt umgeben war, über einer erloschenen Feuerstelle im Lager der spanischen Truppen – als triumphierender Beweis dafür, dass der Feind tatsächlich wie beabsichtigt Hals über Kopf flüchten musste, um nicht jämmerlich in den Nordseefluten zu ersaufen. Denn um dem spanischen Erzfeind, der ihnen die Religionsfreiheit nehmen wollte, das Fürchten zu lehren, hatten die Holländer einen anderen Feind eingesetzt, der zwar noch viel grösser war, den sie aber im Laufe der Jahrhunderte zu bändigen gelernt hatten: das Wasser.

So endete am 3. Oktober 1574 die Belagerung von Leiden – ein Ereignis, das jedes Jahr im grossen Stil gefeiert wird. Immerhin hätten die Spanier die Bürger von Leiden fast ausgehungert. Doch die hielten dank ihres heldenhaften Bürgermeisters durch. Der sprach ihnen immer wieder Mut zu und bot ihnen am Ende sogar seinen eigenen Körper zum Aufessen an: „Snijdt het aan stukken en deelt ze om“, rief er, „schneidet ihn in Stücke und teilt diese aus!“

Soweit brauchte es glücklicherweise nicht zu kommen, statt dessen kamen die niederländischen Widerstandskämpfer, die so genannten Geuzen, auf die Idee, weiter rheinabwärts Richtung Rotterdam die Deiche zu durchbrechen. Petrus stand auf ihrer Seite: Er beglückte sie nicht nur mit einem handfesten typisch holländischen Sturmtief, sondern sorgte auch dafür, dass der Wind aus der richtigen Richtung kam und die Nordsee-Wassermassen Richtung Leiden trieb. Dem Feind jedenfalls blieb noch nicht einmal Zeit, sein Abendessen zu beenden.

Über den genauen Inhalt des Kessels, den der Waisenjunge fand, scheiden sich die Geister zwar, immerhin war Krieg, auch die Spanier konnten nicht allzuviel zu essen gehabt haben. Vermutlich bestand der Hutspot bloss aus Rüben und Zwiebeln und haben die Holländer – um das Ganze dann doch etwas schmackhafter zu gestalten – Kartoffeln und Fleisch hinzugefügt. Am nächsten Morgen jedenfalls, so die Legende, fuhren die Geuzen auf mit Hering und Weissbrot vollbeladenen Schiffen über das überflutete Land Richtung Leiden, um mit den hungrigen Bürgern die Befreiung zu feiern.

   

Die durften als Belohnung für ihr Durchhaltevermögen zwischen einer Universität und einer drastischen Steuersenkung wählen und entschieden sich natürlich – Legenden sind einfach zu schön! – für die Universität. So kommt es, dass Leiden heute eine der ältesten und renommiertesten Unis der Niederlande hat, selbst Königin Beatrix und ihr Kronprinz Willem Alexander haben hier die Hörsaalbänke gedrückt. Wobei sich Willem in Leiden den Beinamen Prins Pils verdiente: Das Studentenleben gefiel ihm so gut, dass er mit dem Auto auch mal in der Gracht landete.

Ob er am 3. Oktober zusammen mit seiner Maxima Hutspot kocht, weiss ich nicht. Zu meinen Lieblingsgerichten jedenfalls gehört es nicht unbedingt. Auch den Hering lasse ich lieber stehen. Die amerikanische Variante ist mir da schon lieber.

Für die haben die Pilgrim Fathers gesorgt, die legendären Gründerväter Amerikas. Diese Glaubensflüchtlinge aus England liessen sich nämlich zunächst in Leiden nieder, wo sie ihren Glauben problemlos ausüben durften. Nach einigen Jahren allerdings fanden sie die lockeren Holländer dann doch etwas zu liberal und gottlos und beschlossen, in die Neue Welt weiterzuziehen: Nach einem Zwischenstopp in Plymouth, wo sie auf die Mayflower umstiegen, landeten sie an der amerikanischen Ostküste – im Reisegepäck viele Sitten und Gebräuche aus Leiden. Auch den dritten Oktober feierten sie weiterhin, nun allerdings als Erntedank- statt Befreiungsfest. Bis Abraham Lincoln diesen Thanksgiving Day auf den vierten Donnerstag im November verlegte. Dass dabei nicht mehr Hering mit Weissbrot gereicht wird, hat mit der Fauna Neuenglands zu tun: In der Neuen Welt gab es Truthahn im Überfluss.

 

 

 

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Regierungsringen

Beim Einkaufsbummel durch Den Haag komme ich regelmässig bei Eisverkäufer Martijn vorbei. Sein Eiswagen steht direkt vor Paleis Noordeinde, dem Arbeitpalast von Königin Beatrix. Wenn auf dem Dach die rot-weiss-blaue Flagge weht, sitzt die Monarchin hinter ihrem Schreibtisch.

 Für die Bürger von Den Haag ist Martijns Eiswagen zu einer festen Institution geworden. Sein Vater hat hier schon vor 20 Jahren Eis verkauft. In den letzten Wochen allerdings erkundigen sich viele Kunden beim Eiskaufen nicht nur über das Angebot sondern auch den letzten Stand der Koalitionsverhandlungen. Denn der fröhliche junge Holländer behält alles gut im Auge, er weiss genau,wer die Treppen zum Palast raufläuft und wer wieder rauskommt.

 „Das ist hier momentan ein Kommen und Gehen“, erzählt er. Da haben sich nicht nur die Fraktionsvorsitzenden der wichtigsten Parteien die Klinke in die Hand gegeben, sondern auch die so genannten Informateure. Die untersuchen im Auftrag der Königin, welche Koalitionspartner sich am ehesten zusammenraufen könnten.

 Bei Martijn hinter der Scheibe hängen Fotos der ehemaligen Ministerpräsidenten und Eiskunden Wim Kok und Jan Peter Balkenende. Ganz links, über dem Schokoladeneis, prangt bereits ein Schnappschuss von Mark Rutte – für den Eisverkäufer der nächste Premierminister der Niederlande. 

 Noch allerdings ist es nicht soweit: Zwar hat Rutte mit seiner rechtsliberalen VVD-Partei die Wahlen gewonnen – aber nur ganz knapp vor den Sozialdemokraten. Eigentlicher Wahlsieger ist Geert Wilders: Seine islamfeindliche „Partei für die Freiheit“ PVV konnte die Zahl ihrer Sitze fast verdreifachen und ist nun drittstärkste Kraft im niederländischen Abgeordnetenhaus – noch vor den Christdemokraten, die erdrutschartige Verluste hinnehmen mussten. Diese vier Parteien haben alle zwischen 20 und 30 der insgesamt 150 Parlamentssitze ergattert.

 Folge: Die Koalitonsverhandlungen gestalten sich enorm schwierig, fast sieben Wochen nach den Wahlen ist immer noch kein neues Kabinett in Sicht.

Doch die Niederländer sind einiges gewöhnt: Für eine stabile Mehrheit sind immer mindestens drei Parteien nötig, dieses Mal vielleicht sogar vier. Deshalb üben sich alle in Geduld – und stehen für alles offen: Denn was auf das Land zukommt, weiss keiner. Wobei sich die Informateure wie Fussballtrainer vorkommen müssen: Mal versuchen sie es über die rechte Flanke, dann über die Linke. Auch in der Mitte war kein Durchkommen. Mal ist Wilders mit dabei, mal ist er im Abseits. Wobei sich die Niederländer nicht sicher sind, ob er nun wirklich mitspielen will oder doch lieber auf der Oppositionsbank sitzen bleibt.

Inzwischen allerdings ist Ruud Lubbers als Informateur auf dem Spielfeld erschienen, politisches Schwergewicht und Vertrauter von Königin Beatrix. Er hat alle zur Ordnung gepfiffen und an den Teamgeist appelliert – vor allem an den der Christdemokraten, die sich bislang zierten und nicht so richtig mitspielen wollten. Die Berührungsängste mit Wilders waren zu gross: Mit einer Partei, die an der Religionsfreiheit rüttelt, Kopfttücher verbieten und die ethnische Herkunft eines jeden Niederländers registrieren lassen will, so betonte der christdemokratische Fraktionsvorsitzende Maxime Verhagen, mit so einer Partei setze er sich nicht in ein Boot.

Doch nun hat Lubbers ein Machtwort gesprochen, seit Montagnachmittag finden an einem geheimen Ort erste informelle Gespräche zwischen Christdemokraten, Wilders und den Rechtsliberalen statt. Mehr weiss keiner, selbst Eisverkäufer Martijn nicht.

 Der bleibt trotz allem zuversichtlich: „Wir liegen ja noch gut im Rennen.“ Denn durchschnittlich dauern Koalitionsverhandlungen in den Niederlanden immer gut zwei Monate. Der Rekord war 1977, da vergingen fast sieben Monate, bis das Land eine neue Regierung hatte. „Aber“, so erinnert sich ein älterer Herr lachend, bevor er mit einer grossen Kugel Erdbeereis weiterläuft:  „Das haben wir damals ja auch überlebt. Das Leben ging einfach weiter.“

 

 

 

 

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Blühendes Wunder

 

An meiner Wahlheimat Holland habe ich nach 20 Jahren einiges auszusetzen und die rosarote Brille längst abgesetzt. Aber jedes Jahr im Frühling um diese Zeit verliebe ich mich wieder hemmungsvoll in dieses Land. Dazu reicht eine Zugfahrt vom Leiden nach Haarlem und ein Blick aus dem Fenster über die blühenden Felder der Blumenzwiebelregion: Die gesamte Landschaft gleicht einem gigantischen Mondriangemälde. Gelbe, rote und blaue Blumenbahnen aus Tulpen, Narzissen oder Hyazinthen so weit das Auge reicht….angesichts dieses hinreissenden Farbenrausches muss man einfach kapitulieren!

Als Korrespondentin habe ich es natürlich nicht beim Anschauen belassen, inzwischen weiss ich eine Menge über die Blumenzwiebelzucht, insbesondere über die Tulpe. Ist sie doch nicht nur Hollands Nationalsymbol, sondern auch noch eine erfolgreiche Immigrantin mit einer überaus steilen Karriere: Im botanischen Garten der alten Rembrandtstadt Leiden bohrte sie sich erstmals durch europäischen Boden, allerdings lange bevor Rembrandt geboren wurde, nämlich schon 1594.

Ursprünglich stammt die Tulpe aus Kazachstan. Über die Türkei gelangte sie nach Europa. Ihr Mäzen hiess Carolus Clusius, auch „Erasmus der Botanik“ genannt. Er war Ende des 16. Jahrhunderts in Leiden Aufseher des Hortus Botanicus. Clusius verkörperte das Idealbild des Gelehrten aus der Renaissance: hungrig nach Wissen, ein besessener Sammler, ständig kreuz und quer durch Europa auf Pflanzenjagd.

Die ersten Tulpenzwiebeln bestellte er beim Botschafter des österreichischen Kaisers in der Türkei, Ogier Ghislan de Busbec, einem Flamen. Der hatte sich in seinen Briefen immer wieder bewundernd über jene geheimnisvolle Blume ausgelassen, die von den Osmanen wie ein Kleinod behandelt wurde und auch den Sultan so bezauberte, dass er regelmässig rauschende Tulpenparties hielt.

Auch die ersten Tulpen im Leidener Hortus Botanicus wurden 1594 wie ein Weltwunder gefeiert und von den Schaulustigen fast zertrampelt. Aus der anfänglichen Begeisterung wurde schnell Besessenheit: Die so genannte Tulpenraserei begann, eine Zeit, in der ein einziger ‚bol’, wie die Zwiebel auf niederländisch heisst, bis zu 13.000 Gulden einbrachte, umgerechnet 6.000 Euro  – genausoviel wie Rembrandt für sein Haus an der Jodenbreestraat gezahlt hatte, das heutige Rembrandthaus. Der Tulpenhandel wurde Big Business: Reiche-Leute-Söhne schmückten mit dem vergänglichen Juwel das Décolleté ihrer Geliebten. Es war teurer als ein Diamant. Da das Angebot bei weitem nicht der Nachfrage entsprach, wurden bollen zum beliebtesten Spekulationsobjekt. Einer der wenigen, der einen kühlen Kopf bewahrte, war der Maler Jan Brueghel der Jüngere: Auf seiner Persiflage einer Zwiebelauktion stellte er alle Beiteiligten als Affen dar.

Als der Markt am 6. Februar 1637 einstürzte, gehörte auch sein Kollege, der Landschaftsmaler Jan van Goyen zu den Opfern. Noch Jahre nach seinem Tod wurden seine Witwe und die Kinder von seinen Gläubigern verfolgt. Dieser 6. Februar 1637 ging als erster Börsenkrach der Welt in die Geschichte ein.

 Der Beliebtheit der Tulpe allerdings konnte dies keinen Abbruch tun. Dafür sorgten der schon damals sprichwörtliche Handelsgeist der Niederländer – und der durchlässige Sandboden zwischen Haarlem und Leiden, auf dem es der Tulpe ausserordentlich gut gefiel. Wieder wurde sie big business – jetzt als Massenprodukt: Jedes Jahr überrollen die Niederländer die Welt mit 10 Milliarden bollen. Inzwischen taucht die Tulpe als Nationalsymbol im Logo niederländischer Banken und Fluggesellschaften auf. Firmen benennen sich nach ihr, und nicht umsonst bekam Altfussballer Ruud Gullit in Italien den Beinamen „Schwarze Tulpe“. Willig liess sie alles mit sich anstellen, sei es mit gefülltem Blütenkelch oder mehrfarbig gestreift im Fransenlook.

 900 verschiedene Tulpensorten gibt es inzwischen, allein dieses Jahr werden rund 20 neue Sorten auf den Markt gebracht, darunter die Papageientulpe Irene Parrot, eine Wuschelkopf-“Punktulpe” mit fransigen Rändern. Den Tulpenzüchtern ist es sogar gelungen, die Zahl ihrer Chromosomen von 24 auf 48 zu verdoppeln. Bei diesen Sorten fällt alles doppelt so stark und kräftig aus.

 Allerdings müssen Tulpenfreunde immer noch 25 Jahre warten, bis eine neue Sorte in der Blumenvase steht. Allein 20 Jahre dauert es, bis sie veredelt ist und einen Namen bekommen hat. Ausserdem hat die Tulpe im Gegensatz zu den meisten anderen Blumen eine Jugendphase von bis zu 5 Jahren. Erst dann blüht sie zum ersten Mal. In den ersten 5 Jahren sieht man überhaupt nichts, da wird die Geduld  der Züchter auf eine harte Probe gestellt.

 Auch der Name fällt am Ende meistens anders aus als erwartet: Von zehn fallen neun weg, weil sie schon besetzt sind oder zu ähnlich klingen. Dieses Jahr ist eine Tulpe auf den Markt gekommen, die eigentlich “Alexandra of Denmark” heissen sollte, doch das ging nicht, die Alexandra war schon besetzt. Jetzt heisst sie nur noch “Denmark”- obwohl sie rot-gelb ausgefallen ist und nicht rot-weiss.

 

 

 

 

 

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Papa, was ist eigentlich Globalisation?

Nun, mein Junge, es heisst Globalisierung, und Globalisierung ist, wenn in Island ein Vulkan ausbricht, und ich hier in Afrika kein Hotelzimmer finde, weil massenweise Urlauber nicht in ihre Heimatlaender reisen koennen. Deren Rueckfluege wurden naemlich gestrichen.

Die Hotelbetreiber in Hurghada, wo ich heute zwangsweise eintraf, weil ich was recherchieren muss, also diese Hotelbetreiber in dieser Pauschaltouristenhoelle sagen ihren Gaesten, sie sollten nun selber sehen, wo sie bleiben, weil man den Touristen, die aus Russland jetzt ankommen, ihre gebuchten Zimmer nicht verweigern koenne. Deren Fluege wurden ja nicht gestrichen.

So fuehrt der Vulkanausbruch auf Island zu einem Touristenstau in Afrika. Und zu einer Preisexplosion bei den Zimmerpreisen, denn dieselben Hotelbetreiber haben angesichts der zwangsgestiegenen Nachfrage flugs die Raten um schaetzungsweise 30 Prozent erhoeht, gepriesen seien die Naturgewalten. Man kann also sagen, dass mein Geldbeutel in Afrika duenner wird, wenn auf Island ein Vulkan ausbricht. Das ist Globalisierung – oder besser die noch etwas unausgereifte Beta-Version davon.

Ganz zu schweigen davon, dass ich diesen Blogeintrag hier im Internetcafe nahezu blind auf einem kyrillischen Keyboard schreibe.

 

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BLOGGEN ODER NICHT BLOGGEN?

Es geschieht schnell. Ich meine, das mit dem Blogschreiben. Oder mit dem Nicht-Schreiben des Blogs. Den ganzen Monat tickt es im Hinterkopf „Am 1. des Monats bist du dran“ und „mach was Witziges“ und „Achtung! Bald ist es so weit“. Und dann ist, oh Wunder, wieder das Ende des Monats da und die ultimative Meldung im Hirn heißt: „Scheiße, du hast es vergessen“. Dann bricht Panik aus, die Finger fliegen auf der Tastatur und es ist gerade noch geschafft. Und warum das menschliche Wesen (in diesem Falle ich) alles in letzter Sekunde erledigen muss, das wird mir in diesem Leben ein Rätsel bleiben.

In diesem Monat haben alle Warnsysteme versagt. Blogschreiben? Schlicht vergessen. Und wenn nicht Ruth aus Tel Aviv per E-Mail gemahnt hätte („Wo bleiben die Blogschreiber?“)  hätte ich weiterhin sorglos die Ostertage mit meinen Freunden verlebt. Die aus allen Himmelsrichtungen nach Belgrad eingeschwebt sind.

Da war zuerst Bora Sajtinac aus Paris. Der geniale Zeichner, der jahrelang für DIE ZEIT und den STERN die deutsche Gegenwart beobachtet hat, bekam in Belgrad den Preis für sein Lebenswerk. Als wir über gestern und heute in einem Stadtcafé redeten, knipste ein Pressefotograf Boras verkehrte Welt: wir zwei Hübschen sind im Deckenspiegel zu sehen.

Dann kamen Emilija, Mirjana und Aaron und all die Tage haben wir viel gegessen, viel geredet, nett getrunken und Fotos vor der Kathedrale gemacht.

Meine Gäste waren genau das, was Belgrad suchte: Kurzreisende, die schön Geld in der Stadt lassen. Nur: als sie Belgrad von der Donau aus begucken wollten, immerhin 20 Euro pro Person hätten sie bezahlt, hieß es: Sorry, die Saison beginnt erst in einer Woche.

Wie clever. Dann sind alle Touristen weg.

 

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DER KAHLSCHLAG VON BELGRAD

Belgrader längste Straße ist sieben Kilometer lang und  heißt Boulevard des König Alexander. Seit 90 Jahren ist der Boulevard die schönste Allee der Stadt. So lange säumten 500 dicke, schattenspendende Platanen die breite Straße. Bis gestern.

 

 

 

 

Die Stadtverwaltung, die jahrelang die Kronen der Bäume gekappt hat, („zu hoch, zu gewaltig“) hat im Zuge der Umgestaltung des Boulevards beschlossen die Platanen abzuholzen. Weil sie krank seien – so die Erklärung. Die Ursache: die vorherige, unsachgemässe Beschneidung der Kronen.

Die Meldung wird in der Tagespresse veröffentlicht, zuerst ohne Resonanz. Dann melden sich namhafte Intellektuellen, Studenten und Schauspieler umarmen die Bäume, alle verlangen noch ein Gutachten. Die Presse schweigt. Die Pressekonferenzen der neugegründeten Bürgerinitiative gegen den Kahlschlag werden nicht beachtet. Über den Protest erfährt man nur in der Rubrik „Leserbriefe“ der Tagespresse.  Blogs und Facebook bieten die Plattform, auf der tausende von Unterschriften gesammelt werden. Am Ende ist der Druck so groß, dass die Stadtverwaltung einen neuen Gutachter beruft, der prompt erklärt, „nicht jeder Baum ist krank, nicht jeder Baum muss weg“. Es schien, als ob eine Einigung möglich wäre: nur kranke Bäume sollen ersetzt werden. An diesem Montag (1. März) sollte die endgültige Lösung gefunden werden.

Trotzdem werden  an diesem Wochenende a l l e Bäume, 500 dicke, 90 Jahre alte Platanen abgesägt.

Auf dem nassen Asphalt liegen gelbe, goldene, gesunde Stumpfe. In meiner Wohnung, im 4. Stockwerk mache ich laute Musik an, um nicht den bohrenden Ton der elektrischen Sägen zu hören. Eine Nachbarin weint, ich weine mit. Die Aktivisten umarmen die Bäume, erfolglos. Sie werden abgeschleppt, die Bäume abgesägt. Die Vogelnester klatschen auf den nassen Asphalt.

Für ein Land, das erst vor einem Jahr ein Umweltschutzgesetz verabschiedet hat, für ein Land das in Müll, Abgasen und qualmenden Deponien erstickt, stehen Bäume auf der Prioritätenliste weit unten.

Ich bin in meiner tiefsten Seele traurig. Mit diesen Bäumen ist ein Teil meiner Kindheit verschwunden.

Felix Serbia. Felix Belgrado.

Ohne Stadtvögel, ohne Bäume, mit Autos bepflastert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Der Auslandskorrespondent als Hochleistungssportler

Normalerweise ziehe ich gut dreimal pro Woche beim Joggen meine Runden. Letzte Woche war es lediglich ein Spurt auf dem Rotterdamer Bahnsteig, um in allerletzter Sekunde doch noch den Zug nach Den Haag zu erwischen. Dennoch kam ich mir vor wie ein Hochleistungssportler – mit dem Unterschied, dass Auslandskorrespondenten Allrounder sein müssen und sich besser nicht spezialisieren sollten.

Das liegt nicht nur an Hollands Eislaufstar Sven Kramer, der in Vancouver bei den 10 Kilometern von seinem Trainer auf die falsche Bahn geleitet und disqualifiziert wurde, obwohl er Olympischen Rekord gelaufen war – ein menschlicher Fehler mit allen Ingredienzen einer griechischen Tragödie, die die gesamte Nation tagelang in Schockzustand versetzte. Jetzt lieben alle Kramer noch viel mehr als zuvor, denn der Sportler hat echte Grösse bewiesen und seinem Trainer verziehen.  

Für die Auslandskorrespondenten in den Niederlanden war dieser falsche Wechsel ein kurzer Zwischensprint, den wir unerwartet einlegen mussten – zwischen dem Platzen der Regierungskoalition, der am Wochenende zuvor die zweite Verlängerung der Afghanistanmission zum Verhängnis geworden war, und den Kommunalwahlen  am kommenden Mittwoch – beides eher mittellange Abstände.

 Die Afghanistanmission selbst hingegen beschäftigt uns schon seit Jahren und ist eher als Marathon einzustufen. Was auch für Geert Wilders gilt von der islamfeindlichen Partei für die Freiheit PVV. Wobei ein Ende des „Wilders-Marathons“ noch lange nicht in Sicht ist: Glaubt man den Umfragen, feiert die PVV nicht nur bei den Kommunalwahlen am 3. März Triumphe, sondern auch bei den Neuwahlen am 9. Juni.

 Wie sehr sich ein Land ändern kann, das merkte ich auch bei einer Arbeitsmarktreportage in Oss und Rotterdam (wo ich dann fast den Zug verpasst hätte): Denn bei Hartz IV-Empfängern kennen die Niederländer kein Pardon mehr: In neun von 10 Gemeinden müssen sie etwas tun für ihr Geld: „Voor wat hoort wat“, lautet das Motto, „keine Leistung ohne Gegenleistung“. Und deshalb falten niederländische Hartz IV-Empfänger Kartons, halten Grünanlagen instand oder montieren Antennen: „Irgendwas kann jeder“, so das Motto von Rotterdams Dezernenten für Soziales Dominic Schrijer.

Ach ja, und dann haben wir uns letzte Woche auch noch auf den Karadzic-Prozess vorbereitet, der nach mehreren Unterbrechungen am Montag endlich richtig losgehen soll. Auch das eher ein Endlos-Marathon. Aber noch ist nicht Montag. Und deshalb gehe ich jetzt erstmal joggen. Endlich.

 

 

 

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In größter Not

Wer einmal am eisigen Mahlstrom des Dettifoss oder am kalbenden Gletscher Vatnajökull stand, der weiß, was Naturgewalten sind.  Die Isländer sind es gewohnt, den Elementen hilflos ausgeliefert zu sein. Doch ihr Tanz auf dem Vulkan fand mit dem Finanzbeben im Herbst 2008 ein jähes Ende.  Sturmfluten wurden ausgelöst, die nun über die 320 000 Insulaner hinweg rollen.  Die roten Brandfackeln der Demonstranten vor dem Amtssitz ihres Präsidenten  Ólafur Ragnar Grimson sind Zeichen der größten Not. Viele verloren Arbeit und Altersgelder, müssen um Haus und Auto bangen, weil sie hoffnungslos überschuldet sind.

Das Volk möge nun entscheiden, ob der vom Parlament beschlossene Plan zur Entschädigung ausländischer Kunden der Internetbank Icesave Bestand haben soll. Eines steht fest: Islands Banken – und notfalls die Regierung – müssen für die Pleite haften. Und die Gläubiger haben alle Trümpfe in der Hand. Verweigern sich die Isländer der Rückzahlung, stehen weitere Teilzahlungen des Hilfspakets in Frage. Und auch der Beitritt des Landes zur Europäischen Union.

Wenn nun der Souverän über den künftigen Kurs bestimmen soll, dann ist das auch eine Bankrotterklärung der Politik. Konservative und Fortschrittspartei hätten den Rückzahlungsplan um ein Haar schon im Parlament zu Fall gebracht. Ausgerechnet jene schüren jetzt die Massenproteste, die Island an den Rand des Abgrunds brachten. Indem sie junge Banker einfach machen ließen, mit denen sie einst die Schulbank teilten.  Vetternwirtschaft, Korruption und Mauschelei zwischen Politik und Hochfinanz sind das eigentliche Übel. Mit dem Plan, die rot-grüne Regierung zu stürzen, ist wohl auch die Hoffnung verbunden, von der Aufklärung dieser Machenschaften verschont zu bleiben. 

Regierungschefin Johanna Sigurdadottir betont, Island werde sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Ihr muss es nun gelingen, das revoltierende Volk bis zum 20. Februar von den bitteren Notwendigkeiten zu überzeugen. Gelingt es ihr, steht sie stärker da als je zuvor. Die Abrechnung in Island könnte endlich beginnen.

 

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Eisfieber

 

 

   Es ist jedes Jahr dasselbe: Sobald es mehr als drei Nächte hintereinander friert, macht sich in den Niederlanden das Eisfieber breit – eine Epidemie, die – egal, ob gross oder klein – in einem angsterregendem Rekordtempo die gesamte Nation erfasst und auch die Sprache drastisch beeinflusst. Ist doch auf einmal von Eistransplantationen die Rede, von Eismeistern – und vom Elfstedentocht, jenem heroischsten Schlittschuhlauf der Welt, auch „Lauf der Läufe“ genannt, gut 220 Kilometer lang entlang der elf friesischen Städte. Zehntausende nehmen teil, auch wenn es einige immer ein paar abgefrorene Zehen oder Finger kostet und sich viele erst weit nach Mitternacht mehr tot als lebendig über die Ziellinie schleppen.

Dank Klimawandel wird vielen diese Peinigung erspart, der letzte Elf-Städte-Lauf fand im Januar 1997 statt. Aber gehofft wird halt jedes Jahr, auch jetzt wieder. Immerhin könnte der plötzliche Wintereinbruch den Niederländern Bilderbuchweihnachten bescheren. Die ganze Nacht hat es geschneit, auch heute vormittag noch. Momentan liegt hier an der Nordseeküste bei Leiden mehr Schnee als zuhause bei meinen Eltern in Baden-Württemberg. Ich habe die Wohnzimmertür in den Garten kaum aufgekriegt, das hat es noch nie gegeben. Und vor der Haustür, auf den Kanälen, haben sich schon gestern die ersten aufs Eis getraut, bei blitzeblauem Himmel.

Beim Anblick solch fröhlicher Eislaufzenen werde ich von einer geradezu hemmungslosen Liebe zu meinem Wahlheimatland erfasst. Sämtliche Kritik, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hat, schmilzt wie Schnee in der Sonne. Erstens scheint das schatsen, wie das Schlittschuhlaufen auf nederlands heisst,  das Beste im Holländer zum Vorschein zu bringen, denn auf einmal sind alle überaus freundlich, hilfsbereit und so richtig gut drauf – bei Temperaturen über Null wartet man darauf zuweilen vergeblich.  Zweitens geht es hier dann zu wie auf den Gemälden Alter Meister, die schon im Goldenen 17. Jahrhundert das bunte Treiben der Eisläufer verewigt haben – und daran kann ich mich nicht sattsehen: Genauso wie vor 400 Jahren schieben Ungeübte auch heute noch einen Esszimmerstuhl vor sich her, um nicht dauernd hinzufallen. Kinder nehmen ihre Schlitten mit aufs Eis, Jugendliche spielen Hockey oder flitzen um die Wette, rechts und links am Rand machen sich Buden mit Glühwein oder warmer chocolademelk breit. Am schönsten ist das alles im Grachtengürtel altholländischer Städte wie Leiden oder Amsterdam, vor der Kulisse historischer Grachtenhäuser aus dunklem Backstein, die mit ihren prächtig verzierten weissen Giebeln alle aussehen wie Lebkuchen mit Zuckerguss. So manche Kneipe rollt dann einen Läufer aus, damit die Schlittschuhläufer auf Kufen in die Kneipe stolpern können, um sich bei einem borrel aufzuwärmen.

 Weniger glücklich sind die Hausbootbesitzer. Beim letzten strengen Elfstedentocht-Winter 1997 lagen ihre schwimmenden Heime so fest im Eis, dass sie sich vorkamen wie Entdeckungsreisende auf Nova Zembla. Auch müssen sie sich, sobald es friert,  auf ungebetene Gäste gefasst machen: Viele Schlittschuhläufer schauen ungeniert bei ihnen durchs Fenster rein. Manche setzen sich sogar ganz dreist oben aufs Deck, um sich die Schlittschuhe anzuziehen. Und Anfänger nutzen die Boote als Halt oder  höchst willkommene Notbremse.

 Allerdings hat das Eis auch seine Vorteile: 1997 konnten die Hausbootbewohner wochenlang um ihr Heim herumspazieren, um in aller Ruhe die Fenster zu putzen oder längst fällige Reparaturarbeiten zu erledigen. Normalerweise müssen sie das von einem schwankenden Beiboot aus erledigen. Und je tiefer die Temperaturen, desto wämer das nachbarschaftliche Verhältnis: Man trifft sich viel häufiger mit den Hausbootbewohnern vom anderen Ufer.  

 So wie der Rest der Nation wünscht sich deshalb auch so mancher Hausbootbesitzer inbrünstig, dass es nach 13 Jahren Warten endlich wieder zu einem Elfstedentocht kommt – und der Eismeister nach wiederholtem Messen der Eisdicke wie immer auf friesisch die drei erlösenden Worte sprechen kann:  „It giet oan – es kann losgehen!“

 

 

 

 

 

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Über fietsen und Teilzeit

Die Leichtigkeit, mit der sie sich auf den Rücksitz eines Rades schwingen – seitlich, wohlgemerkt, mit elegant wippenden Beinen – das fasziniert mich noch immer. Und keine Frage: Sobald sie ein Kind bekommen haben, landet auch das auf dem fiets. Holländische Frauen sind wahre Akrobaten auf dem Sattel. Noch ein Kind? Einkaufstaschen? Alles kein Problem: Der Nachwuchs sitzt ganz hinten und ganz vorne, die Einkaufstaschen baumeln rechts und links – und schon stürzt sich die holländische Mutter kühn und unerschrocken in den Verkehr, vorzugsweise zu den Stosszeiten, denn die kleintjes müssen ja zur Schule gebracht und abgeholt werden. 

Inzwischen macht zwar das bakfiets Furore, das so genannte Wannenrad, in dem neben Sprösslingen und Einkaufstaschen auch noch problemlos der Weihnachtsbaum Platz findet. Aber dennoch stehen insbesondere deutschen Müttern allein bei der Vorstellung vor Grauen alle Haare zu Berge: Erstens ist der Nachwuchs Auspuffgasen ausgesetzt, zweitens setzt man sich grundsätzlich nur mit Helm auf ein Rad. Und drittens, so finden auch andere Nicht-Holländerinnen, mutet die Rollenverteilung aus emanzipatorischer Sicht etwas seltsam an: manlief, wie der Ehemann liebevoll genannt wird, begibt sich majestätisch im dicken leeren Auto zur Arbeit, vrouwlief, wie die Gattin heisst, lässt sich samt kids und Einkäufen mit dem fiets abspeisen. „Wäre es“, gab meine kolumbianische Freundin Evelyn einst zu bedenken, „umgekehrt nicht logischer?“

 Neulich musste ich an ihre Worte zurückdenken. Da sah ich einen Mann auf dem fiets, der sämtliche akrobatischen Sattel-Künste der holländischen Frauen in den Schatten stellte: Auch er hatte ein Kleinkind vorne, eines hinten, Einkaufstaschen rechts und links, aber er setzte noch eins drauf, denn er hatte auch noch einen Hund an der Leine, der fröhlich neben dem fiets trabte.

 Sollte man diesen Mann nun als Symbol eines fortgeschrittenen Emanzipationsprozesses sehen? Guten Willen kann man Hollands Männern schliesslich nicht absprechen, sie arbeiten sogar Teilzeit, sonst könnten sie sich mit dem Nachwuchs ja nicht mitten in der Woche aufs Rad schwingen. Zwar könnten es ruhig mehr sein, aber ein Anfang ist gemacht, in den Nachbarländern sind es weit weniger. Wahrscheinlich, weil ein Arbeitnehmer in den Niederlanden ein Recht auf Teilzeit hat, im Ausland hingegen oft gar nicht erst vor diese Wahl gestellt wird.

 Womit wir bei einem Thema wären, über das ich mich mit meinen niederländischen Freundinnen jedes Mal in die Haare kriege. Nämlich die Tatache, dass die Niederländerinnen Weltmeister im Teilzeitarbeiten sind, obwohl das bekanntlich eine Karrierebremse ist. Mit der Folge, dass sie ihrem Image als moderne, emanzipierte Frauen bei weitem nicht gerecht werden und – was Führungspositionen anbelangt – sich auf dem selben Niveau befinden wie die Frauen in Pakistan oder Botswana.

 Bloss: Sie finden das gar nicht weiter schlimm, selbst meine beste Freundin Ina nicht: „Wir können unseren Einfluss auch indirekt geltend machen, wir brauchen nicht direkt an den Knöpfen der Macht zu drehen“, pflegt sie zu. Sie droht mir bei solchen Gesprächen regelmässig die Freundschaft zu kündigen, weil ich gerne nachfrage, inwieweit das vielleicht etwas mit Bequemlichkeit oder mangelndem Ehrgeiz zu tun haben könnte.

 Denn Teilzeit ist ja schön und gut und die beste Erfindung auf der Welt, solange es darum geht, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen. Aber in den Niederlanden arbeiten auch Frauen, deren Kinder längst aus dem Haus sind oder die überhaupt keine Kinder haben, vorzugsweise Teilzeit. Finanzielle Abhängigkeit vom Ehemann – nur eine kleine Minderheit von Hollands Frauen ist wirtschaftlich  selbständig – scheinen sie freiwillig in Kauf zu nehmen. Weil das Leben viel angenehmer und stressfreier ist, wenn man zwei oder sogar Tage für seine Hobbies hat und für seine Freundinnen. „Viel leuker“, sagt Ina. Trotz abgeschlossenen Hochschulstudiums, aus dem man eigentlich viel mehr hätte machen können.

 Ist das schlimm? Und stimmt es, was meine holländischen Freundinnen behaupten:  dass auch deutsche Frauen ohne Kinder, die erzogen werden müssen, sofort auf ihre Karriere und Unabhängigkeit pfeifen und reihenweise Teilzeit arbeiten würden, wenn sie es denn nur könnten?? Würde mich echt interessieren….

 

 

 

 

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Vom Schweigen der Fische

Das Bücherschreiben gilt ja gemeinhin als brotlose Kunst. Allen darbenden Literaten sei zum Trost die folgende wundersame Geschichte der Isabella Lövin ans Herz gelegt: Die kernige Schwedin, Jahrgang 1963, schrieb in ihrem Journalistenleben für das Boulevardblatt Expressen über Umwelt und Naturschutz. In ihren Kolumnen im Feinschmecker-Magazin Allt om mat lässt sie sich über die fragwürdige Herkunft unserer Lebensmittel und das lasterhafte Verhalten des gemeinen Konsumenten aus.  

Eine Pressemitteilung der schwedischen Fischereibehörde lässt sie 2005 aufhorchen: der Aal, ein von allerhand Mythen und Fabeln umranktes Urzeitwesen, Wanderer zwischen den Weltmeeren, Meister der Metamorphose, ist in Schweden und in den Ländern rund um die Ostsee akut vom Aussterben bedroht. Auch der Dorsch bzw. Kabeljau ist in Skagerrak und Kattegatt so gut wie ausgerottet, kaum besser sind die Aussichten für den liebsten Speisefisch der Schweden in der Ostsee und in der Irischen See. Die alarmierenden Zahlen sind Forschern und Funktionären seit Jahren bekannt, doch in den Debatten werden noch immer überwiegend diffuse Umweltgifte, Emissionswerte und Belastungen durch Stockstoff und Phosphor aus der Landwirtschaft für die Krise der Weltmeere verantwortlich gemacht.

Dabei liegt das Problem auf der Hand: Europas überdimensionale Fischereiflotte zieht alles Leben aus dem Wasser, ohne Rücksicht auf die Bestände. Mit immer schnelleren Trawlern rüsten die Fischer auf, mit Echolot und ausgeklügelten Kühlsystemen. Die EU subventioniert auch den Schiffsdiesel und garantiert die Abnahme der Quoten. Mit dem Beitritt zur Union verdreifachten sich in Schweden die Staatsausgaben für die bedrohte Spezies der Küstenfischer, zugleich zweifeln immer mehr Kapitäne am wirtschaftlichen Sinn ihrer Arbeit. Ein Großteil ihres angelandeten Fangs wird zu Tierfutter verarbeitet. Die sonst so umweltbewegten Schweden machen sich für Treibnetze stark und stimmen im Rat regelmäßig für weitaus höhere Quoten als von den Forschern der ICES empfohlen.

Lövin gräbt sich weiter durch die Statistiken. 2007 erscheint ihr überaus spannendes und faktenreiches J´Accuse. „Tyst hav“ (Das stille Meer) wird in Schweden völlig unerwartet zum Bestseller, Lövin tingelt durch die Talkshows, ein Preisregen geht auf sie nieder. Die schwedischen Grünen tragen ihr einen Listenplatz in der gutbürgerlichen Stockholmer Vorstadt Nacka an. Die Journalistin triumphiert in der Europawahl und zieht ins Europaparlament ein, wo sie sich fortan gegen die verheerende Förderpolitik und ausbeuterische Handelsabkommen sträuben will.

Mehr noch als die prestigevolle Ratspräsidentschaft führen Alltagshelden wie Lövin den Schweden vor Augen, wie verbandelt ihre nordische Heimat längst mit dem scheinbar so fernen „Kontinent“ ist. Unlängst haben sogar Schwedens Grüne – notorische Europa-Muffel –  ihre traditionelle Forderung nach einem Austritt aus der Union kassiert. Auf ihre furchtlose Streiterin in Brüssel und Straßburg sind sie sogar ein wenig stolz.

Die so Gepriesene haut sich nach einer harten Sitzungswoche gern mal einen Fisch in die Pfanne. Vom Angeln nimmt die Naturfreundin Abstand. Sie findet das niederträchtig. Und womöglich fehlt ihr auch die Geduld.

 

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Mannsbilder hinterm Deich

 

 Wenn ich Pech habe, träume ich noch von ihnen. Ich sehe es bereits genau vor mir: Die hochblond gefärbte Mozart-Haartolle des islamophoben Politikers Geert Wilders verschwimmt langsam ins Gräuliche und verwandelt sich in die weissgrauen Zotteln von Radovan Karadzic. Die glätten sich dann auf wunderbare Weise, um – versehen von einer kastanienbraunen Tönung – einen akuraten Seitenscheitel zu formen, unter dem auf einmal das bubenhafte Antlitz des niederländischen Premierministers Jan Peter Balkenende auftaucht, möglicherweise der erste Ständige Ratspräsident Europas.    

 Wilders, Karadzic, Balkenende – um diese drei Männer dreht sich in den letzten Tagen in den Poldern alles. Um Wilders nicht nur, weil er Umfragen zufolge mit seiner fremdenfeindlichen Partei der Freiheit PVV nach wie vor der Grösste werden würde, wenn jetzt Wahlen wären. Er schlug auch wieder einmal mit derben Beschimpfungen wild um sich:   Nachdem es andere Politiker gewagt hatten, ihn als Rechtsextremisten,  Rassisten und Gefahr für den Rechtsstaat zu bezeichnen, nahm Wilders es sich heraus, seine Kritiker als Handlanger von Mohammed Bouyeri zu bezeichnen, des Mörders von Theo van Gogh – und zwar gerade noch rechtzeitig zum fünften Todestag des ermordeten islamkritischen Regisseurs.

 Um Karadzic, weil er sich – einer verwöhnten Diva gleich – erst an seinem dritten Prozesstag dazu herabliess, vor den Richtern zu erscheinen, um dann – ebenfalls wie eine Diva – ausführlichst darüber zu jammern, dass er angesichts seiner Prozessvorbereitungen noch nicht einmal mehr Zeit habe, frische Luft zu schöpfen, geschweige denn, Sport zu treiben. Und obwohl er Tag und Nacht durcharbeite (er gähnte selbst ein paar Mal wirkungsvoll), brauche er einfach noch mehr Zeit, um angemessen seine Verteidigung auf sich nehmen zu können. Was ja auch kein Wunder ist, schliesslich hatte der ehemalige Führer der bosnischen Serben Besseres zu tun: Seit seiner Überstellung nach Den Haag im Juli 2008 haben er und seine mehr als 30 Mann starke Armada aus Juristen und Rechtsberatern das Jugoslawientribunal mit mehr als 240 Anträgen regelrecht bombardiert – ein absoluter Rekord, alle Achtung, das hat noch kein anderer Angeklagter vor ihm geschafft, wobei viele dieser Anträge von den Richtern als reine Schikane empfunden wurden. Ob Karadzic doch noch gegen seinen Willen einen Pflichtverteidiger bekommt, ist offen: Ende der Woche wollen die Richter bekanntgeben, in welcher Form der Prozess, der gestern nach eineinhalb Stunden abgebrochen wurde, weitergehen soll.

 Vielleicht steht bis dahin auch schon fest, ob der niederländische Premierminister Jan Peter Balkenende Den Haag gegen Brüssel eintauschen kann. Schliesslich fühlt er sich dort viel wohler als zuhause hinter den Deichen, wo ihm seine Landsleute das Leben zunehmend schwer machen. Balkenende muss aufpassen, nicht als unbeliebtester und farblosester Premierminister in die Geschichte der Niederlande einzugehen. Er gilt als blitzgescheit und brav, als tüchtig und vertrauenswürdig – aber eben auch als langweilig und grau. Ein Mann ohne Tatkraft und ohne Charisma. Wen wundert es da noch, dass ihn 57 % aller Niederländer, so ergab eine Umfrage, nicht vermissen würden! Aber ob sie ihn tatsächlich so schnell loswerden, bleibt abzuwarten. Dass da Skepsis angebracht ist, fand auch einer meiner Kollegen hier in Den Haag: So schlecht, meinte er, sei Europa nun auch wieder nicht, dass es Balkenende verdiene.

 

 

 

 

 

 

 

 

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sorry, Holland

 

Europa ist ja schon ein schwieriger Ort. Finden wir auf jeden Fall hier unten in Ozztralija. Ok, dass das United Kingdom eine Insel ist und daher irgendwie nicht so richtig dazu gehört, Tony Blair als EU-Boss hin oder her, ist ja halbwegs logisch. Aber Holland? Ist da bei Euch auch schon Land unter, Kerstin? Laut meinem Supermarkt jedenfalls seid ihr draußen: Klare Sache, ihr dümpelt jenseits der Eurozone irgendwo zwischen Indien, Libanon und Kosher… (die Honigwaffeln waren by the way lecker – ob nun europäisch, dutch oder made in Poland).

 

 

 

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Von “bad news” zu schönen Geschichten..

Was hatte ich damals für Sorgen, als es im Januar 2007 in Moskau ans Kofferpacken ging. Nach knapp sieben aufregenden und bewegenden Jahren als freier Korrespondent in Moskau und ganz Russland sollte ich in die Schweiz wechseln, noch dazu in eine Festanstellung zu ‘cash TV‘, einem privaten Wirtschaftsfernsehmagazin.

 In Moskau hatte ich mich schnell daran gewöhnt, dass jederzeit weltbewegendes passieren kann: Katastrophen, Krieg, Attentate und so weiter. Ich hatte im August 2000 noch nicht die Koffer ausgepackt, da soff schon das Atom-U-Boot ‘Kursk’ mit 118 Mann Besatzung ab und hielt mich und die Weltöffentlichkeit tagelang auf Trab. Nachts liess ich all die Jahre das Handy eingeschaltet neben meinem Bett, allzeit bereit für die nächsten Einsätze. Und es folgten einige.

 Die vielen ‘bad news’ und der menschenverachtende Umgang mit dem Volk durch die Obrigkeit hatten mich zynisch werden lassen in all den Jahren; ‘wo man auch hinschaut, man packt in Scheisse’, sagte mir eine deutsche Kollegin bei meinem letzten Besuch in Moskau in diesem Sommer. Recht hat sie.

 Dennoch war damals meine Sorge gross, in der ruhigen, gemütlichen und reichen Schweiz journalistisch zu veröden. Schliesslich gibt es in der Schweiz keine wirklich harten politischen Auseinandersetzungen; in der Schweiz regieren Konsenz und Mittelmass. Es gibt – und das mag seltsam klingen – in der Schweiz kaum herausragende Persönlichkeiten, aber das ist von den Eidgenossen durchaus so gewollt. Überragende Persönlichkeiten, ob negativ oder positiv, sind verdächtig. Die Schweizer schätzen eben – grob gesagt – das Durchschnittliche. Das macht das Land sympathisch, aber für Aussenstehende auch ein bisschen langweilig. Die Schweiz, ein Land ohne Schlagzeilen, wenn einmal von der Verhaftung von Starregisseur Roman Polanski absieht.

 Dennoch waren meine Sorgen im Nachhinein unbegründet. Die Schweiz steckt voller schöner und auch skurriler Geschichten. Die Eidgenossen waren und sind noch immer ein sehr findiges und innovatives Völkchen. Immerhin haben die Schweizer unter anderem das Alphorn, den Klettverschluss oder auch den Closomat, ein WC mit integrierter Dusche für den Popo erfunden…

 Meist weiss man nur wenig über die klugen Köpfe hinter solch bahnbrechenden Erfindungen. Als ich von dem Kartoffelbauer Ueli Maurer hörte, der seit zehn Jahren (!) damit beschäftigt ist, den perfekten Pommes-Frites-Automaten zu entwickeln, wurde ich neugierig und ging der Sache nach.

 Hier ist seine Geschichte:

 Es ist eine typisch schweizerische Geschichte.

 

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Sonntags nie

 

Sonntags wählen ist in den Niederlanden ausgeschlossen, für sowas Profanes darf der Tag des Herrn aus Rücksicht auf strenggläubige Kalvinisten nicht missbraucht werden. Doch das Interesse an den Bundestagswahlen ist so gross, dass man fast meinen könnte, dass heute nicht in Deutschland, sondern in den Niederlanden gewählt wird: Merkel und Steinmeier prangen auf den Titelseiten der Zeitungen, gleich darf ich zu einer grossen Wahlparty in Den Haag aufbrechen, und mehrere Zeitschriften und Nachrichtenmagazine analysieren diese Woche in ihren Aufmachern ausführlichst den deutschen Wahlkampf.

Dabei wundern sich die Niederländer vor allem über eines: Dass in der deutschen Parteienlandschaft weit und breit kein rechtspopulistischer Geert Wilders zu entdecken ist, der Islam im Wahlkampf kein Thema war und auch kein Moslem-bashing stattfindet. Ganz einfach, weil es unanständig ist und man sich dafür eigentlich schämen sollte. Das jedenfalls erfährt der Leser im Meinungsblatt Vrij Nederland, das nach acht Seiten Analyse zu dem Schluss kommt, dass die Niederlande für die Deutschen ein Beispiel dafür sind, wie man es nicht machen sollte.

So können sich die Zeiten ändern. Als ich in den 90er Jahren hierher kam, war es genau umgekehrt: Die Niederländer galten als vorbildlich an allen Fronten, und darüber schrieben wir Korrespondenten uns die Finger wund. Egal, ob Drogenpolitik, Toleranz, Integration oder Sterbehilfe: „Bei uns ist alles besser“, lautete das Motto, mit dem sich die Niederländer nur allzu gerne brüsteten, um dem Rest der Welt zu zeigen, worin ein kleines Land ganz gross sein kann – vor allem dem dicken Bruder im Osten, den Deutschen.

Inzwischen schlagen die Niederländer leisere Töne an. Und sie sind nicht bloss bescheidener geworden, sie gucken auch nicht mehr verächtlich über die Grenze, sondern – man halte sich fest – bewundernd! Dass ihr Deutschlandbild nicht mehr ausschliesslich vom Zweiten Weltkrieg und der deutschen Besatzungszeit geprägt ist, liegt nicht nur an Schüleraustauschprogrammen und neuem Unterrichtsmaterial für die Geschichtsstunde. Höchst effektiv für die wundersame Wandlung war auch der WM-Effekt 2006: „Toll, wie ihr das hingekriegt habt!“ heisst es noch heute. Dass sich damals einige deutsche Fussballfans ein niederländisches Oranje-Trikot übergezogen haben, hat die Niederländer sogar regelrecht aus der Fassung gebracht. Ein Oranjefan in einem deutschen Trikot wurde bislang zwar noch nicht gesichtet, aber deutsche Tugenden wie Fleiss und Ausdauer stehen inzwischen so hoch im Kurs, dass sich immer mehr niederländische Unternehmer in Deutschland niederlassen. Auch im Grenzgebiet zieht es immer mehr Niederländer auf die deutsche Seite, vor allem wegen der Höflichkeit und der guten Umgangsformen, ergab eine Umfrage. Ist es zu fassen? Da könnte man als Deutscher vor Verlegenheit ja glatt rot werden!

Wer’s nicht glauben will, dem zeige ich als Beweis gerne immer wieder jenen Artikel aus der angesehenen Tageszeitung Volkskrant,  der auf einer ganzen Seite erklärt, warum in Deutschland alles besser ist – angefangen bei den Brötchen über die Taxifahrer bis hin zu den Debatten im Parlament. Auch die Sonderbeilage „Duitsland is ok“ hab’ ich mir aufgehoben, schon allein wegen der 45 Tipps, die darin gegeben werden. Kleine Kostprobe: „Trinke deutschen Wein, trage Birkenstock und kaufe bei Tchibo.“

 

 

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Im Herzen der Finsternis

Kaddisch im Wald von Paneriai. Fania Brantsovskaya reicht dem Reporter bis zum Bauchnabel. Die alte Dame, Jahrgang 1922, überlebte die Auflösung des Wilner Ghettos 1943, ging als Partisanin in die Wälder. Sie hat ein vergilbtes Foto mitgebracht. Von ihrer Familie ist nichts geblieben als die Erinnerung. 70 000 Menschen haben die deutschen Besatzer in Ponar, rund 20 Kilometer südwestlich der litauischen Hauptstadt Vilnius, erschossen, in Gruben aufgeschichtet und verbrannt.

Vor dem Einmarsch der Nazis war fast jeder zweite Bewohner der Stadt jüdischen Glaubens. „Vilne“ ein Zentrum jüdischer Kultur, das es so in Nordeuropa kein zweites Mal gab. Litauens jüdische Emigranten, die Litvaken,  sind noch einmal zurückgekehrt ins Herz Europas, wollen die Erinnerung an dieses litauische Jerusalem mit seinem weltberühmten Gaon wieder aufleben lassen. Aber sie sprechen auch ein Thema an, das in der jungen Republik tabuisiert wird: Mit bestialischen Greueltaten beteiligten sich Litauer als willige Helfer der Nazis am Judenmord.

Unterdessen mühsame Spurensuche in der barocken Altstadt. Kein Schild, kein Hinweis. Im offiziellen Programm der Kulturhauptstadt findet das jüdische Erbe kaum statt. Kritiker halten Vilnius ohnehin für unwürdig, weil es bis heute Streit um die Rückgabe jüdischen Eigentums gibt. Frostig sei der Umgang mit der Minderheit, klagt der rastlose Simon Gurevičius von der Gemeinde (3 000 sind sie noch): Litauische Staatsanwälte ermittelten gegen jüdische Partisanen um Brantsovskaya. Neonazis durften vor der Synagoge aufmarschieren.

Immerhin, im Streit um den ehmaligen jüdischen Friedhof von Vilnius lenkte das Kulturministerium in diesen Tagen ein. Auf den von den Sowjets eingeebneten Flächen darf eine Bebauung nur nach Zustimmung der Gemeinde erfolgen. Auch in den Verhandlungen um Entschädigung für geraubten Besitz im Zuge der Enteignung und Arisierung gibt es Bewegung. Allerdings liegen die gegenseitigen Vorstellungen vom Umfang der Zahlungen noch weit auseinander.

 

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Unter schwarzer Flagge

Schwedens Piratenpartei ist stolze Siegerin der Europawahlen. Erstaunlich eigentlich, denn zu den meisten politischen Themen haben die Rebellen der Generation Internet keine Meinung. Dennoch holten sie aus dem Stand  7,1 Prozent der Stimmen. Unter großer Anteilnahme der jugendlichen Zielgruppe wollen die Freibeuter um Rick Falkvinge und Christian Engström nun auch auf dem Kontinent für Bürgerrechte und gegen immer neue Abhörgesetze, Spitzeltrojaner und Softwarepatente streiten. Die Partei entstand im Umfeld der Raubkopierer-Plattform „The Pirate Bay“ und hat allgemein ein Problem mit dem geistigen Eigentum.  Beobachter in Schweden rätseln nun, ob es sich nur um einen kurzweiligen Erfolg oder vielmehr um eine nachhaltige Protestbewegung handelt.

 

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Helm ab zum Gebet

In Griechenland gibt es eine neue Art landestypischer Unfälle. So kann es einem auf der Autobahn jederzeit passieren, dass der Vordermann plötzlich die Warnblinkanlage einschaltet und mit Vollbremsung auf den Seitenstreifen schleudert. Beim erstenmal dachte ich an einen schweren Motorschaden, Kolbenfresser oder so. Ein griechischer Bekannter hat mich aufgeklärt: Die griechische Regierung hat die Strafen für Handytelefonieren-am-Steuer auf 400 Euro angehoben. Und seit die Polizei die Rekordstrafe gelegentlich auch verhängt, ziehen viele Griechen den schnellen Boxenstopp vor, um am Randstreifen hastig auf Empfang zu gehen. Wer die Reihenfolge Warnblink-Bremsen-Telefonieren einhält, riskiert zwar sein Leben, aber keinen Strafzettel.  Allerdings glaubt die griechische Regierung selbst nicht so recht, dass die 400 Euro auch bezahlt werden. Schließlich kennt jeder Grieche jemanden, der jemanden kennt, der in der Polizei oder in der Verwaltung einen guten Bekannten hat.  Da lässt sich meist was machen, jedenfalls kann man es probieren. Deshalb gibt die griechische Regierung 50 Prozent Skonto, wenn das Knöllchen innerhalb von zwei Wochen beglichen wird. Ungewöhnlich scharfe Drohungen wie auch drastische Rabatte deuten in der Regel auf gewisse Schwächen bei der Durchsetzung von Gesetzen hin. Das kann man in vielen Ländern beobachten, aber nirgends so schön wie in Griechenland. Athen kämpft bei der EU seit Jahren für die Erlaubnis, die Mehrwertsteuer auf Motorradhelme senken zu dürfen. In der Hoffnung, dass dann endlich jeder Biker einen kauft. Denn trotz drastischer Strafen halten viele griechische Motorradfahrer ihren Kopf nach wie vor ungeschützt in den Fahrtwind. Dass das nicht immer gut geht, kann man an den Unfallstatistiken ablesen. Die EU drängt deshalb auf stärkere Kontrollen. Doch die Griechen halten sich lieber an eine andere Instanz: Autobahnen und Landstraßen sind gesäumt von kleinen Votivkapellen, jede ein Dankeschön für den Schutzengel, wenn es gerade noch mal gut gegangen ist. Die Heiligen sollen wissen, dass es sich lohnt, ihre Hand über helmlose griechische Köpfe zu halten.

 

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Togo in Brüssel

Seit einem Jahr verbringe ich meine Samstage auf den Straßen von Brüssel und Flandern. So im Umkreis von 20 Kilometern. Wenn Sie jetzt auf Radfahren tippen, liegen Sie völlig falsch. Wir sind mit dem Auto unterwegs. Stundenlang. Unsere wöchentliche Herausforderung besteht darin,  Sportplätze zu finden. Die Adressen, die unser Sohn von seinem Verein für die Auswärtsspiele bekommt. sind zwar sehr detailliert, helfen aber bestenfalls bis zur Ortseinfahrt.Belgische Fußballclubs scheinen es darauf anzulegen, die Gegner schon vor dem Spiel zu narren. Vielleicht wollen sie den Heimvorteil ausbauen. Jedenfalls gibt es immer wieder Mannschaften, die zu spät oder unvollständig eintreffen. In Uccle sind beim letzten Mal zwei Spieler und auch der Schüler-Trainer nie angekommen. Die angegebene Straße gibt es zwar tatsächlich, aber sie ist sieben Kilometer lang und der Platz liegt hinter den Häusern versteckt in einem Waldstück. Der Platzwart von Uccle war sichtlich überrascht, dass überhaupt jemand hingefunden hat: „Eigentlich verfahren sich hier alle.“ Auf die Idee, ein Schild aufzustellen oder die Wegbeschreibung zu verfeinern, kam trotzdem keiner:  „Hier kann man doch jeden fragen, wo unser Sportplatz ist.“ Sollte man aber nicht auf französisch machen, das mögen die Flamen nicht und schicken einen dann gern in die falsche Richtung. Ein Bekannter hat sich nur für die Rettung seiner Samstage ein GPS angeschafft. Half letzten Samstag aber auch nichts, weil es rund um Brüssel ungefähr 27 Brüsselse Steenwege gibt, an denen mindestens 54 Fussballplätze liegen und der KV Eizer leider nicht übermittelt, auf welchem er seine Heimspiele austrägt. Eine junge Belgierin hat mir kürzlich erzählt, dass sie in Togo in Afrika aufgewachsen ist und dass dort nur die geteerten Straßen Namen haben, die anderen nicht. Wer an einer ungeteerten Straße wohnt, muss seine Briefe bei der Post und seine Besucher bei der nächsten geteerten Kreuzung abholen. Am Samstag werde ich vorschlagen, dass belgische Fussballclubs einen ähnlichen Abholservice einrichten sollten. Aber die würden wahrscheinlich lieber den Sportplatz teeren, damit er auf der Karte einen eigenen Namen bekommt. 

 

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Durchhalten gegen Scarlet

Manche Menschen spielen gegen Schachcomputer, dazu habe ich keine Zeit, ich muss gegen einen belgischen Telefoncomputer antreten. Meiner heißt übrigens Scarlet. Früher hieß er Euronet, wurde dann von Wanadoo aufgekauft, dann von Tiscali und schließlich von Scarlet. Da dachte ich auch noch, dass Scarlet ein richtiges Server-Unternehmen ist mit richtigen Menschen ist und nicht bloß ein Computer. Ursprünglich war daran gedacht, dass mich Scarlet mit dem Internet verbinden sollte. Am Anfang klappte das auch ganz gut. Aber Telefoncomputer schalten offensichtlich irgendwann selbständig in eine höhere Schwierigkeitsstufe. Scarlet hat dann angefangen, statt der Rechungen immer gleich Mahnungen mit Mahngebühren zu schicken. Das war eigenartig, weil Euronet alias Scarlet eine Einzugsermächtigung hatte. Ich habe dann viele Stunden meines Lebens in der Hotline-Warteschleife verbracht, habe E-Mails geschrieben und Briefe und wieder angerufen. Manchmal hörte ich tatsächlich menschliche Stimmen, die sagten, alles werde gut. Wurde aber nicht. Vor zwei Jahren habe ich gekündigt, seitdem ist Scarlet besonders böse mit mir, hat die Frequenz der Mahnschreiben erhöht und auch die Mahngebühren auf die Mahngebühren. Telefoncomputer führen offenbar ein streng abgeschottetes Eigenleben, halten sich für die Hotline ein oder zwei menschliche Sklaven, die nie ihren Namen sagen dürfen und deren Worte nichts wert sind. Eine Zeitlang habe ich es mit Bitten und Flehen versucht, dann wieder gütlich und später mit wüsten Drohungen. Die Scarlet-Sklaven hören sich das an, aber es passiert nichts. Meist bricht plötzlich die Leitung ab. Wahrscheinlich sitzt Scarlet in irgendeinem Erdloch in den Ardennen und lacht hysterisch, wenn ein Telefoncomputerspieler die Nerven verliert und die aufgelaufenen Mahngelder überweist. Dann wird der Mahngebührenzähler wieder auf Null gestellt und nach einem Monat geht das Spiel mit fünf Euro Einstiegsmahngebühr von vorne los. Bei mir sind inzwischen 150 Euro Mahnschulden aufgelaufen. Der neueste Trick von Scarlet ist eine holländische Inkassogesellschaft, die mit einem belgisches Gerichtsverfahren droht, wenn ich nicht sofort zahle. Ich bin etwas abgemagert, aber solange meine Frau meine nächtlichen Fieberattacken und die Schweißausbrüche erträgt, halte ich durch.

 

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Verweis für den Direktor

Der Schuldirektor des Jacqmain-Lyzeums in Brüssel hat einen Verweis bekommen und wird für drei Monate vom Schulbetrieb ausgeschlossen. Weil er 78 Schüler vor dem 30. November eingeschrieben hat. Das war illegal und der Mann wusste das auch und wenn nicht, dann hätte ich es ihm sagen können. Ich habe nämlich am Abend vor dem 30. November vor seiner Schule im eiskalten Regen mein Zelt aufgebaut. So richtig mit Stahlheringe-zwischen-die-Pflastersteine-klopfen und Isomatte und Spirituskocher. Und das alles nur, um am nächsten Morgen meine Tochter für die Oberstufe anzumelden. Das hatte uns die wallonische Schulministerin eingebrockt. Weil sich vor allem katholische Edelschulen in Belgien traditionell die Schüler nach der Qualität des Elternhauses heraussuchen, hat die sozialistische Ministerin verfügt, dass die französisch-sprachigen Oberschulen diesmal alle Kinder akzeptieren müssen, unabhängig von Herkunft und Noten. Startschuss 30. November, wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Vor manchen Schulen standen schon drei Tage vorher hundert Meter lange Schlangen. Die besseren Familien mieteten sich Wohnwagen und Studenten, die abwechselnd anstanden und sich in den Wohnwagen aufwärmten. Der Durchschnittstarif fürs Anstehen lag bei 500 Euro. Der Schuldirektor von Jacqmain hat das vorausgesehen und fand es ziemlich ungerecht und hat deshalb den belgischen Weg gewählt: Wer ihm lange genug vorjammerte, dass er an diesem Tag keine Zeit hat, dessen Kind wurde eben schon vorher auf die Liste gesetzt. Das ist irgendwie rausgekommen und deshalb kriegt der Direktor jetzt drei Monate lang Gehaltsabzug. Die meisten belgischen Eltern finden das zu hart, viele haben vor dem Brüsseler Rathaus protestiert, weil es doch nur gut ist, wenn sich der Direktor nicht an jeden Unsinn von oben hält. Die 78 Schüler bleiben natürlich eingeschrieben.Nächstes Jahr soll sowieso alles wieder anders werden. Bloß wie, das weiß keiner. Sicher ist, dass die Oberschulen keine Aufnahmeprüfungen machen und nicht nach Schulnoten auswählen dürfen. Das wäre ungerecht gegen schwächere Schüler und da ist man in Belgien ganz empfindlich. Das Ministerium sucht nach einer gerechten Lösung. Und dann bleibt immer noch der belgische Weg.

 

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Fritten verlieren Lufthoheit in Belgien

Belgien erstickt in diesen Tagen im Smog, aber da kann man nichts machen. In Charleroi zum Beispiel hat die Stadtverwaltung eine Tempobeschränkung in der Stadt auf 30 km/h beschlossen und auf dem Autobahnring von 50 km/h. Aber die Autofahrer merken davon nur sporadisch etwas, weil die Stadt nicht genügend mobile Verkehrs-Schilder hat.

Schuld ist ohnehin das Wetter, sagen die belgischen Zeitungen, windstille Inversionslage, deshalb kann man doch nicht die Autofahrer bestrafen. Demensprechend umstritten ist auch die vorübergehende Geschwindigkeitsbeschränkung auf einigen belgischen Autobahnen auf 90km/h. „So kommt man doch nicht vom Fleck", sagt eine junge Nachbarin, „und weil sich niemand dran hält, bringt es sowieso nichts.“ Und deshalb hält sie sich auch nicht dran.

Dabei hat die Polizei alle Radargeräte aus dem Keller geholt und auf die Straßen gestellt. In manche Blitzkameras wurden jetzt sogar Filme eingelegt, selbst in der Wallonie. Solche feststehenden Blitzanlagen werden von der belgischen Bundesregierung aufgestellt. In welche dann Filme eingelegt werden, das entscheiden die Regionen. So viel zum Föderalismus. In der ganzen Wallonie, also der Südhälfte Belgiens, sind in normalen Zeiten vier solcher Radaranlagen scharf. „Mehr Kontrollen sind Faschismus,“ hat mir ein befreundeter Fernsehmann erklärt, und die wallonische Regionalregierung hält sich daran.

Ähnlich volksnah gehen belgische Politiker auch mit den Umweltgesetzen um, die sie in den EU-Gremien regelmäßig mitbeschließen. Belgien hat dieselben Grenzwerte wie die Nachbarländer, es kümmert sich bloß niemand darum, ob sie eingehalten werden. In Brüssel werden Feinstaubmessstellen mit Vorliebe in Parks und Waldstücken aufgestellt. Die Begründung: Dass die Grenzwerte an neuralgischen Verkehrsknoten überschritten werden, weiß man sowieso.

Am deutlichsten wird der Smog von den Ärzten diagnostiziert, die einen dramatischen Anstieg der Luft- und Atemwegsbeschwerden melden. Eine Studie hat vor kurzem vorgerechnet, dass Belgier wegen der starken Umweltverschmutzung im Schnitt ein Jahr früher sterben. Vielleicht haben sie deshalb keine Zeit, langsamer zu fahren.

 

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Ein Brotbeutel gegen Freiheitsberaubung

Meiner belgischen Zeitung lag heute morgen ein Brotbeutel aus reißfestem Papier bei. Auf dem Beutel sind die zehn wichtigsten Rechte eines Angeschuldigten im Fall einer Verhaftung aufgedruckt, mit freundlichen Grüßen von der flämischen Anwaltskammer. Alles andere verlegt man irgendwann, meinen die Anwälte, den Brotbeutel hat man beim Frühstück am ehesten griffbereit – für den nicht unwahrscheinlichen Fall, dass man eines morgens unschuldig verhaftet wird.

Weil die Angst vor Terror und Kriminalität in der Bevölkerung ständig wächst, reagieren laut Statistik der Anwaltskammer auch Polizei und Justiz zunehmend rigoroser: Es wird immer schneller verhaftet und immer langsamer freigelassen. „Freiheitsberaubung scheint ein Automatismus geworden zu sein,“ klagen die Anwälte.

Ein Drittel aller belgischen Gefängnisinsassen sitzt ohne Urteil. Sie sind in Untersuchungshaft und bleiben oft jahrelang im Gefängnis, weil die Ermittler draußen die Beweise nicht finden, die für einen Prozess nötig sind. Das heißt, je länger sie in U-Haft sitzen, desto wahrscheinlicher ist, dass sie unschuldig sind, zumindest nie verurteilt werden, jedenfalls nicht von einem Richter. Umso mehr allerdings von den Nachbarn: Wer solange im Gefängnis war, hat ganz sicher irgendwas angestellt.

Zufall oder nicht, diese Woche wurde eine junge Frau nach genau 12 Monaten und elf Tagen aus dem Untersuchungsgefängnis in Hasselt entlassen. Vorläufig. Denn sie gilt weiterhin als verdächtig, ein Dreiecksverhältnis mit einem Fallschirmspringerpaar auf radikale Weise beendet zu haben. Die Polizei glaubt, sie habe der Rivalin die Reissleine des Fallschirms angeschnitten, was diese nicht überlebte. Nur: Beweise gibt es nicht. Dafür sind 12 Monate und 11 Tage doch sehr lang. In den letzten drei Jahren saßen in Belgien fast 600 Leute in U-Haft, die später freigelassen wurden, weil die Beweislage zu dünn war.

Beim Europäischen Gerichtshof ist Belgien wegen der langen U-Haftzeiten ein Dauerkunde. Der Rekord liegt bei sechs Jahren. Ich esse zum Frühstück übrigens Joghurt mit Obst, den Brotbeutel der Anwaltskammer habe ich sicherheitshalber von innen an die Haustür genagelt.

 

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Die neue Redefreiheit

Das letzte Mal habe ich Rio Aling gesehen, als er mit ein paar Dutzend Bauern von den philippinischen Bergen herunter kam. Rio hatte ein Megaphon dabei, die Bauern Transparente, mit denen sie gegen die zunehmenden Übergriffe der Militärs protestierten. Als sie auf dem Marktplatz von Hilongos ankamen, sah alles friedlich aus. Erst  als sich die Augen an die gleißende Mittagssonne gewöhnt hatten, konnte man in den Eingängen der Hütten und unter den Vordächern der Marktstände rund um den Platz die mattschimmernden Gewehrläufe sehen, getragen von gelangweilten Soldaten in Kampfuniform. Sie hatten auf Rio Aling gewartet. Er wußte es. Jeder wußte es, Aling war seit Jahren ein rotes Tuch für sie, weil er jeden Übergriff dokumentierte und zu den Menschenrechtsorganisationen nach Manila schickte. 

Trotzdem hat er sich in die Mitte der Platzes gestellt und hat laut über Redefreiheit gesprochen, über die Freiheit, zu sagen, was man denkt, über Freedom of Speech. Meinungsfreiheit reicht nicht, rief Aling, man muss seine Meinung auch aussprechen.

Die Militärs haben ihn an diesem Tag in Ruhe gelassen. Vielleicht, weil die Anwesenheit eines westlichen Reporters damals auf den Philippinen noch Eindruck machte. Zwei Monate später haben sie den Menschenrechtler Rio Aling  zu Hause abgeholt, haben ihm die Hände auf den Rücken gebunden und ihn im Wald mit den Gewehrkolben erschlagen. Freedom of Speech, da könnte ja jeder kommen.

Freedom of Speech, so steht es in riesigen Buchstaben neben der Anzeigetafel im Flughafen Brüssel, darunter Fotos von offensichtlich gebildeten Menschen in Entwicklungsländern, Menschen wie Rio Aling. Die Mobilfunkfirma Base will mehr Handyverträge verkaufen und eignet sich dafür den hohen moralischen Wert der Meinungsfreiheit an. In Deutschland, wo die Öffentlichkeit sensibler auf solche Banalisierungen reagiert, beschränkt sich Base auf ein augenzwinkerndes Wortspiel: Meine neue Redefreiheit. In anderen Ländern zielt sie ganz bewußt auf die Assoziationen, die einem bei Dritter Welt und Redefreiheit durch den Kopf schießen. Freedom of Speech, heruntergekommen zur Freiheit, so lange wie möglich zu quasseln. Werbung kann manchmal zum Kotzen sein.

 

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Jetzt kommt der Edi

Der Stoiber Edi kommt jetzt nach Brüssel. Er soll hier die Bürokratie abbauen. Das haben zwar andere vor ihm auch schon probiert, aber der Edi ist ein Hartnäckiger. Davon kann ich ein Lied singen: Ganz egal, wo ich hinziehe, irgendwann kommt der Edi nach. Der verfolgt mich. Das ist seit meiner frühen Kindheit so. Und jetzt reist er mir sogar nach Brüssel hinterher. So wie immer. Als der Edi nach Wolfratshausen kam, da war ich auch schon da. Ich bin da aufgewachsen, der Edi ist zugezogen. Ich bin dann irgendwann nach Berlin gegangen, da wollte der Edi dann auch hin. Kam immer wieder kurz vorbei, hat alle genervt und ist dann wieder heim nach Wolfratshausen. Bis er ganz nach Berlin wollte, erst als Kanzler, und als das nicht klappte, dann eben als Superminister. Aber da war ich kurz vorher schon wieder weggegangen aus Berlin und dann ist der Edi gar nicht erst hingezogen. Ob das wirklich was mit mir zu tun hatte, weiß ich nicht. Aber auffällig ist es schon.  Irgendwann sollte der Edi dann sogar EU-Kommissionspräsident in Brüssel werden. Ich war gerade nicht da, und dann hat der Edi auch abgesagt. Jetzt bin ich wieder da, und jetzt kommt der Edi tatsächlich nach Brüssel. Ich kenn ihn eigentlich gar nicht, jedenfalls nicht näher. In meiner Jugend, als ich im Pfarrheim Wolfratshausen gejobbt habe, da habe ich ihm am Aschermittwoch einmal fast eine Maß Bier über den Trachtenanzug geschüttet. Versehentlich. Aber ich hab dann nur den JU-Vorsitzenden neben ihm erwischt. Wie gesagt, ich kenn den Edi gar nicht richtig. Wahrscheinlich kennt er mich auch nicht. Aber ich darf Edi zu ihm sagen, hat er gesagt. Das heißt, eigentlich hat er es sich nur gewünscht: In einem Interview vor langer Zeit im Münchner Merkur hat er nämlich gesagt, dass er privat gar nicht so steif ist und dass zu Hause in seiner Straße in Wolfratshausen alle nur Edi zu ihm sagen. Die ganze Straße hat gelacht. Nicht dass sie ihn dort nicht wählen würden, das schon. Aber Duzen? Den Stoiber? Wer den kennt, der duzt ihn doch nicht. Aber ich kenn ihn nicht, ich hab nur in der gleichen Straße gewohnt. Deshalb kann ich Edi zu ihm sagen. Solange ich ihn nicht kenne.

 

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Kauf mir einen Jet, Andrè

Es geht wieder um André Flahout. Das ist der belgische Verteidigungsminister, der vor einiger Zeit mit dem Kampf-Hubschrauber ins Kino nach Hasselt geflogen ist. Als das rauskam, gabs ein bisschen Wind, aber geschadet hat es ihm nicht wirklich. Flahout ist einer von diesen saftigen Politikern, wie sie heute gar nicht mehr hergestellt werden. Franz-Josef Strauß fällt einem in dem Zusammenhang ein. Und obwohl Flahout als belgischer Sozialist das andere Ende des politischen Spektrums besetzt, gibt es doch Parallelen. Die Körperform zum Beispiel, vor allem die Halspartie, aber auch die Abneigung gegen politische Prinzipien oder die tiefe Verwurzelung in einer Volkspartei, die ihren verdienten Kämpfern fast alles verzeiht. Und natürlich die Lust am Fliegen. Diesmal ist André in den Kongo geflogen, mit dem Regierungsflieger und ohne Absprache mit dem jetzt sehr aufgebrachten Außenminister. „Kabila wollte mit mir reden,“ verteidigt sich Flahout. Außerdem solle sich der Außenminister nicht so weit aus dem Fenster lehnen, sonst packe er aus und erzähle zum Beispiel, wie der ihn ständig um ein schöneres Flugzeug angefleht habe: “André, kauf mir einen Jet,“ habe er gebettelt, so einen schicken Legacy mit allem Komfort. „Der wollte so ein Chirac-Ding.“ Die alten Militärmaschinen seien ihm offensichtlich nicht gut genug und zu unbequem. In der Tat müssen belgische Premier- und sonstige Minister selbst 20stündige Flüge im Sitzen verbringen, seit die Regierungs-Boeing vor einigen Jahren mitsamt der Liegecouch ausgebrannt ist. Doch die belgische Flugbereitschaft hat kein Geld, André Flahout hat das Budget ohnehin schon um 160 Millionen überzogen. Streng dienstlich, versichert er, in acht Jahren habe er nur einmal die Familie mitgenommen, „im Gegensatz zu anderen Ministern.“ Der kleine Rundumschlag wird ohne Folgen bleiben. Flahouts Zeit ist ohnehin abgelaufen. Seine Sozialistische Partei wurde schon im Juni abgewählt, schon der Kongoausflug fiel in die Nachspielzeit. Aber solange sich die christdemokratischen und die liberalen Wahlsieger nicht auf ein Regierungsprogramm einigen können, bleibt Flahout Minister und kann noch ein bisschen herumfliegen.

 

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Die größeren Belgier

Schweden und Norweger müssen sich jetzt warm anziehen, die Belgier kommen. Natürlich nicht nach Skandinavien, da ist es viel zu kalt und außerdem sind immer nur Bärenwurst und Rentiersteaks nichts für belgische Feinschmecker. Nein, die Belgier rücken den Skandinaviern etwa in Höhe 1,80 zu Leibe, sagt Professor Roland Hauspie von der Freien Universtität Brüssel. Solche durchschnittlichen Körpergrößen waren bisher den Nordeuropäern vorbehalten, jetzt tauchen da oben auch die Belgier auf. „Unsere Jungen sind im Schnitt vier Zentimeter größer als vor 30 Jahren,“ hat Hauspie gemessen, „und auch die Mädchen haben zwei Zentimeter zugelegt.“ Dass junge Menschen heute höher wachsen als früher, das haben andere auch schon gemerkt. Aber Professor Hauspie hat herausgefunden, dass für die Schweden und die Norweger jetzt Schluss ist mit größer werden. Jede ethnische Bevölkerungsgruppe habe ein bestimmtes Wachstumspotential, und alles deute darauf hin, dass die Schweden das bereits ausgeschöpft haben. Deshalb müssen sie zuschauen, wie die Belgier und hier vor allem die Flamen vorbeiwachsen. Sagt der Professor. Und irgendwann müssen die künftigen Ex-Hünen aus Schweden dann vielleicht sogar die Franzosen, Italiener und Spanier vorbeiziehen lassen. Die liegen zwar derzeit noch gut sechs bis sieben Zentimeter hinter Schweden und Flamen und fast zehn hinter den Holländern, aber sie wachsen zügig nach. Woran das liegt, weiß auch Professor Hauspie nicht so genau. Aber es hat in jedem Fall auch mit dem Essen zu tun, meint er. Gesunde und ausgewogene Ernährung treibt mehr als Einheitsbrei, und dauernd das gleiche Rentiersteak ist vielleich auch nicht das Gelbe vom Ei. So genau hat der Professor das nicht zwar nicht gesagt, aber er läßt das so durchschimmern.Auffällig sei zudem, dass alle Kinder im Frühjahr zweimal so schnell wachsen wie im Herbst. Was wahrscheinlich mit dem Licht zu tun habe. Und schon haben wir eine schlüssige Erklärung für das belgische Längenwachstum. Kein Europäisches Land ist so gut ausgeleuchtet wie Belgien, berichten Astronauten. Selbst wenn mitten in der Nacht vom All aus nichts mehr zu erkennen ist: das helle Dreieck da unten ist Belgien, wo sämtliche Autobahnen rund um die Uhr beleuchtet werden. Bisher haben wir das für Energieverschwendung gehalten, jetzt wissen wir, dass die Belgier bloß größer werden wollen. 

 

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Die Deutsche Bank sucht einen Rassisten

Die deutsche Bank sucht einen Rassisten. Natürlich nicht, um ihn einzustellen, eher um ihn zu entlassen. Denn irgendwer hat bei einer Personalagentur, die für die Deutsche Bank in Belgien Mitarbeiter rekrutiert, einen schriftlichen Vermerk gemacht, dass die Deutsche Bank wegen der Kundenkontakte bitte „keine exotischen Personen“ als Mitarbeiter wünsche. Der Zettel ist öffentlich geworden und jetzt hat die Deutsche Bank in Belgien ein Problem. Der belgische Arbeitsminister hat sofort eine Untersuchung angekündigt und überlegt eine Klage vor Gericht wegen Diskriminierung. Die Presseabteilung der Deutschen Bank ist daraufhin erst mal in eine Schockstarre gefallen, war für belgische Journalisten einen halben Tag nicht erreichbar und sucht jetzt den Schuldigen. Das Thema ist heikel, weil sich im benachbarten Ausland „deutsch“ und „Rassismus“ ganz schnell auf Nationalsozialismus reimt. Zumal deutsche Großkonzerne in den ehemals besetzten Gebieten zwar als zuverlässig bewundert werden, nicht aber als besonders warmherzig gelten. Die Deutsche Bank hat deshalb sofort eine große interne Untersuchung versprochen und den Tatort in einer ersten Stellungnahme ein Stück vor die Bank verlegt: „Das ist ein schwerer Fehler des Rekrutierungsbüros.“ Sollte allerdings jemand aus den Reihen der Deutschen Bank davon gewußt haben, versichert die Bank, dann werde es ernsthafte disziplinarische Maßnahmen geben: Man werde jetzt  alle verfügbaren Dokumente durchleuchten.Das mit den Dokumenten ist ein feiner Trick, weil alle Welt weiß, dass solche Einstellungsvorgaben gang und gäbe sind, aber nur ganz Doofe das schriftlich weiter geben. Das Rekrutierungsbüro gehört übrigens zu einer holländischen Firma, die natürlich auch versucht, den Rassisten ausfindig zu machen. Aber das kann dauern und am Ruf kratzen. Deshalb hat der der Pressesprecher der Deutschen Bank allen Belgiern versichert, dass man Exoten geradezu suche: „Wir legen großen Wert auf Diversität.“  Besonders erfolgreich scheint die Deutsche Bank dabei nicht zu sein. „Es fällt schon auf,“ meint der Direktor des belgischen Zentrums für Chancengleicheheit, „dass in der Bank doch sehr wenig Menschen mit fremdländischer Herkunft arbeiten.“ 

 

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Letzte Impressionen von der Pariser Modewoche: Exotik gewinnt

Der Kampf war heiß: Am Wochenende überschlugen sich die Ereignisse in Paris. Die Modewoche und ihre Partys konkurrierten mit der Nuit Blanche (die lange Nacht der Museen) und dem Rugby-Spielen Frankreich–Neuseeland und Schottland–Argentinien. Hier die Gewinner:
Rugby schlägt exzentrische Mode und Chloe-Parfum-Party
und…Kaiser's Kaffeegeschäft-Original schlägt YSL-Fake. 

 

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Belgien ist unverkäuflich

Gleich um die Ecke, auf dem Gemüsemarkt von St. Alix, kann man jetzt zwischen Salatgurken und Radieschen auch belgische Fahnen kaufen. Nicht so kleine, wie die Schweizer und Franzosen sie manchmal auf die Käsewürfel stecken, sondern richtig große, die man aus dem Fenster hängen kann. Genau das wird seit drei, vier Wochen auch viel gemacht, ganze Wohnblocks haben ihre Balkongeländer schwarz-gelb-rot eingekleidet. „Die Tücher gehen weg wie frische Baguette-Brötchen“, freut sich der junge Mann mit den langen Haaren, der die Fahnen verkauft. „9,95 Euro das Stück, fabrikneu eingeschweißt, absolutes Sonderangebot, im Laden kosten die das Doppelte.“

Die Wohnbezirke von Brüssel sehen derzeit aus wie Berlin während der Fußball-WM. Überall belgische Fahnen. Das ist deshalb erstaunlich, weil bei der belgischen Staatsgründung vor 177 Jahren das National-Gen ganz offensichtlich nicht mitgeliefert wurde. Belgier sind stolz auf ihre Biere, auf Schokolade, auf Fritten und auf den Chicorée, den der Brüsseler Hofgartenmeister Monsieur Bresier 1846 gezüchtet hat. Auf Belgien aber sind Belgier eher selten stolz. Als die Fussball-Nationalmannschaft bei der EM 2000 im eigenen Land vorzeitig ausschied, blieben die Devotionalienhändler auf ihren belgischen Fahnen und T-Shirts sitzen. „Belgien ist als Produkt unverkäuflich,“ stöhnte damals ein ruinierter Geschäftsmann.

Doch jetzt erinnern sich viele Belgier plötzlich an ihre Landesfarben. Das hat mit den zähen Koalitionsverhandlungen zu tun, die seit über 100 Tagen keinen Zentimeter vorwärts kommen und von einer unangenehmen Musik begleitet werden. Denn nicht nur einige Politiker, auch 40 Prozent der Flamen sind nach jüngsten Umfragen der Meinung, dass man das Land besser ganz auflösen sollte. 40 Prozent der Flamen, das ist umgerechnet auf´s ganze Land jeder vierte Belgier. Da sind dann doch viele von den anderen drei Vierteln erschrocken. Die wollen nun zeigen, dass Flamen und Wallonen mehr gemeinsam haben als Chicorée und Kartoffelstäbchen. Deshalb kann man auf dem Gemüsemarkt von St. Alix jetzt auch die belgische Fahne kaufen.

 

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Die Spendierhosen des Bürgermeisters

Unsere Tochter hat beim Schulschwimmen einen Pokal gewonnen. Ich erzähle das nur, weil der Bürgermeister unseres Brüsseler Stadtteils den Pokal gerne überreicht hätte und nicht darf. Unser Bürgermeister hat nämlich bis vor kurzem überaus viele Pokale überreicht. Er hat sogar Sportwettbewerbe erfunden, mit  möglichst vielen Pokalen, die er dann an möglichst viele Kinder übereichen konnte. Ich sags ungern, aber der Pokal meiner Tochter ist auch so einer. Wurde aber jetzt von einem Stadtrat überreicht.

Grund dafür ist, dass die Zeitungen sich irgendwann nicht mehr interessierten für die Pokal-Verleihungen des Herrn Bürgermeisters. Dieses Informationsdefizit musste das Gemeindeblatt „Wolu-News“ ausgleichen, benannt nach dem Stadtteil Woluwe. Vor allem vor den Kommunalwahlen kam Wolu-News daher wie das Neue Deutschland nach Honeckers Besuch auf der Leipziger Messe. 36 Bilder, 34 mit dem großen Vorsitzenden.

Aber dann hat der letzte Sozialist im Stadtrat beim Innenminister gepetzt wg. Mißbrauchs öffentlicher Gelder. Seitdem ist der Bürgermeister suspendiert und versteht die Welt nicht mehr. Haben wir doch immer so gemacht, sagt er und lässt Handzettel verteilen mit dem schönen Motto: „Wir wollen unseren Bürgermeister wieder haben.“ Hätte fast geklappt, aber der Sozialist hat nachgelegt, dass das Spendenkonto des jährlichen Wohltätigkeitsballs identisch ist mit dem Privatkonto des Bürgermeisters.

Nicht dass der Chef das Geld verprasst hätte, dafür gibt es keine Beweise. Vermutlich hat er die Wohltätigkeit einfach nur wahltaktisch eingesetzt. Klientelismus war bis vor 15 Jahren der Humus der belgischen Parteienlandschaft. „Macht hat man, um sie zu mißbrauchen“, hat ein belgischer Vizepremier noch vor 20 Jahren gesagt, und niemand hat sich aufgeregt. Die Zeitung „Le Soir“ hat dann aber rausgefunden, dass alle anderen Brüsseler Stadtteile inzwischen richtige Spendenkonten und offene Buchführung pflegen. Nur unser Bürgermeister  will noch immer nicht sagen, wen er nach dem Ball als bedürftig eingestuft hat. Das sei seine Sache, wettert er aus der Verbannung, er habe immer Gutes getan und nie darüber geredet.

Aber den Pokal an unsere Tochter hätte er schon gerne öffentlich überreicht, damit „Wolu-News“ ein Bild machen kann.

 

 

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Napoleon hat wieder verloren

Das waren noch Zeiten, als die Völker Europas noch nicht im Ministerrat in Brüssel aufeinander losgingen, sondern 20 Kilometer vor der Stadt, drüben bei Waterloo. Manchmal machen sie das heute noch, vor einigen Tagen zum Beispiel. Da pflanzten die Preußen die Bajonette auf und rannten auf die Franzosen los, denen auf der anderen Seite die Engländer und die Holländer mit ihren Kanonen schwer zusetzten.

Es ist erstaunlich, wieviel Tausende von Menschen ihre Wochenenden damit verbringen, in sengender Hitze oder auch mal im knietiefen Schlamm alte Schlachten zu schlagen. Es wird weit mehr gekämpft auf Europas Wiesen als das Fernsehen übertragen will. In Waterloo werden Napoleons Truppen alle fünf Jahre niedergemacht, immer so um den 18. Juni herum. Dazwischen wird anderswo belagert und gemetzelt. Die meisten Hobby-Soldaten kennen sich von Valmy, von Austerlitz, von Jena und Auerstedt und frühstücken zusammen, bevor sie schweres Geschütz aufeinander richten.

Auf die Nationalitätenkennzeichen kann man sich so wenig verlassen wie damals, als die Söldner anheuerten, wo das Essen besser war. Heute entscheidet eher die Uniform. Charles-Henry, der daheim in Brandenburg Karl-Heinz heißt, hat vor langer Zeit bei einer Kostümauktion eine französische Uniform ergattert und muss jetzt immer bei Napoleon mitmarschieren. Obwohl er im Herzen Preuße ist. Sein Freund Pierre aus Sachsen dagegen hat auch innerlich angeheuert und denkt manchmal sogar in französisch, sagt er, was nicht leicht ist, wenn man nur 30 französische Wörter zur Verfügung hat.

Für die Zuschauer ist das Spektakel eher beschaulich. Manche sagen auch langweilig, weil es doch Stunden dauert, bis Blücher seine Truppen den ganzen Bogen von Wavre raufgeführt hat. Da versteht man den Herzog von Wellington, der gesagt haben soll: „Ich wünschte es wäre Nacht und die Preußen kämen endlich.“ Richtig aufregend ist es allerdings für die Hauptdarsteller. Beim letzten mal musste Napoleon morgens um sechs mit Herzinfarkt vom Platz getragen werden. Die Schlacht ging trotzdem aus wie immer: Napoleon hat wieder verloren.

 

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Rollmops und Rollenkoffer für Europa

Der Rollmops und die Bratzwiebel liegen mir immer noch im Magen. Dafür habe ich jetzt eine hellblaue Krawatte, ein Geschenk von Deutschland. Von Finnland hängt noch eine schrill-grüne im Schrank und eine orangerote vom Großfürstentum Luxemburg. Im Dezember kommt wahrscheinlich eine portugiesische dazu, mit Korkeichenmuster oder so.

Krawatten gelten offensichtlich als Zuwendungen unterhalb der Bestechungsgrenze. Früher haben die Regierungen bei den EU-Gipfeln noch richtige Geschenkpakete für die Journalisten geschnürt. Aus Amsterdam sind alle mit einem schicken Rollenkoffer nach Hause gekommen, die Iren haben uns Whiskey und Wildlachs mitgegeben, und in Wien haben einige im Hotel festgestellt, dass sie am Flughafen den falschen Koffer vom Rollband genommen hatten. Da hatten viele noch die Koffer aus Amsterdam, die alle gleich aussahen.

Die Geschenkhuberei war Teil des Reisezirkus, der die Brüsseler Journalisten alle halbe Jahre zum Europäischen Rat in irgendeine Hauptstadt lotste. Seit die EU-Gipfel der Einfachheit halber alle in Brüssel stattfinden, gibt es keinen Grund mehr für großartige Gastgeschenke. Eine Krawatte oder ein Halstuch, ein paar Schreibblocks und Gummibärchen, das ist es dann. Die wenigsten Journalisten sind darüber traurig. War doch etwas peinlich, wenn man im Pressesaal so in der Schlange stand, um den Rucksack oder die Aktentasche abzuholen. Aber liegenlassen wollte es auch niemand.

Der Rollmops und die Bratzwiebel sind von der Reisetradition übriggeblieben. Für die Gipfelverpflegung ist die jeweils gerade amtierende EU-Präsidentschaft zuständig, und die deutsche Regierung hat sich auf Rollmops festgelegt. Für 2000 Journalisten mit Zwiebel, für 27 Regierungschefs mit grüner Soße. Wird in der Gegend um Frankfurt viel gemacht: Ein paar Kräuter in den Mixer, draufdrücken, fertig ist das Hessen-Pesto.

Kulinarisch gab's schon schlimmere Präsidentschaften. Vor drei Jahren haben die Holländer in der Disziplin Miese-Küche sogar die Briten geschlagen. Den Haag ist zum Glück erst wieder 2016 dran, die Briten 2017. Die Sache ist ohnehin entschärft, seit die Gipfel in Brüssel tagen. Die EU-Präsidentschaft bestimmt, was auf den Tisch kommt, gekocht wird es von belgischen Köchen. Und richtig schlecht kochen, das können die Belgier nicht mal nach Rezept.

 

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Der lügende Holländer

Zuerst die schlechte Nachricht. Belgien hat jetzt die internationalen Vorfahrtsregeln eingeführt. Bislang galt zwar auch in Belgien rechts vor links. Aber das Gesetz sagte auch, wer zögert, verliert die Vorfahrt. Diese etwas vage Regelung passte gut zum belgischen Gemüt: Die Entschlossenen sollen schon mal losfahren, die Zauderer brauchen sowieso noch etwas Zeit zum Überlegen. Viele Belgier fürchten, dass die kalte Rechts-vor-Links-Regel Unheil bringen wird.

Jetzt die gute Nachricht: Zwei von drei Belgiern finden, dass sie keine Ahnung vom Kochen haben. Auf den ersten Blick ist das kein Grund für Lob. Auf den zweiten schon. Denn die Umfrage wurde auch in Holland durchgeführt, und dort haben fast die Hälfte der Befragten behauptet, sie könnten lecker kochen. Dass nördlich der Schelde besser gekocht würde als im Gourmetparadies Belgien widerspricht nicht nur dem gesunden Menschenverstand, sondern auch meiner Erfahrung in den letzten 15 Jahren.

Die einfachste Erklärung wäre, dass die niederländischen Geschmacksnerven schlimmer degeneriert sind als wir alle bisher angenommen haben und den Unterschied nicht mehr erkennen. Oder es verhält sich so, dass die Niederländer, wenn sie leckere Matjesfilets auswickeln, das schon für Kochkunst halten.Weil ich aber auch nette Holländer kenne, weise ich solche Erklärungen zurück. Ich habe mir deshalb die Küchenumfrage noch einmal angeschaut. Und da steht, dass Belgier der Selbsteinschätzung zum Trotz am gesündesten kochen.

Im Gegensatz zu allen europäischen Nachbarn, Deutsche eingeschlossen, bringt der Durchschnittsbelgier mindestens dreimal die Woche frische Zutaten auf den Tisch. Außerdem kochen 86 Prozent der Belgier mit viel Olivenöl, was schon mal beweist, dass 86 Prozent tatsächlich kochen und nicht nur Fertigsuppen einrühren.

Die Auflösung kann deshalb nur heißen: Belgier stellen einfach höhere Anforderungen an ihr Können. Das wird auch durch Verkehrsumfragen gestützt: Belgier sind die einzigen Europäer, die zugeben, dass sie nicht gut Auto fahren können. Deshalb sind viele Belgier überzeugt, dass es Unheil bringt, wenn sie auf der Kreuzung keine Zeit mehr zum Nachdenken haben.

 

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Menschen sind auch nur Hühner

Die schönste SMS bekam ich kürzlich von der deutschen Regierung: "EU-Ministerrat erreicht Einigung zur Hühnerwohlfahrt". Weil die Bundesregierung gerade den Vorsitz in der Europäischen Union hat, kam die SMS an die Brüsseler Journalisten natürlich auf Englisch, was der Sache auch kulturell angemessen ist: "Council reached agreement on chicken welfare".

Für "chicken welfare" gibt es bei Google 1,23 Millionen Einträge. Bei "Hühnerwohlfahrt" wird man nur gefragt, ob man nicht in Wirklichkeit "Männerwallfahrt" gemeint habe. Dafür gibt es dann immerhin noch 735 Einträge. Damit wird auch klar, wo der geografische Schwerpunkt der "chicken welfare" liegt. Männerwallfahrten kommen überwiegend in Bayern vor und "chicken welfare" ist ein ganz großes Thema bei den Angelsachsen.

Tierschutz ist in Großbritannien so wichtig, dass einflussreiche Kreise im Londoner Regierungsviertel schon darüber nachdenken, ob sie vielleicht doch Befürworter der Europäischen Verfassung sein sollten. Denn da ist in Artikel III-121 der Tierschutz ausdrücklich als eines der Ziele der EU genannt. Das würde britischen Tierschützern bei ihrem anhaltenden Einsatz für ein Verbot der spanischen Stierkämpfe enorm helfen. Geht allerdings doch nicht, weil in dem Verfassungsentwurf auch soziale Grundrechte (der Menschen) erwähnt werden.

Zwar ist man in London nicht prinzipiell gegen soziale Grundrechte, aber da will man schon etwas mehr Spielraum bei der Auslegung haben. In Brüssel durften wir deshalb schon eindrucksvolle Szenen erleben, als beispielsweise vor dem Ministerratsgebäude einige hundert vorwiegend britische Demonstranten völlig zurecht gegen die unerträglichen Schweinetransporte protestierten. Da stürmte plötzlich ein britischer Minister aus dem Gebäude und lobte das Engagement seiner Landsleute für das Wohl der Tiere. Dann ging er wieder rein und stimmte die EU-Richtlinie gegen Kinderarbeit nieder.

Damit britische Zeitungen weiterhin von Zwölfjährigen ausgetragen werden können. Das ist Tradition, sagte der Minister, und Traditionen sind den Briten heilig. Das wissen sogar die Hühner.

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